Matriarchat/Ende

(Du fragtest mich, Was wird aus Delfi, in besseren Zeiten?, und ich konnte dir nicht antworten, in besseren Zeiten. Ostberlin kam mir in den Sinn.)


Apollo tötete Pytho, die mythische Schlange, vertrieb die Göttin Gäa, die Herrin von Delfi, errichtete auf den Trümmern des alten Heiligtums seinen Tempel, ließ durch sieben ihm treu ergebene männliche Priester die Orakel der “außer sich geratenden” Pythia, die schon vor seiner Ankunft dieses Amt bekleidete, interpretieren, ließ die Orakel zu “vernünftigen”, zumeist gereimten Sprüchen machen und stellte später das Dogma auf: am Anfang der eigentlichen Geschichte stünde das Wort, der Logos, also Er selbst. Am Anfang der Welt sei das Licht gewesen, nicht die Nacht.

Und Apollos hellenische Priesterschaft, Anhänger der delischen Weltauffassung, und die homerischen Sänger, besonders aber die an seiner Ideologie interessierten Seefahrer der ägäischen Inseln, die verständlicherweise nur an Koexistenz und Handel verdienten und erfolgreich die im Raum des Schwarzen Meeres herrschende, blutrünstige Geburtsgöttin Iphigenie zu einer Dienerin der eigenen aufgeklärten, jungfräulichen Artemis degradierten – um nur das bekannteste Beispiel anzuführen –, sie alle also zusammen sorgten für eine rasche Verbreitung der neuen olympischen Religion.

Theseus, König von Athen, erschlug die ihn über alle Maßen liebende Amazonenkönigin Antiope, die ihm Hippolytos geboren hatte. Theseus, der Repräsentant der neuen olympischen Religion, Antiope, das Sinnbild der alten matriarchalischen Gesellschaft. Alle Mythologie lässt sich in Symbolik auflösen. Die Athener Baumeister hielten diese Szene auf einer Metope fest, die in Delfi zu sehen ist; lächelnd und fast entrückt gibt Theseus ihr den wohl platzierten Todesstoß. Apollo, dem diese marmornen Abbildungen auf dem Fries geweiht waren, hatte sich von klein auf an solche Paradoxa gewöhnt, ja sie, von einer höheren Macht getrieben, gesucht; vor den Augen seiner Mutter Leto, der Erdgöttin, hatte er mit einem Pfeil Pytho getötet, die chthonische Ausgeburt der Nacht, und sich damit von seinem Ursprung abgenabelt. Es folgte die jahrhundertelange systematische Verdrängung dieses Ursprungs; so die Überlieferung, wonach er, der Sonnengott Apollo, unter der Erde geboren wurde; Apollo Smintheus, “Mäuse-Apollo”, ist einer seiner frühesten Titel.

Das ist alles hinlänglich bekannt. Heute, da sich das apollinische Denkprinzip durchgesetzt hat, versuchen sich die Götter und ihre Abbilder, die Statuen, vergeblich vor dem Vergessen zu retten: in den Antike-Museen laufen strenge Wärter herum und fuchteln wild mit den Armen, sobald sie einen Touristen entdecken, der sich zusammen mit den Statuen fotografieren will; “Keine Menschen!”, schreien sie, “Halt! Nur die Statuen!”: die Götter haben sich inzwischen in Luft aufgelöst. Und die Menschen, begierig, sich mit ihnen, mit ein wenig marmorner Luft, auf einem Stück Papier zu verewigen - blasphemisch sogar in den Augen der orthodoxen Kirche; was man mit dem einen Glauben macht, macht man auch mit jedem anderen. Aber schon seit dem Beginn des Neuen Zeitalters hatten fanatische Mönche und andere christliche Gläubige am modernen Aussehen der Statuen mitgewirkt; abgeschlagen wurden die Nasen der weiblichen Koren, abgetrümmert die Penisse der männlichen Figuren. Gleich die Gebärden mächtig werdender Religionen.

