Briefe an Heiner Müller
Aus einer anderen Zeit

(Ich veröffentliche hier nach und nach meinen Briefwechsel mit Heiner Müller aus den achtziger Jahren – des vorigen Jahrhunderts. Meine Briefe an ihn verfasste ich in einem hybrisartigen Zustand; ich glaubte, dem großen Meister nur auf diese Art und Weise begegnen zu können. In diesen Briefen verbindet sich eine imaginäre Geschichte, die sich damals in meinem Kopf abspielte, mit Furcht einflößenden Begebenheiten, die sich tatsächlich ereigneten und über die zu sprechen ich bis jetzt nicht in der Lage war. Die Übergänge vom einen zum anderen sind fließend, wobei die Realität einen größeren Stellenwert einnimmt, als man das heute vermuten würde. A.K)



Lieber Heiner,

weil ich in keiner guten Verfassung bin und deine Hilfe brauche, bitte ich dich, die folgenden Zeilen zu Ende zu lesen, trotz ihrer Ausführlichkeit, die, zugegeben, heutzutage unüblich ist. Es geht um S.’ Tod. Die Umstände, unter denen ich S. das letzte Mal in seiner Wohnung sah, waren skurril, und inzwischen habe ich fast das Gefühl, daß S. ermordet worden sein könnte. Eine Vermutung, in der ich mich irgendwie durch das bestätigt sehe, was S. kurz vor seinem Tod aufgeschrieben hat.
Ich hatte mir schon längere Zeit vorgenommen, ihn zu besuchen; seit Wochen, so hatte man mir erzählt, lag er krank im Bett, seine Arbeit im Institut ruhte, er ließ sich nirgendwo mehr sehen. Der eigentliche Grund, zu S. zu gehen, war unser Vorhaben, gemeinsam eine theoretischen Abhandlung über jenes Thema zu verfassen, das uns bei unseren Diskussionen in den letzten Jahren so sehr beschäftigt hatte, immer und immer wieder waren unsere Gespräche um denselben Punkt gekreist, ergebnislos, bis zu dem Tag, da wir beschlossen, zusammen, ich als Übersetzer und Publizist, er als Philosoph, darüber zu schreiben, um auf diesem Wege vielleicht endlich zu einem Ergebnis zu kommen. Das Ganze sollte der Selbstverständigung dienen und war nicht für eine Veröffentlichung bestimmt.
Trotzdem – als hätte ich mich dann plötzlich vor der Wahrheit gescheut, die möglicherweise zutage treten würde, ja sollte – besuchte ich S. nicht mehr, nachdem wir unseren Entschluß gefaßt hatten. Sicher, die Arbeit nahm mich ziemlich in Anspruch, ich mußte nach L. und J. und schlug mich dort mit den Problemen unserer Sektion herum, kurz gesagt, meine Zeit war begrenzt, und so drückte ich mich ohne schlechtes Gewissen um die vereinbarte Zusammenarbeit, die, dessen war ich mir allerdings sicher, zur Klärung einiger Angelegenheiten beigetragen hätte.

Nachdem ich dann erfahren hatte, daß S.’ Krankheit sich rapide verschlechterte, machte ich mich vor einigen Tagen endlich auf den Weg zu ihm. Als ein Herr, der sich als Dr. Holb vorstellte, mir die Wohnungstür öffnete und mich fragte, wie mein Name sei, wußte ich sofort, daß ich zu spät gekommen war. Es überraschte mich, daß dieser Dr. Holb, kaum daß er mich in die Wohnung gelassen und mich in das Zimmer, in dem S. im Bett lag, gebeten hatte, mir schon nach kurzer Zeit, als wäre ich sein enger Vertrauter, erzählte: „... Zuerst spürte ich, wie seine Hände kälter wurden, dann trat der Tod ein.“ Mich irritierte das. S. lag ein paar Schritte entfernt von uns im Bett, das Gesicht zur Wand gedreht. Er war bis zum Hals zugedeckt, ich sah nur seinen Hinterkopf. Holb ging zu dem Tisch, an dem ich immer mit S. gesessen hatte, nahm einen A4-Umschlag, der dort lag und brachte ihn mir. Er forderte mich auf, ihn zu öffnen. Im Umschlag waren etliche beschriebene Seiten. Dr. Holb sagte: „Die sind für Sie. S. bat mich, sie Ihnen zu geben. Ich habe mir erlaubt, einen Blick darauf zu werfen, leider sind es nur Phantastereien, verworrenes Zeug. Aber vielleicht können Sie was damit anfangen – Sie als Spezialist! Das Ganze beginnt offenbar mit einem Dialog zwischen einem Mann und einer Frau, in der Tradition der Aufklärung. Äh ... Die Stühle stehen jetzt in der Küche, aber Sie können sich auch nach nebenan setzen. Ich hab noch zu tun. Bitte ...“ Dr. Holb machte eine Geste, die mich ins Nebenzimmer leitete. Heiner, bist Du mal in diesem Zimmer gewesen? Ich jedenfalls bei keinem meiner Treffen mit S. Es war mir unangenehm, aber in die Küche, zu Holb, der dort herumwirtschaftete, wollte ich mich nicht setzen. Zwar gingen mir einige Fragen im Kopf herum, die ich ihm gern gestellt hätte und ich ärgerte mich, daß ich es nicht tat, aber der Drang zu lesen, was S. geschrieben hatte, war viel stärker. Am Fenster gab es dieses kleine Sofa. Ich setzte mich dort hin. Ich hatte nicht die Muße, mich erst noch im Zimmer umzusehen, sondern nahm die Papiere aus dem Umschlag und vertiefte mich darein. Ziemlich schnell bekam ich den Eindruck, daß das, was S. aufgeschrieben hatte, eine Art literarische Einleitung für unsere gemeinsame Abhandlung war:

