Gespiegelte Biografie ...

Aus dem Antrag meines Sohnes auf Anerkennung als Wehrdienstverweigerer


Ich bin eines der so genannten „Kinder der Wende“. Ich empfinde das als großes Glück, denn als ich geboren wurde, nach dem Zusammenbruch der DDR, gab es fortan nicht nur die Möglichkeit, zu reisen, wohin man will, und zu arbeiten, wo man will, sondern in der Bundesrepublik gab es auch eine Alternative zum Wehrdienst, nämlich den Zivildienst.
So weit ich mich zurückerinnern kann, antworteten meine Eltern bereits als ich noch ein kleiner Junge war, allen, die fragten, ob ich auch die griechische Staatsbürgerschaft hätte, dass sie diese für mich nicht beantragen würden, denn als Grieche müsse ich zum Militär, als deutscher Staatsbürger hätte ich hingegen die Möglichkeit, Zivildienst zu leisten.
Mein Vater musste keinen Wehrdienst in Griechenland leisten, da er als Sohn politischer Emigranten die Möglichkeit hatte, sich vom Wehrdienst freizukaufen. Mein griechischer Onkel konnte erwirken, dass seine Wehrdienstzeit auf nur drei Monate beschränkt wurde, mein Onkel in Deutschland leistete Zivildienst. Ich wuchs auf in einer pazifistisch gesonnenen Familie, in der mir schon frühzeitig vermittelt wurde, welches Leid es mit sich bringt, wenn Konflikte mit Waffengewalt gelöst werden sollen. Ich wurde dazu erzogen, mein Leben so zu gestalten, dass ich der Gesellschaft besonders durch meine kommunikativen Fähigkeiten diene. Und ich bin sehr froh darüber, dass ich auf verschiedenen Schulen, bei Reisen und vor allem während meines jahrelangen Aufenthalts in Griechenland als Kind und als Jugendlicher enorm viele Menschen kennen lernen konnte und dadurch immer gefordert war, mich mit den unterschiedlichsten Ansichten auseinander zu setzen. Verstärkt wurde das noch durch die berufliche Tätigkeit meiner Eltern, die im Wesentlichen auch darin besteht, zwischen verschiedensten Kulturen zu vermitteln und Brücken der Verständigung zu bauen.
Meine griechischen Verwandten, die der Generation meiner Großeltern und meines Vaters angehören, sind aufgrund des Zweiten Weltkriegs, des griechischen Bürgerkriegs und der griechischen Militärjunta zahlreichen Repressalien ausgesetzt gewesen, und wie man sich vorstellen kann, habe ich bereits als kleiner Junge, als ich vier Jahre in Athen lebte, erfahren, welche tragischen Auswirkungen die Vergangenheit bis in die Gegenwart hat.
Während des Zweiten Weltkriegs kämpfte mein Großvater bereits als Fünfzehnjähriger in einer griechischen Partisaneneinheit. In der Gegend um Amfissa, nahe Delphi, wurde mein Großvater von den Deutschen gefangen genommen und vor den Augen meines Urgroßvaters gefoltert, weil man davon ausging, dass er Verstecke der Partisanen preisgeben könnte. Im weiteren Verlauf des Krieges war mein Großvater Anführer einer Partisaneneinheit und als solcher gezwungen, deutsche Soldaten, die in Gefangenschaft der Partisanen geraten waren, zu ermorden, damit diese nicht den Unterschlupf der Partisaneneinheit an die Deutschen verrieten. Bei nachfolgenden weiteren Kriegshandlungen erlitt mein Großvater während eines Schusswechsels eine schwere Verletzung. Als er dann 1982 erkrankte, kam es wegen dieser früheren tiefen Wunde zu Komplikationen, und so starb mein griechischer Großvater sehr jung, mit 56 Jahren.
