Brigittes unbekanntes Ich liebt Charlotte. Charlotte liebt Brigittes unbekanntes Ich. Die deutsche Einheit kommt. Brigittes unbekanntes Ich und Charlotte verlieren sich.
Eine Zwickauer Geschichte, dedicated to Brigitte
Brigittes unbekanntes Ich: Die Wahrheit ist, ich bin plötzlich unsicher. Ich bin mir Deiner nicht mehr sicher. So, als würde ich Dich verlieren. Vielleicht nicht in Wirklichkeit, aber im Grunde. Es ist inzwischen vier Uhr, bald werde ich nach Bali fliegen. Aber ich kann mich nicht hinlegen, nicht schlafen. In meinem Kopf kreist Verschiedenes, Gegensätzliches, ein Hin und Her zwischen Verstand, Gefühl, Vernunft, Verständnis, Unverständnis, Stolz, Realismus, Erstaunen, Verzweiflung, Zweifel. Zu jedem dieser Begriffe könnte ich Dir heute einen Brief schreiben. Aber ich muß nach Bali. Und eigentlich ist alles zwecklos, Worte.
Charlotte: Go East! Deutsch Mann starke Mann. Fickt Mama gut, gibt Baby Keks. Hurra Deutschland! Da haben die beiden Roma aus Rumänien Pech. Mein erstes Erlebnis mit einem Ostler hatte ich im vergangenen Dezember. Wir machten es auf dem Rücksitz seines Wagens, der herrlich nach Knoblauch duftete. Schwarzes Leder schmückt meinen Körper, manchmal mit Peitsche und Dildo. Meine Haut kam mit allem in Berührung, vor dem man sonst die Augen schließt. Blut, Sekrete, tote Fische, die schlaffen Köpfe geschlachteter Hähne, gelbliche, abgehackte Krallen, oranger und grüner Schleim. Ich empfand es als wahnsinnig sexy, von einem Mann geliebt zu werden, der aus dem Zwickau kam. Ich spürte nicht nur sein Glied, ich spürte auch den Geruch nach Geilheit und Abenteuer, den er mitgebracht hatte. Weil er im Westen überhaupt nicht Bescheid wußte, habe ich ihm hier alles gezeigt. Dann war sie dran. Aber nicht nur ihre Haut wurde entweiht, sondern auch die weiße Makellosigkeit ihres Mieders, ihre Körperöffnungen, ihr Mund. Mein erregtes Inneres brüllte: Bazillen, Bazillen. Geliebt haben wir uns schließlich am Ufer eines Baches, der leider mit Abwasser verseucht war. In der Lust verbunden mit der ach so scheußlichen Welt. Aber wir nahmen den Gestank überhaupt nicht wahr. Wir trieben es die ganze Nacht. Ich kam fünfmal.
Brigittes unbekanntes Ich: Eigentlich ist alles klar, diese Unsicherheit hat weder mit meinem Denken, noch mit meinem Gefühl zu tun. Beide sagen mir, Du bist bei mir. Aber mein Instinkt sagt mir etwas anderes. Als müsse ich aufpassen, nicht zu straucheln, jeden Augenblick. In den letzten Jahren gab es Augenblicke, da mir mein Verstand oder mein Gefühl signalisierten, etwas stimme in meiner Beziehung zu Dir nicht mehr, oder etwas stimme nicht in Deiner Beziehung zu mir. In solchen Momenten habe ich mich auf meinen Instinkt verlassen. Wie als ich in Berlin zu Dir kam und auch in all den Jahren danach. Jetzt macht er mich konfus. Weißt Du, es ist, als hätte man einen Wecker im Gehirn, den man nicht ausschalten kann.