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Den Sagenkreis der Atriden behandelte er als erster in der klassischen Periode Aischylos. Er fügte den homerischen Dichtungen noch weitere Elemente hinzu, teils aus den Kyprien, teils aus anderen uns unbekannten Quellen entnommen bzw. neu erfunden: den Festschmaus des Atreus, das Opfer Iphigenies, das delphische Orakel, die Verfolgung durch die Erynnien und der Freispruch vom Muttermord durch Apollon und besonders durch das Gericht. Schon Aischylos modifizierte also die Vorlage entscheidend, indem er den bei den Homer getilgten Kampf zwischen den „alten“ Gottheiten, den Erynnien und den „neuen“ Göttern des Olymp zum Thema seiner „Orestie“ machte. Der „in sein Unterbewußtsein verdrängte“ Konflikt berührt die ursprünglichen Voraussetzungen des Stadtstaates, mithin den Reflex der gesamten vorausgegangenen gesellschaftlichen Entwicklung: „Hinter dem Werk der Dichter, die die Ilias und die Odyssee verfaßten, verbirgt sich eine grausame und gewalttätige Realität, in der die kühnen Bahnbrecher des Privateigentums die üppige, priesterliche, überfeinerte Kultur des minoischen Matriarchats ausgeplündert hatten“. Minoischen Ursprungs war auch Artemis, oft in Verbindung mit der Großen Mutter Eileithyia gebracht. Ihre vorhellenische Herkunft wurde durch die Invasion der achäischen Dynastien überdeckt und damit der Hierarchie des Olymp einverleibt. Die Veränderung des Gesellschaftsgefüges durch den Einfall der dorischen Stämme und die Zerstörung der minoisch-mykenischen Kultur bekam einen „mythischen Spiegel“ im achaischen Olymp. Die Entthronung der matriarchlischen Gottheiten und Erdkulte führte zu vielen religiösen Verschiebungen innerhalb des Verhältnisses der einzelnen Götter zueinander sowie zur Verdeckung ursprünglicher Beziehungen. So befand sich Iphigenie einst in ständiger Konkurrenz zu Artemis und zu Hekate als eine Sonderform der ägäischen „Großen Göttin“, bevor sie von anderen Gottheiten, insbesondere von Artemis aufgesogen und zur Dienerin gemacht wurde. Von dieser ehemaligen Konkurrenz zeugt nicht zuletzt die Nähe der zwei Heiligtümer, Iphigenies Halai und Artemis’ Brauron. Beiden entstammen dem Kreis der Geburts- und Fruchtbarkeitsgöttinnen und das ihnen später angedichtete Element der Jungfräulichkeit zeigt die deutlichen Spuren partriarchalischer Umwertung. Daß Iphigenie selbst als Göttin verehrt wurde, beweist ihre Identifizierung mit der jungfräulichen Göttin der Taurier, nur denkbar zu einer Zeit, da Iphigenie ihrer Göttlichkeit noch nicht beraubt war. Dieser Prozeß vollzog sich erst im 7. Jahrhundert v.u.Z. Bis dahin wurde noch der brauronische Kultbrauch des Menschenopfers betrieben. Die delphische Bewegung und der Letoidenkult, die einerseits Artemis’ matriarchalische Überreste tilgten, die Ehe- und Geburtsgöttin in die jungfräulich-strenge Schwester des Apoll verwandelnd, andererseits die Fruchtbarkeits- und Todesgöttin Iphigenie zu einer Heroine und Priesterin degradierten, richteten sich nicht zuletzt gegen rohaltertümliche Kultbräuche und Menschenopfer. Das nämlich entsprach den Bedürfnissen des gesellschaftlich weiterentwickelten homerischen Adels, der „neuen vorwärtstreibenden Schicht, die die Urgesellschaft überwand, sich nicht allein durch Ausnutzung