Die schockierenden Erfahrungen aus der Zeit des Partisanenkampfes, besonders auch die der direkten Konfrontation mit den Deutschen, das traumatische Erlebnis, anderen Menschen das Leben nehmen zu müssen, um das eigene Leben verteidigen zu können, hinterließen in der Seele meines Großvaters ein so tiefes Gefühl den Entsetzens, dass er dieses bis an sein Lebensende nicht verarbeiten konnte. Dieser Umstand führte dazu, dass mein Großvater zu Lebzeiten seinen beiden Söhnen (meinem Vater und meinem Onkel) immer wieder erklärte, zu welchen tragischen Situationen es konkret führt, wenn Menschen sich im Krieg als Feinde gegenüber stehen. Bei meinem Vater und meinem Onkel resultierte daraus die Erkenntnis, dass man im Leben alles tun sollte, um gewalttätige Konfrontationen zu verhindern, besonders solche, in denen man gezwungen ist, sich einer Waffe zu bedienen. Durch meine gesamte Kindheit und Jugend hindurch, während der ich oft nach Delphi in das Heimatdorf meines Großvaters gereist bin, um meine Verwandten zu besuchen, wurde das Thema der Präsenz der deutschen Soldaten während des zweiten Weltkrieges immer wieder zum Gespräch. Sowohl was die ganz direkte Auswirkung auf die Familie meines Großvaters betraf als auch im Hinblick auf das, was sich damals in der gesamten Region bei Delphi abspielte. Unter anderem hörte ich mehrmals von dem Massaker in Distomo, bei dem die Frauen und Kinder des Dorfes von deutschen Soldaten zusammengetrieben und ermordet wurden. Dieses schreckliche Ereignis ist bis heute nicht vergessen.
Als jemand, der sowohl griechische als auch deutsche Wurzeln hat, empfinde ich meine persönliche Situation als eine ganz besondere. Meiner Meinung nach kann man sich in der heutigen Zeit, besonders angesichts terroristischer Anschläge, religiöser Auseinandersetzungen und deutlicher Anzeichen für eine tiefgreifende Schädigung der Umwelt von globalem Ausmaß nicht besser in den Dienst des Schutzes menschlichen Lebens stellen, als sich z.B. in einem sozialen Projekt nützlich zu machen, bei dem Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund gemeinsam Aufgaben lösen, auf der Basis eines konstruktiven Zusammenwirkens. Während der letzten Jahre, die ich in Griechenland gelebt und mein Abitur gemacht habe, war es für die Menschen in meinem Umfeld immer interessant, dass ich, aus Deutschland gekommen, mich in Griechenland integrierte. Dies wurde als sehr positiv empfunden, denn in gewissem Sinne bin ich auch ein Beispiel für die Generation der jüngeren Deutschen, die sehr vieles nicht mehr gemein hat mit der Generation derjenigen Deutschen, die damals als Soldaten nach Griechenland kamen. Zivildienst in der Form des Anderen Dienstes im Ausland zu leisten, sehe ich hingegen als eine konkrete und vor allem absolut sinnvolle Möglichkeit, den Verständigungsprozess zwischen Griechen und Deutschen mit zu befördern. Es wäre für mich tatsächlich unvorstellbar, stattdessen in Deutschland den Dienst an der Waffe ableisten zu müssen.
Bestärkt in der Überzeugung davon, dass meine Arbeit in einem sozialen Projekt überaus sinnvoll wäre, wurde ich vor allem auch in Anbetracht der Lebensgeschichte meiner griechischen Großmutter, die als Kind ihre Heimat verlassen musste und erst nach 28 Jahren wieder nach Griechenland zurückkehren konnte. Während des Bürgerkriegs in Griechenland waren meine Urgroßeltern als Partisanen aktiv und somit ständiger Todesgefahr ausgesetzt. Meine griechische Großmutter erlebte während des Zweiten Weltkriegs die Bombardierung ihres Dorfs. Im Alter von neun Jahren dann, während des griechischen Bürgerkriegs, musste sie ihre Heimat verlassen, da die Kinder derjenigen, die in der Widerstandsbewegung organisiert waren, mit Hilfe einer Organisation ins Ausland und damit vorläufig in