„Sie dachte, was er will. Und meinte, beruhige dich. Die andern sind nicht mehr da, du kannst wieder aufstehen, dich waschen, deine Zigarette rauchen, dich beruhigen. Diese Maske, dachte sie. Und sagte laut, oder schlaf einfach. Du mußt überhaupt nichts tun, nicht reagieren. Keiner wartet auf dich. In seinem Gehirn rasten die Bilder, er tastete unentwegt seine Rippen ab, den leeren Raum, brüllte, Mitleid?! Habt ihr denn Mitleid mit uns? Mit uns, fragte sie, stand auf, drückte ihre Hand gegen seine Stirn, sich gegen seinen Ausbruch zu wehren, irgendwie. Er aber starrte nur an die Decke, verstand ihre Frage nicht. Das ist so, begann er dann, sie war plötzlich so unerschrocken, sie ging langsam ins Wohnzimmer, das sie schon seit Jahrhunderten einschloß. Er versuchte vergeblich, dieses Bild zu verdrängen, sie legte ihren Kopf auf die Arbeitsplatte, ich bin nicht Maria, nein, nur ich, ich hab mich selbst getrieben und ihn, aus mir raus. Spucke auf ihren Lippen, auf seiner Haut, in Spucke badeten seine Zunge, sein Penis, der Vogel schlüpfte, das Ei war geplatzt, sie, in dieser Stellung, vor ihm. Der Spiegel beschlug. Er sah nur zu, hilflos, alleingelassen. Wasser kochte. Entfernt, über den Dächern, oder war es nur der dunkle Hintergrund eines Bildes, eine Spiegelung im Glas, nahm sie ein Zittern wahr. Es erzeugte in ihr das Gefühl, ein Spalt würde sich in den Kulissen der Insel auftun und alle kämen heraus, die Erzogenen, Leistungsträger, Neugeborenen, Arbeitsscheuen, Aktivisten, Impotenten, Lustlosen, kurz, alle Geschlagenen und zum Schluß auch er. Da allerdings sah er schön aus, das lange blonde Haar fiel ihm auf die Schultern, die schlanken Finger befühlten die Achselhöhlen. Sie waren unsicher, vorsichtig, hatten noch keinen andern Körper begriffen, kannten kaum die Grenzen des eigenen Körpers, kannten sich selbst noch nicht. Die gefleckte Natter hat mich gebissen, schauspielerte er, ich bedankte mich und gab ihr das Gift zurück. Ich will raus aus meiner Wüste, überall nur heißer Sand, und Wüste überall, überall seltsame Erscheinungen, sie jagen mir nach, beißen, piesacken mich, stoßen mich in ein grelles Nichts, in dem ich geblendet stolpere und versuche, herauszukommen aus dieser Dunkelheit, plötzlich ein schwarzer Strahl – und ich finde mich wieder in meinem Bett, verschwitzt, oder auf der breiten Straße oder zwischen erregt diskutierenden Leuten...“

An dieser Stelle schrak ich auf, denn Dr. Holb schaute ins Zimmer, machte eine Handbewegung, die Papiere waren mir aus der Hand gerutscht. Ich hob sie auf, sortierte die Seiten. Sie waren deutlich nummeriert. Auf mich wirkte der Text rätselhaft verschwommen. S. hatte sich nie so ausgedrückt. Mir kam es so vor, als hatte er nicht mehr gewußt, ob er über Orest, über Zarathustra, Jesus oder über sich selbst schrieb, vielleicht erinnerte er sich auch nur an einen Film. Ich las weiter:

„Obwohl er sie inzwischen anwiderte mit seinem durchschnittlichen Aussehen, seiner gewöhnlichen Art, seinem langweiligen, von anderen im voraus festgelegten Schicksal, obwohl sie ihn am liebsten sofort umgebracht hätte, wäre sie dazu ermutigt worden, wußte sie nichts von ihm, kannte nicht ihren Feind, er war ihr gänzlich fremd, unerkannt hätte er sich ihr nähern können, sie hätte sich womöglich in ihn verliebt, hätte sich ihm hingegeben, alles mögliche für ihn getan, aber nein, das wäre unmöglich gewesen, ihre Insel und seine Wüste waren zu weit voneinander entfernt. Ohne Brücke, Übergang ... durch perfekt gesicherte Grenzen voneinander geschieden, allen Normalsterblichen der Zugang versperrt, nur wenigen gelang der Übertritt, und der war mit Verlusten verbunden, mit Schmerzen ...“

Hier wurde ich wieder beim Lesen gestört. Ich hatte zweimal ein kurzes Klingeln gehört und schaute zur Tür. „Verhalten Sie sich einfach ruhig.“, hörte ich jemanden sagen. Das machte mich etwas nervös. Ich fragte mich, ob damit Dr. Holb oder vielleicht auch S. gemeint waren, den man möglicherweise für schlafend halten konnte. Dr. Holb erschien in der Tür und bedeutete mir, ins Zimmer, wo S. im Bett lag, zu kommen. Drei Männer und eine ziemlich junge Frau, die einen Beutel aus gestreiftem Stoff in der Linken hielt, standen dort. Einer der Männer setzte eine heitere Miene auf, zog affektiert die rechte Augenbraue hoch und witzelte: „Ach, die Geisteswissenschaft war diesmal schon vor uns hier.“ Ich hörte jemanden, vermutlich Dr. Holb, aus der Wohnung gehen. Die junge Frau fragte den Spaßvogel: „Ausweis?“, und der antwortete, ohne den Blick von mir zu wenden: „Immer.“ – „Ihren Ausweis bitte“, verlangte die junge Frau, ich hatte aber nur den für die Bibliothek bei mir. Die Frau warf einen Blick darauf und platzte heraus: „Ach, der Grieche!“, dann gab sie den Ausweis weiter. Gleich wurde ich gefragt: „Haben Sie Ihre Angelegenheit geklärt?“ Ich wußte nicht, wie ich die Frage verstehen sollte, hörte mich aber in der nächsten Sekunde antworten: „Fast.“ – „Dannnn habe ich Anweisung, Ihnen mitzuteilen, dass Sie die Wohnung jetzt zu verlassen haben.“ Merkwürdig, dieses Dann ... „Lesen können Sie ja auch zuhause. Bitteschön. Ihr Ausweis.“ Der Typ warf mich raus. Alles ging so schnell, dass es mir unmöglich war, diese Leute, die fast keine Geräusche machten, genauer anzuschauen. Mehr als einen flüchtigen Eindruck nahm ich nicht mit. Das ärgerte mich.
Im kleinen Flur der Wohnung war es dunkel. Ich hatte nicht mal einen letzten Blick auf S. geworfen. Ich verstand nicht, was er mit dem Text bezweckt hatte, ob der irgendeine Botschaft an mich enthielt. Und dabei war S. stilistisch doch immer brillant gewesen, selbst wenn er sprach. Druckreif. Bevor ich nach der Türklinke greifen konnte, stieß ich mit dem Knie an die Ecke eines Tischchens oder einer Kiste, die, als ich kam, wohl noch nicht da gewesen war.
Ich ging sofort nach Hause. Unterwegs kamen mir Zweifel, ob das Geschriebene überhaupt von S. sein konnte. Ich hielt es nicht aus, blieb kurz stehen, öffnete den Umschlag. Doch. Es war seine Handschrift.

Heiner, Du kannst Dir vorstellen, daß ich jetzt schnellstens in meine Wohnung wollte. Ich bin noch immer ziemlich durcheinander, beunruhigt. Es gibt einige Fragen, die du mir vielleicht beantworten kannst, aber das lieber mündlich. Allerdings weiß ich noch nicht, wann wir uns sehen können. Am 12.3. in WB?

Asteris


P.S.: Übrigens stellte ich zuhause dann am nächsten Tag fest, dass ich einen ziemlich großen, fast schwarzvioletten „blauen“ Fleck am Knie hatte – ein wohl im wahrsten Sinne des Wortes bezeichnendes Andenken an meinen letzten Besuch bei S.

© Asteris Kutulas

 

 

 

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