Charlotte: Jetzt weiß ich bescheid. Die Orgasmusrate im Ostteil Deutschlands ist höher als im Westen. Ein trauriges Fleisch ist kein gutes Fleisch. Das vorletzte Schwein hieß Madonna. Es gab kaum eine Möglichkeit, außerhalb des Betriebes einen netten Mann kennenzulernen, keine Diskos, wo's richtig rund ging. Freizeit war ein graues und langweiliges Loch. Ein langes, scharfes Messer, das die Vagina zu bedrohen schien. Die eine schaute in den Fernseher und betrachtete damals sich selbst. Die andere konzentrierte sich auf ihr Geschlecht. Viel Arbeit, wenig Lohn, also ab ins Bett. Es wird gevögelt, daß die Fetzen fliegen. Sex wird vorgeführt und hergezeigt, wird genüßlich nach außen getragen. Dein Blick starr entlang der Linie, läßt Dein Blut kommen. In meiner Möse brennt es. Dann kommt Roxana mit ihrem Schlangentanz. Durch ihr hauchdünnes Gewand schimmern die Brüste. Applaus der vierhundert Zuschauer, die meisten davon Frauen, die das wagemutige Showgirl aus Westdeutschland mit wachem Blick beobachten. Empfindliche Augen. Mund, den meine Zunge ein- oder zweimal berührte, Ohrläppchen und Augenlider. Warum sind DDR-Mädchen so sexy? Haben sich die ostdeutschen Schwestern in den Kopf gesetzt, in tausend schweißfeuchten Liebesnächten nachzuholen, was ihnen in den vergangenen 40 Jahren vorenthalten wurde? Männer aus dem Westen sind sehr begehrt. Wegen ihrer netten, lockeren Art. Mit jedem Stoß aufs Neue.
Brigittes unbekanntes Ich: Im Grunde ist es nicht Unsicherheit, es ist Zweifel. Zweifel, ob ich, die ich so bin, wie ich bin, aushalten kann Deine „Dir neu errungene Freiheit“. Laß es mich so nennen. Du mußt sie auskosten, was immer das heißen mag, und ich wäre die letzte, der Dich daran hindern wöllte. Ich verstehe es, und es bringt mich um. Weil, ich kann mich nicht verändern, und Du kannst und sollst Dich nicht verändern.
Charlotte: Isabel oh Isabel, da sträubt sich mir das Nackenfell, das Achsel-, Brust-, das Schamhügelfell. Kein kalter Gummi mehr, im Kopf kein widerlicher Mann. Deine Baumwollspitzen werben für die Zitzen, werben für die Ritzen. Welche Frau kommt da nicht ins Schwitzen. Auf dem Kamm des Thüringer Waldes. Dort atme durch, dort erlebst Du das dritte Geschlecht mit seinen tausend Spielen. Die Schreie, die sehnsüchtig nach Befreiung klingen, hallen in meiner Möse. Isa la bell bell bell. Mach mir Deinen Hundefick schnell. Du bist nur eine kleine, feige und verfickte Pinscherin. Deine heiße Vagina hat mich darüber getäuscht, wie Du in Wirklichkeit bist. Bleib hier. Komm Du rüber. Was hüben und drüben war, geht zum Teufel. Und von allem, was kommen kann, wärest Du nicht das Schlechteste. Mit Dir zusammen möchte ich sterben.
Brigittes unbekanntes Ich: Du hast mir in den letzten Monaten so oft gesagt, daß Du ein großes Problem damit hast, keine sexuellen Erfahrungen gemacht zu haben, so oft mich aufgefordert, mir eine andere Freundin zu suchen, so oft betont, daß Du nicht ausschließen kannst, „morgen“ mit dem oder der zu schlafen, hast so oft geschwankt zwischen „ich weiß, was ich nicht will“ und „aber wenn ich ihn oder sie ansehe, kann sein, daß ich sofort mit ihm ins Bett will“, daß ich inzwischen manchmal empfinde, ich stünde Dir dabei im Wege. Als sei ich zur Zeit das größte Hindernis für Deine herangereiften Sehnsüchte. Dabei verstehe ich, daß Du mich trotzdem lieben kannst, daß Du bei mir bleiben willst. Ich verstehe das alles, und es bringt mich um. Und auch Dein Satz: ES HAT NICHTS MIT DIR ZU TUN trifft mich ins Herz. Auch mein Empfinden „HAT NICHTS MIT DIR ZU TUN“. So werden wir damit nicht fertig, im Gegenteil. Du merkst vielleicht an diesen Zeilen, daß meine Unsicherheit nicht damit erklärt wird, ob Du mit irgend einem andern Mann oder anderen Frau ins Bett gehst. Sondern viel mehr mit der Ungewißheit, die Du selbst in Dir trägst, wie weit Du gefühlsmäßig in solch einer Beziehung gehen würdest. Und: welche Rolle ich bei dem Ganzen spielen würde, und ob ich diese Rolle ausfüllen will. Die Frage ist letztendlich, ob ich diese Unsicherheit aushalten kann. „Es hat also wirklich nichts mit Dir zu tun“.