Sicherheit gebracht wurden. Wegen des Bürgerkriegs wurde die ganze Familie in verschiedene Städte und Länder verstreut, und erst 1955 konnten die einzelnen Familienmitglieder in Rumänien wieder zusammenkommen. Mein griechischer Urgroßvater, der in Griechenland geblieben war, musste aus Griechenland über Albanien fliehen, um zu seiner Familie zu gelangen. Die schrecklichen Erfahrungen des Krieges, der Flucht und der Zeit der Ungewissheit darüber, ob sie ihre Eltern und Geschwister je wiedersehen würde, waren der Auslöser dafür, dass mein griechische Großmutter dann als junge Frau entschied, ihr Leben dem Kampf gegen den Krieg zu widmen. Sie nahm an zahlreichen Demonstrationen teil und trat der Organisation der Widerstandskämpfer bei, in der sie bis heute aktiv ist. Sie hoffte und wünschte schon immer, dass keines ihrer Kinder und keines ihrer Enkelkinder, aber auch kein anderer Mensch auf der Erde jemals die Erfahrung des Krieges machen muss. Meine Großmutter organisierte, nachdem sie endlich wieder nach Griechenland hatte zurückkehren können und dort als Lehrerin für traditionellen griechischen Tanz arbeitete, immer wieder Kulturprogramme z.B. mit Werken des Dichters Jannis Ritsos (u.a. Lenin-Friedenspreisträger) und des Freiheitskämpfers Mikis Theodorakis. Sie wollte damit erreichen, dass die griechischen Jugendlichen ein Bewusstsein über die Geschichte ihres Landes erlangen, dass sie über die fatalen Auswirkungen von Krieg und Diktatur aufgeklärt wurden. Sie hat ihr ganzes Leben bis heute dem Engagement gegen den Krieg gewidmet und hat mich während der vielen Jahre meines Lebens in Griechenland in diesem Geist erzogen. Dass sowohl mein Großvater als auch die Familie meiner Großmutter Griechenland wegen der Bürgerkriegsauseinandersetzungen verlassen mussten, hatte zur Folge, dass mein Vater nicht in Griechenland, sondern in Rumänien zur Welt kam. Er war somit vom ersten Tag seines Lebens mit den Auswirkungen des Krieges konfrontiert und selbst davon betroffen. Er erlebte die gesamte Familie als eine Gemeinschaft von Menschen, die hatten flüchten müssen und die nicht wissen konnten, wann sie in die Heimat zurückkehren können, er erlebte das Schicksal seines Vaters, der von dem Zeitpunkt an, als in Griechenland die Militärdiktatur begann, auf der Schwarzen Liste stand und bei einer Einreise nach Griechenland sofort verhaftet worden wäre, und er musste in Bezug auf sich selbst die Erfahrung machen, die Heimat noch nie gesehen zu haben. Für meinen Vater konnten allein viele Gespräche, Bücher, Filme und vor allem Musik einen gewissen Ersatz und eine Verbindung zur Heimat bedeuten. Erst im Alter von vierzehn Jahren, 1974, als die Diktatur beendet war, fuhr mein Vater zum ersten Mal in seinem Leben nach Griechenland.

Dazu kam, dass auch das Leben in Rumänien problematisch geworden war. Die Eltern meines Vaters siedelten 1968 mit ihren beiden Söhnen in die DDR über, wo sie aufgenommen wurden. Sie lebten dort, wo, wie man sagte, die Griechen wohnen, also zusammen mit vielen anderen, die ebenfalls politisch verfolgt waren und die versuchen mussten, sich in einer anderen Gesellschaft zurecht zu finden, die Sprache zu erlernen, dort die Schulen zu besuchen und zu arbeiten. Meinem Vater ist das so gut gelungen, dass er schließlich sogar in Leipzig Germanistik studierte und damit gewissermaßen in zwei Sprachen zuhause war. 1980 lernte er dort den griechischen Komponisten Mikis Theodorakis kennen, und aus dieser Begegnung entwickelte sich eine enge Freundschaft, die bis heute anhält. Mein Vater begann schon während des Studiums zu übersetzen, so dass er schließlich oft als Dolmetscher für Theodorakis arbeitete, später Interviews mit diesem machte, dessen Tourmanager wurde und an vielen CD-Produktionen