der neuen Produktivkraft der Sklaven zur Ausbeuterklasse entwickelte, sondern zugleich die Bauern ... zur ausgebeuteten Klasse machte“, somit, Walter Ruben zufolge, der Religion die neue Aufgabe vermittelnd, „möglichst aktuelle Heldentaten möglichst richtig“ zu besingen. Neben der neuen Funktion der religiösen Gesänge der Homere war es vor allem die „Ereignisarmut dieser Epoche“, die die Kunst des Episierens hervorbrachte. Die Heroisierung der militärischen Demokratie des Königtums war nur die eine Seite, die andere, die bei weitem folgenreichste, erwies sich in der Widerspiegelung menschlicher Beziehungen und gesellschaftlicher Veränderungen. Letzteres konnte in der prälogischen Zeit nur symbolhaft-künstlerisch, eben im Typisieren in Form von Mythen vollbracht werden. Im Spannungsfeld von Einzelnem, Besonderem und Allgemeinem wurde Widersprüchliches zugeschüttet, so durch die vollendete Tatsache patriarchalischer Herrschaftsstruktur (die Ermordung Agamemnons beweist, daß die Homere trotzdem über dieses Problem reflektierten). Jene von Gerhard Hauptmann wiederbeschworene „hekatische Welt“ stieß im 8. Jahrhundert v.u.Z. auf die Ignoranz der Homere, was jedoch ihre Wirkung in der 300 Jahre später entstandenen „Orestie“ und in den (auch Aischylos beeinflussenden) eleusinischen Mysterien nicht schmälerte. Dieser bis ins 5. Jahrhundert v.u.Z. hineinwirkende Clan-Kult war der Artemis bzw. der Demeter und Persephone geweiht, wobei allerdings alle drei ihrerseits mit Hekate verknüpft waren. Wichtig ist, daß sich alle griechischen Göttinnen in erster Linie in ihrer Bestimmung als Mondgöttinnen trafen. Wiederum spielte der urwüchsige Zusammenhang die entscheidende Rolle: die Regelung der Fortpflanzungsfunktion der Frau durch den Mond, dem „ersten Zeitmesser“ überhaupt. Am deutlichsten allerdings ist dies in der Beziehung zwischen Artemis, Hekate, Persephone, Selene, die in vielen Überlieferungen nur verschiedene Phasen des Mondes darstellten. Daß, nach Pausanias, Iphigenie bei der Opferung in Aulis von Artemis in die Göttin Hekate verwandelt wurde, schließt nur den angedeuteten Kreis zum gemeinsamen chthonischen Ursprung matriarchalischer Kulte. Mit der Entgrenzung und Gleichsetzung der Iphigenie, Artemis, Hekate und Selene wird auch für Hauptmann der Fall „zurück in Barbarei“ symptomatisch: die (im modernen Sinn des Wortes) barbarische Welt, in der man wieder „statt der Ferkel Kinder“ schlachtet (vgl. 329), förderte die künstlerische Gestaltung des Dichters aus der Vielschichtigkeit des Mythos zutage. Hauptmann griff also bei seiner Behandlung des Atridensagenkreises nicht auf die olympische Göttertradition des Homer, der auch Aischylos und Euripides ihre Stoffe entlehnten, zurück, sondern auf die mythischen Überlieferungen aus kultischer Zeit.
Das ist umso erstaunlicher, als er die Idee zur Behandlung des Atridenstoffes Goethes „Italienische(r) Reise“ entnahm, die er zufällig 1940 las.81) Jedoch leuchtet ein, daß eine Iphigenie, eingedenk ihrer Kraft, die Barbarei der äußeren (taurischen) und inneren (in ihrer und Orests Brust) Welt zurückweisen, ganz zu schweigen. Dergestalt wird zum wichtigsten Kriterium der Humanität: das Menschenopfer.

© Asteris Kutulas

 

 

 

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