Charlotte: Martina kommt aus Görlitz, und sie verkauft keine Lippenstifte oder Duftwässerchen. Sie verkauft sich selbst. Schmier meine Eier, meinen Haarmund ein mit süßen Vaselinen. Streich weiße Cremes auf. Die Girls mit dem etwas kräftig gezogenen Lidstrich verstehen sich als eine Art Schmieröl. Sie schlafen mit dem Gebäudereiniger aus Rostock und dem Bankmanager aus München. Aber ich fahre auch zu Sondereinsätzen. Die Chance eines solchen Wochenendes kommt so schnell nicht wieder. Wie oft machen Ost-Mütter schon Babysitting Urlaub im Westen? Wie oft will eine Ost-Tussy schon testen, wie weit ihr West-Macker geht? Mein erster Typ hier ist mir so gekommen: Ich werde Dich aber in den Arsch ficken, Prinzessin aus dem Morgenland. Ich lecke Dich auch wie noch kein Langnese-Eis. Ich hatte ihn angepeilt, weil er der Typ des Frauenkenners war: ein schlanker Kapitalist mit dicker Marie und hoffentlich dickem Schwanz. Herr, ramme rein, bis es mir weh tut, Dein Schwert hämmernd in mir steckt. Ja, meine sexuelle Befriedigung geht mir über alles, und der Rest ist schließlich Routine.
Brigittes unbekanntes Ich: Um es andersherum zu sagen, was ich instinktiv empfinde: Zur Zeit besteht der größte Unterschied zwischen uns beiden: Du bist offen für andere, ich bin nicht offen für andere. Und an dem Punkt ist es Anschauungssache, „persönliche Angelegenheit“ wie man dazu steht. Ob man es als revolutionär oder als problematisch empfindet. Auf jeden Fall sind es gegensätzliche Lebensauffassungen, wenn es denn so stimmen sollte. Wie dem auch sei, vielleicht trügt mich einfach mein Instikt.
Charlotte: Zum Dienst gehört das Novum, daß Sex ohne Gummi jetzt billiger angeboten wird. Hören Sie auf, sich ständig an den Maßstäben anderer Menschen zu orientieren. Horchen Sie in sich hinein. Die Reisewelle rollt. Auch ein deutscher Traum, der sich in diesen Sommermonaten tausendfach verwirklichen wird. Wenn hübsche, junge DDR-Dirnen im Minirock, mit Punkerfrisur und anderen Merkmalen der käuflichen Liebe durch die Empfangshallen der Interhotels stöckeln, tritt so manchem altgedienten Stasi-Spitzel der kalte Schweiß auf die Stirn. Bitte besteige mich mit Deinen Hackenschuh'n. Dein Dreieck in Lederriemen geschnürt. Ich will Deinen Körper erleben, wie er sich nach meiner Peitsche bewegt. Peitschenhiebe bestimmen den Stoß. Ketten bestimmen die Zeit. In der Disko. Ich fühle mich lieblos behandelt und drehe mich auf die andere Seite. Aber die Polizei wagt nicht einzugreifen.
Brigittes unbekanntes Ich: Vielleicht besteht der einzige Sinn dieser Unterhaltung darin, Dir in einer etwas sachlicheren Form meine Reaktionen der letzten Tage zu erklären. Glaub mir, ich leide am meisten, wenn ich so reagiere, ich kann mich so nicht ausstehen, eigentlich bin ich ein fröhlicher Mensch und eigentlich sollte ich mich auf meinen Verstand und mein Gefühl verlassen. Ausnahmsweise. Was meinst DU?