mitarbeitete. Der enge Kontakt und die Zusammenarbeit mit Theodorakis waren für meinen Vater enorm wichtig. Bekanntlich ist Mikis Theodorakis weltweit eine Symbolfigur des antidiktatorischen Kampfes gewesen, der enorme persönliche Opfer gebracht hat, um sich für die Freiheit der Menschen, gegen Machtmissbrauch und für Verständigung einzusetzen. Verbunden ist dieses Engagement mit einer umfangreichen künstlerischen Arbeit. Die Musik von Theodorakis hat Menschen weltweit durch politische Krisen geführt und ermöglicht, dass Menschen sich auch über kulturelle Grenzen hinweg friedlich verständigen konnten. Sie hat immer vermittelt, dass künstlerische Kreativität bewaffneten Auseinandersetzungen vorgreifen muss. Mein Vater fühlt sich diesem Gedanken verpflichtet. Und in diesem Klima wuchs ich auf. Seit ich geboren wurde, bin ich umgeben von schöpferisch tätigen Menschen. Meine Eltern haben eine ganze Anzahl Bücher griechischer Autoren ins Deutsche übertragen und viele der Texte, die veröffentlicht wurden, entstanden während der Zeit des griechischen Bürgerkriegs und der Diktatur. Durch die enge Freundschaft mit Mikis Theodorakis bin ich außerdem oft bei Gesprächen mit ihm dabei gewesen und habe seine Meinung über den Krieg, zu politischen Differenzen und häufig auch Erzählungen über seine Vergangenheit, über die dunklen Momente von Folter, Isolation, Exil, Verleumdung, über seine konsequente Anti-Kriegshaltung und seinen Vorschlag, alle Armeen abzuschaffen, gehört. Der Wunsch, mein Leben für etwas dem Leben Dienliches einsetzen zu wollen, verstärkte sich mit den Jahren immer mehr.
Mein Vater, der ein geistig sehr reges Leben führt und enorm viel kommuniziert, hat mich, zusammen auch mit meiner Mutter, auf diesem Weg, der durch mehrere Kulturen führt, mitgenommen. Nicht nur, dass während wir in Deutschland und Griechenland lebten, bei uns zuhause stets Künstler ein und aus gingen, sondern ich bin auch zutiefst geprägt von den Erlebnissen, die ich hatte, wenn ich meinen Vater auf Tourneen mit Mikis Theodorakis begleiten konnte, nicht nur in Griechenland, sondern auch nach Australien, Skandinavien, in die deutschsprachigen Länder. Bis vor kurzem, als Theodorakis noch selbst dirigierte, erfuhr ich immer wieder, wie Theodorakis’ Botschaft bis zum heutigen Tage aktuell ist und verstanden wird. Von dem Sinn dieses Engagements bin ich absolut überzeugt. Ich erlebte manches Mal mit, wie z.B. Griechen und Türken, nach den 400 Jahren türkischer Okkupation Griechenlands eigentlich zutiefst verfeindet, gemeinsam die Konzerte besuchten und die einen die Lieder der anderen mitsangen. Als Kind und Jugendlicher hat mich das begeistert und bis heute bin ich davon tief beeindruckt. Auch das spielt in meinem Leben eine enorm große Rolle: dass ich als jemand, der aus Berlin kommt, einer Stadt, in der viele Türken leben, und aus einer Familie, die einige türkische Freunde hat, nun in Griechenland bin und dort wiederum mit den unterschiedlichsten Meinungen über die türkischen Landesnachbarn konfrontiert. Durch mein Elternhaus habe ich schon früh vermittelt bekommen und konnte erleben, wie hilfreich die Kenntnis mehrerer Sprachen ist: bei der Integration in eine andere Kultur und bei der Vermittlung zwischen unterschiedlichen Ansichten, letztendlich aber auch dabei, eine Heimat zu finden oder in mehreren Ländern zuhause sein zu können. Ich war stets auch mit vielen Kindern befreundet, deren Eltern entweder nicht nur deutscher oder nur griechischer Herkunft waren. Und glücklicherweise war es mir möglich, neben Deutsch auch Griechisch und Englisch zu lernen. Aufgrund dessen bin ich in der Lage, mich nicht nur in einem sozialen Projekt zu engagieren, sondern, wenn erforderlich, mich auch in mehreren Sprachen verständigen zu können.
Meine Schule bot mir zu Begin des Jahres 2006 an, in verschiedene Arbeitsgruppen einzutreten, und da ich sehr an Kommunikation interessiert bin, meldete ich mich sofort für den Debattier-Kurs. Bereits nach knapp einem Jahr war ich in der Lage, mit meiner Schule am griechischen nationalen Debattier-Wettbewerb teilzunehmen und wir belegten den dritten Platz. Mir ist schon seit langem klar, dass mir das Diskutieren liegt, und ich bin fest dazu entschlossen, mein Talent dafür einzusetzen, andere darin zu unterstützen, gegebene Situationen zu hinterfragen und nichts als unabänderlich hinzunehmen, was einem nicht sinnvoll oder vernünftig erscheint. Während ich drei Sprachen erlernte, stellte ich fest, dass vieles im Leben relativ ist und bestimmte Werte in den unterschiedlichen Kulturen voneinander verschieden.

Schon durch das Reisen hatte ich Berührung mit den unterschiedlichsten Kulturen und Religionen und war von dieser Vielfalt immer fasziniert. Am John-Lennon-Gymnasium in Berlin-Mitte, das ich zwischenzeitlich besuchte, bestand die Möglichkeit, am freichristlichen Religionsunterricht teilzunehmen, wofür ich mich sofort einschrieb. Ich wollte ein tieferes Verständnis für das entwickeln, was ich bereits aus der Nähe gesehen hatte. Im Rahmen dieses Unterrichts lernten wir vieles über Traditionen und Bräuche, besonders auch über die jüdische Kultur, wofür ich mich bereits interessierte, da es in meinem Elternhaus von jeher eine Auseinandersetzung z.B. mit der Judenverfolgung während der Zeit des Nationalsozialismus und dem Drama des Holocausts gab. Meine Mutter führte zusammen mit Schülern ein Projekt zu Anne Frank durch und ein anderes sehr umfangreiches, das zur Realisation mehrerer Kunstmappen führte, die dem Galeristen Heinz Berggruen überreicht wurden, dessen Familie während der Zeit des Nationalsozialismus Berlin verlassen musste. Mein Vater war zu DDR-Zeiten befreundet mit der Sängerin Lin Jaldati und deren Töchtern und war als Manager von Theodorakis betraut mit der Organisation von Konzerten im KZ Mauthausen sowie im Washington Holocoust Museum. Es ist für mich daher nicht allzu kompliziert – was vor allem an der internationalen Schule, die ich besuchte, wichtig war –, mich bei Konfliktsituationen in verschiedenste Befindlichkeiten einzufühlen und z.B. Mitschüler besser zu verstehen und zu akzeptieren. Außerdem bin ich mit acht Jahren griechisch-orthodox getauft worden (meine beiden Taufpaten sind ein Grieche und ein Engländer) und habe seit meiner Kindheit erlebt, dass Menschen unterschiedlicher konfessioneller Bindung gerade wegen ihres unterschiedlichen kulturellen Backgrounds bei gemeinschaftlichen Projekten sehr konstruktiv zusammenarbeiten und besondere Ideen zu entwickeln vermögen. Ich halte dies für eine meiner Generation angemessene Aufgabe: Situationen im weltweiten Kontext zu sehen und dementsprechend verantwortungsvoll Entscheidungen zu treffen und zu handeln.
Was das von mir angestrebte soziale Engagement betrifft, so konnte ich in dieser Richtung bereits mehrmals aktiv werden. Meine Schule hatte engen Kontakt zu vielen griechischen und internationalen Wohltätigkeitsorganisationen und organisierte immer wieder verschiedene Projekte. Im Zeitraum vom 2006 bis 2008 habe ich an über zehn größeren Aktionen teilgenommen. Wir halfen in Krankenhäusern aus, veranstalteten Basare, forsteten in Gegenden auf, wo Baumbestände während der verheerenden Brände im letzten Jahr vernichtet wurden, und unterstützen die Arbeit einer großen Organisation, die sich für die Belange von sozial benachteiligten Kindern einsetzt und unter anderem mit den SOS-Kinderdörfern in Athen zusammenarbeitet. Wir führten mit den Kindern verschiedene künstlerische und sportliche Aktionen durch. Dabei hatte ich etliche Unterhaltungen mit den Sieben- bis Zwölfjährigen, von denen die wenigsten aus Griechenland kamen, wobei ich etwas über deren kulturellen und sozialen Background erfuhr. Für mich war das jedes Mal eine sehr erfüllende Zeit.