Charlotte: Sie steht und klopft mir auf die Schultern. Die Mauer steht schon nicht mehr, sagt Lola, und den Rest schaffen wir auch noch. Deine Möse frei für mich, frei für meinen Schwanz. Kommt gar nicht in Frage. Ich guck' schon. 102 58 87. Selber gemessen? Nee, das war ein Münchner. Großer Ausschnitt und ein Busen. Zeig Deine Unterwürfigkeit. Zeig, wie Du ihre Weiblichkeit liebst. Zeig, wie Du ihre Lola Vicky liebst. Zwei Stunden später lag ich mit Dagmar im Bett. In einer Gartenlaube, die mir meine Gefährtin als Wohnung vorführte. Mach Dich offen für eine Reise, von der Du nicht mehr zurückkommen wirst. Nicht so, wie Du gegangen bist. Der Typ aus Regensburg war total hin, als er mich entdeckte. Lala. Und ich tanze für mein Leben gern. Mach, daß ich mit dem Hintern wackle, um Deinen Schwanzschaft zu schlucken, bis meine Arschbacken Deine Schenkel wiegen. Ob nun die genitale Vereinigung in einer Laube mit Infrarotstrahler, im klimatisierten Interhotel, in einer abruchreifen Altbauwohnung oder in einem sanft schaukelnden Trabbi stattfand. Altes verkommenes Kellerloch wird zu einem Luxusappartement.
Brigittes unbekanntes Ich: Es sind jetzt fast zwei Wochen vergangen. Du sagst, Du bist leer. Und: wir sollten uns nicht mehr so viel über diese Sachen unterhalten. Vorgestern sprach ich zum ersten Mal über meine Minderwertigkeitskomplexe. Es war nicht einfach, ich bin nun mal eitel und das ist für mich das Wichtigste. Ich frage mich, wie konnte ich an diesen Punkt gelangen. Aber vielleicht ist es die berühmte Midlife-Crisis, die mich jetzt ereilt hat. In dieser Form.
Charlotte: Das war übrigens mein erster Ossi. Toller Mann. Für den hab ich mich gern ausgezogen. Einen Vibrator, schwarz mit roter Eichel, ob ich den zwischennehmen würde. Die Pornos, die ich gekauft habe, antiquarisch, zum Vergleich... In den romantischeren darf man erst vom verarmten Grafen an aufwärts ficken, und in den Illustrierten sprühen die Dialoge von Poesie: "Meine Votze ist auf dauerfeucht eingestellt. Ich will den dicken gelben Saft rausholen aus Dir." Und für die Aufnahmen haben wir 'nen prima Platz gefunden. Nun, vielleicht klappt's als Modell. Vick Vick. Ich würde es mit neuen Sex-Praktiken versuchen. Bei guter Musik lasse ich mich auspeitschen. Ich liebe es, nach dem Rhythmus geschlagen zu werden. Ein kleiner Urlaub oder nur ein verlängertes Wochenende im Bett, wo wir uns ausschließlich unserer gegenseitigen Liebe widmen, kann da Wunder wirken.
Brigittes unbekanntes Ich: Du bist fixiert auf den ANDEREN oder die ANDERE. Jetzt ist er/sie auch in meinem Kopf. Ich hoffe, für nicht allzulange. Mir ist schwindlig. Emotional bin ich aus der Bahn geworfen. Wohin soll das führen? Betroffen hat mich Dein Satz, daß Du resignierst und wie „M.T.“ werden wirst, da Du keine Chance siehst, Deine Erotik auszuleben. Arme Charlotte, armes unbekanntes Ich. Was führen wir nur für ein Leben. Dann wieder: der Mond ist schuld, der März. Die buchlose Zeit.
© Charlotte Oberwasser & Asteris Kutulas, 1990/91
Textcollage, teilweise mit Zitaten (leicht abgewandelt)
aus: "DDR INTIM", Zeitschrift; "Untersuchung", Gedicht von Jannis Ritsos; "Bitte Herr", Gedicht von Allen Ginsberg; "IM RAUSCH DER TRIEBE", erotische Frauenbildgeschichten von Christa Beinstein; "ISA LA BELLE", Roman von Alexander Blank.