2001 ereignete sich der Terroranschlag auf das World-Trade-Center in New York, dessen Twin Towers ich als Kind dort noch hatte sehen können. Ich erlebte in der Nachfolge dieses Anschlags die Diskussionen wegen des Plans, Soldaten in den Irak zu schicken, um den Irak von der Diktatur Husseins zu befreien und die dort angeblich versteckten Atomwaffen zu eliminieren. Glücklicherweise folgte die damalige deutsche Regierung nicht dieser Politik. Umso unbegreiflicher und völlig inakzeptabel waren für mich zuvor die Entscheidungen der deutschen Regierung, den Afghanistan-Feldzug sowie den Jugoslawien-Krieg zu unterstützen und zum Beispiel jetzt das Kosovo anzuerkennen. Genauso wie ungefähr 95% der Griechen bin ich der Meinung, dass die beiden Kriege – zumal ohne UNO-Mandat – nicht nur illegal waren, sondern zu Kriegsverbrechen führten. Völlig undenkbar wäre für mich, z.B. als deutscher Soldat an solch einer kriegerischen Auseinandersetzung teilzunehmen oder sie auch nur zu vertreten.
Vor kurzem hatte ich in Athen eine Begegnung mit einem jungen Mann, der als amerikanischer Soldat im Irakkrieg gewesen war, und seine Erzählungen waren schlichtweg schockierend.
Mir wurde dadurch abermals nur allzu deutlich klar, in welche Situationen man kommen und wozu man fähig sein kann, wenn sich zwei oder mehrere Menschen bewaffnet gegenüber stehen.
Ich sehe, dass sich das immer wieder bestätigt, was mein griechischer Großvater bereits als Fünfzehnjähriger erfahren musste und was er sein ganzes Leben seinen Söhnen vermittelte: dass Konflikte, die mit Waffengewalt ausgetragen werden, in jedem Fall menschliche Tragödien zur Folge haben, die nicht nur Tod oder körperliche Verwundung bedeuten, sondern auch tiefe psychische und seelische Schädigung.
Eine Waffe zur Hand zu nehmen, ist immer der erste Schritt, die innere Bereitschaft zu erhöhen, einen anderen Menschen zu verletzen oder ihn zu töten. Ich habe keinerlei innere Bereitschaft, mich darauf einzulassen, meine Augen vor der Individualität eines anderen Menschen zu verschließen, ihn als Gegner zu betrachten und mich unter Umständen an den Gedanken zu gewöhnen, dass es rechtens wäre, ein anderes Leben auszulöschen. Daher habe ich mich entschlossen, den Dienst an der Waffe zu verweigern und stattdessen Zivildienst zu leisten.
Ich denke, es ist deutlich geworden, dass meine Familie im Krieg sehr gelitten hat. Die daraus erwachsenen Erfahrungen meiner Großeltern und auch meiner Urgroßeltern wurden von Generation zu Generation weitergegeben, auch an mich. Darum beharre ich umso fester auf meiner Position, den Wehrdienst verweigern zu wollen und stattdessen Zivildienst zu leisten. Ich will etwas tun, womit ich Menschen unterstützen kann und der Gemeinschaft in einer wohltätigen und kreativen Art und Weise nützlich sein. Die Ableistung des Kriegsdienstes kann ich aus den oben genannten Gründen mit meinem Gewissen absolut nicht vereinbaren. Der Dienst an der Waffe steht meiner Ansicht darüber, dass Menschen heutzutage alles tun müssen, um bewaffnete Konflikte mit Mitteln der Kommunikation zu vermeiden, entgegen. Darüber hinaus ist mir der Gedanke unerträglich, Wehrdienst leisten zu müssen, nachdem, wie ich vorausgehend geschildert habe, mein griechischer Großvater im Zweiten Weltkrieg in tiefgreifende seelische Konflikte bei der Konfrontation mit deutschen Soldaten kam, nachdem ein großer Teil meiner griechischen Verwandten während kriegerischer Auseinandersetzungen und der Zeit der Diktatur aus Griechenland flüchten müssen, des weiteren nachdem mein deutscher Urgroßvater während des Zweiten Weltkriegs aus Einsicht in die Grausamkeit des Krieges unter Lebensgefahr desertierte, nachdem mein Vater keinen Wehrdienst in Griechenland ableistete, der Bruder meines Vaters diesen nur drei Monate ableistete und der Bruder meiner Mutter in Deutschland Zivildienst leistete. Ich fühle mich der pazifistischen Grundhaltung meiner Familie zutiefst verpflichtet, die dazu führte, dass ich von klein auf dazu erzogen wurde, kritische zwischenmenschliche Situationen mit Diplomatie und Respekt gegenüber anderen zu klären, keinesfalls aber mit Mitteln der Gewalt oder durch den Gebrauch einer Waffe.

Ich bitte Sie daher sehr, meinen Antrag auf Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen gemäß Artikel 4, Absatz 3, Satz 1 des Grundgesetzes anzuerkennen und mir die Möglichkeit einzuräumen, statt des Wehrdienstes den Zivildienst bzw. den Anderen Dienst im Ausland abzuleisten.

© Alexander Koutoulas, 2008


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Aus einem Text, den ich im selben Alter schrieb
(30 Jahre zuvor)

Als mir der April schnell durch die Finger glitt, als mir der Mai, der Juni und Juli entschwanden, wie eine Wahnvorstellung des Fiebers, die man sehr wahr empfindet, merkte ich, dass ich wieder mit dem April anfangen musste. Anschließend wusste ich, dass es mir auch nicht nutzte.
Nur das Allgemeine und Konkrete, das, was ich immer und überall empfunden, erlebt, gesprochen und nicht gesprochen, das in mein Bewusstsein wiedergespiegelte, richtig oder nicht richtig, das, was Tausende Millionen Menschen, die ich nicht kenne und doch kenne, gesprochen und vollführt haben, das von der Natur jeden Augenblick Geschehene, nur das alles und viel mehr nutzt mir, um die Fragen stellen zu können, die mich bewegen. Es war ein Feiertag, ohne eigentlich einer zu sein. Ich war allein, außerdem fehlten die, auf die ich mich gefreut hätte, und obwohl ich es leicht viel schöner hätte haben können, wollte ich Alltäglichkeit. Alltäglichkeit, weil es ein normaler Tag war, Alltäglichkeit, weil es ein besonderer Tag war. Vorher stellte ich nie die Fragen, die seit jenem Tag anfingen, sich mir aufzudrängen. Sie kamen zuerst, ohne dass ich es merkte, kamen wenn ich mich mit Dir unterhielt, wenn ich zu Bett ging oder Bücher las, kamen ohne meine Erlaubnis, ohne mich zu fragen, ohne mich zu lassen, bis es eines Tages regnete.
Es floss so viel Wasser an mir hinab, dass mein Gehirn, rein und sauber, befreit von dem objektiven Schmutz der Gesellschaft, befreit von den schmutzigen und mit stinkender Fäulnis überzogenen Gedanken der Menschen (vieler Menschen), imstande war zu denken: von der Umarmung meiner Fragen. Dann suchte ich in allen Ecken, auf allen Straßen meines Gehirns nach der Antwort, räumte Gerümpel und sich anhäufende, durch die Menschen geförderte, in ihrem Äußeren gutaussehende, kleinbürgerliche Gedanken beiseite, suchte anschließend bei Dir und Dir und dann noch mal bei mir. Bei dieser Suche verlor ich den April, Mai, Juni, verlor mich, fand ein neues Ich, welches besser zu mir passte, und versuchte die Welt nach der neuen Personifizierung des mir noch unbekannten neuen Ich einzurichten. Weil aber meine Pläne scheiterten, musste ich Kompromisse eingehen, die mich seitdem quälen, die mich aber in die Lage versetzen zu lügen, ohne dass es jemand merkt. Und so lüge ich jeden Tag, lüge meine Ideale nieder und damit mein neues Ich.
Nein! Du darfst nicht denken, ich hätte glatte Lügen fabriziert. Für andere Menschen waren es augenscheinliche Wahrheiten, für die Mehrzahl von ihnen waren es Wahrheiten des Lebens, Alltäglichkeiten. Für mich bedeutete diese Wahrheit tonnenschwere Inkonsequenz auf meinem Rücken. Durch diese, meine Inkonsequenz schnell alt geworden, fand ich den Juli und August, ließ aber bald beide fallen und suchte in den Scherben das Richtige. In diesen Scherben begann ich, die Fragen zu ahnen, begann ich auch, meine Konflikte zu spüren.
Zu dieser Zeit dachte ich sehr an die Zukunft, so wie ich bis dahin noch nie an sie gedacht hatte. Denn ich war nicht allein, und in unserer Zweisamkeit, die mich sehr veränderte, fühlte ich, dass es Glück war; ich dachte nur an Dich ... Die Straße war mein, Dein Leben und wir wollten sie zusammen befahren, wollten nicht haltmachen, uns nicht umdrehen und das Sehnsüchtige nur bei uns suchen, wie das Glück, das uns begleitete und uns die Richtung zeigte. Wir kamen an, und es war nicht mal der erste Schritt. Wir suchten zusammen und fanden zusammen...
Dabei lernten wir die Kunst des gegenseitigen Verstehens, nicht gleich, aber mit der Zeit lernten wir das, was das Schwerste im Leben ist, nicht mit dem eigenen Verstand, sondern als erstes mit Deinem und mit meinem, die in einer unzertrennlichen Fusion miteinander reagierten, zu fühlen und zu handeln. In meinem Haus und in einem anderen lernten wir etwas von dem Glück kennen, das alles andere vergessen machte und uns neue Kraft gab. Ich lernte Deine Haut und Du meine, ich lernte, was Dir gefällt, und du lerntest meine Lippen auf den Deinen kennen. Ich gab Dir und du lerntest auch zu geben, ohne dass jemand darüber ein Wort verlor. Worte waren nur dazu da, um das auszudrücken, was der Körper nicht mehr schaffte. Ich fühlte zum ersten Mal so tief für einen Menschen, bis ich mich eines Tages fragte, ob ich es bin, der da saß und nachdachte über sich und die Welt. Jetzt sitze ich wieder hier und denke über die Welt und über mich. Nur, dass wir damals noch zusammen waren, und ich mich nicht fragen musste, ob es eine Alternative gibt zwischen nichts und allem oder besser gesagt zwischen Vergessen und Vergessen. Aber ich kann unmöglich meine Zukunft vergessen...
So fand mich der September mit seinen wechselvollen Tagen und stieß mich zu ihr hin. Mit voller Wucht schleuderte er mich gegen das Leben zu meiner Entscheidung. So kam mein neues Ich langsam wieder, und ich wurde gezwungen, nach der Antwort zu suchen. In den Büchern, die ich las, in Kneipen und Cafes, bei Diskussionen und Gesprächen in kümmerlichen Diskotheken und Studenteninternaten, in Theateraufführungen und Konzerten, in alten, neu belebten Freundschaften versuchte ich das zu finden, was man Leben nennt, das, was Leben ist. Damals, als ich diesen, meinen Feiertag beging, wusste ich nicht, dass mit dem Alter die Erfahrung kommt, aber durch die Erfahrung das Alter. Ich wusste auch nicht, was zuerst kommen würde. Im Oktober hatte ich Angst, dass ich etwas in mir verlieren würde, das ich schon längst nicht mehr besaß, und versuchte vor meiner Angst aus Hoffnung und Unglück, in dem wilden Dschungel der ideellen Welt zu fliehen. Es war eine irrsinnige, verbissene Flucht, eine Flucht in die Bildung. Ich gab meinem Gehirn Bücher und Diskussionen als Speise, stopfte es voll mit Vorträgen und politischen Auseinandersetzungen. Danach musste ich erst einmal denken.
In dem Dschungel war kein Mensch, nur viel Luft und wenig Platz. So musste ich mit der Luft meinen Platz teilen, dass die Affen, die neben mir waren, anfingen zu lachen und die Papageien, die mir den ganzen Tag das Gleiche vormachten, zu kreischen, und der weise Fuchs schüttelte den Kopf. Sie machten das so laut und so toll, weil sie selbst nicht den Ausweg kannten. Zu meinem Fieber gesellte sich eine Wahnvorstellung, in der ich einen Pfad entdeckte zwischen tiefverwachsenen Wurzeln und dicht gelegenen Bäumen, der in eine breite Straße mündete. Auf einmal sah ich die Affen fliehen, die Vögel, flügelschwingend, die Vergangenheit hinter sich lassend, wegfliegen und sah den Fuchs lachen und sich freuen.
Als ich aufwachte, war es schon wieder April, und ich war gleich ich.

© Asteris Kutulas, 1978

 

 

 

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