Nikos Engonopoulos
Gedichte und Statements

STRASSENBAHN UND AKROPOLIS

le soleil me brule et me rend lumineux

zu des Regens Monotonie
durch Pfützen
durch aschgrauen Dunst
fahren die Straßenbahnen
überqueren den verlassenen Markt
- den vom Regen leergefegten -
fahren in Richtung
der
Endhaltestellen
mein Denken
voll Mitgefühl
folgt ihnen mit Sorge bis
sie angelangt
wo die Felder beginnen
wo der Regen erstickt
an den Endhaltestellen

welch Trauer herrschte - mein Gott -
welch Trauer
würde mein Herz nicht getröstet
durch die Zuversicht des Marmor
und in Erwartung eines grellen Lichtstrahls
der neues Leben weckte
in den herrlichen Ruinen

von Dauer wie
eine rote Blüte
inmitten grüner Blätter


UNTERHALTUNGEN MIT DEM FAHRER VERBOTEN

I
Tanzende Albaner denken daran, ihren Aktivitäten einen neuen Sinn zu geben, so daß die Kinder nichts von den Bitternissen und Enttäuschungen des Lebens erfahren. Daß sie nichts erfahren, bevor die Zeit dafür gekommen. Jedenfalls reichen die Gedanken dieser Albaner nicht weiter als bis zu den Angeln des Fensters. Und das, weil ein Italiener, der auf den Namen Gulielmo Tsitzi hört und von Berufs wegen Blasinstrumente repariert, versucht, das Brautpaar hinters Licht zu führen, indem er dem älteren Modell einer Singer-Nähmaschine vier Trichter aufsetzt, zwei davon aus Glas und die anderen beiden aus irgendeinem Metall. Es braucht sich keiner aufzuregen: allein dieses Bild half dem verstorbenen blinden Leuchtturmwärter das Geheimnis des Brunnens zu lüften.

II
(von Winden und Gewässern)
Ewig das Gedenken an den höflichen Ottomanen Ali Chantzar Efendi, niemals höherer Beamter des Reichs, der die Menschheit mit seiner Wohltätigkeit beglückte, unterstützt von einem Italiener, Gulielmo Tsitzi genannt. Dieser Meinung ist im übrigen auch Frau Artemis. Der “Frau Artemis” Versicherung beruhigt die aufgeregten Gemüter und bestärkt französische Dichter des XVI. Jahrhunderts außerordentlich in dem Vorhaben, eine neue Schule unter dem Namen “Plejade” zu gründen. Zudem sollte keiner von euch vergessen, daß der Mönch Schwarz das Schießpulver erfand. Und was das weitere betrifft ...


VIELLEICHT

Es regnet ... Und trotzdem, ich muß euch leider sagen: es war da ein Haus, ein großes, ein riesiges Haus. Verödet. Ohne Fenster, und es hatte eine Vielzahl Balkone und einen gewaltigen Schornstein. Dort saß ein Mädchen ohne Augen, das anstatt Stimme eine Blume hatte. Es fragte mich:
- Was haben Sie so viel zu nageln seit heut früh?
- Ach, nichts ... nichts. Ich sprach mit Homer.
- Mit Homer, dem Dichter?
- Ja, mit Homer, dem Dichter, und mit einem andern Homer, einem aus Moschopolis, der sein ganzes Leben auf Bäumen zubrachte, gleich einem Vogel, und war doch in den Vierteln nah dem See bekannt als “Mensch der Brücken”.


DER HEIMLICHE DICHTER
hommage an raveL

der Schatten des Sees
dehnte im Zimmer sich aus
und unter jedem Stuhl
und sogar unterm Tisch
und hinter den Büchern
und in den dunklen Blicken
der gipsernen Modelle
zu vernehmen wie ein Flüstern
das Lied des
heimlichen Orchesters
des toten Dichters

und da trat ein die Frau, die ich so lang erwartet
nackt
gekleidet in Weiß
unterm Mondlicht
mit gelöstem Haar
mit langen grünen Gräsern in den Augen
die kaum merklich schwankten
gleich den Schwüren
die niemals geleistet
in fernen namenlosen Städten
und in leeren
zerfallnen
Fabriken

und auch ich gedachte mich zu verlieren
wie der tote Dichter
in ihren langen
Haaren
mit ein paar Blumen
die ihre Kelchblätter öffnen
am Abend
und
sie schließen
am Morgen
dazu etwas Trockenfisch
der aufgehängt wurde
an einer Schnur
ganz oben
unter des Kohlenkellers Decke

und so fortgehn
weit weg
von Tumult
und Krach
auf dem Schießplatz
fortgehn weit fort
im Glas der zersplitterten
Fensterscheiben
und leben
ewig
oben an der Decke
aber
immer
in den Augen habend
die geheimnisvollen Lieder
des erstorbnen Orchesters
des
Dichters


DIE GÖTZENBILDÄHNLICHEN IDOLE DES FLUGHAFENS

sie gingen auf ewig
fort von uns
die Steine des Ostens
- hochzeitlich tote Krokodile
im Schloß
das gelb gestrichen
von den Nähmaschinen -
und jetzt leben sie - und werden ewig leben - hier
luftdichte Schlußfolgerungen
des schmalsten Ithaka
die heimlichen Klingen der Vatermörder
in meinem Innern aufzurütteln
in der Tiefe - wenn ich lach -
die schmutzigen Laken der Opferung

wie der Wald der Trost finden wird im Sperma
der Fische des Schlafs in den Lippen
fordert die systematischen Erdöle des Lebens
und singt allein das Lied
das die Kinderchen nachts auf den Straßen sangen
von samtnen Korallen
im Blick


DER GRANATAPFELBAUM = SO4H2

hör’ wie die Tränen rollen
gleich den Bäumen reglos
stumm
einsam
wenn hereinbricht die Nacht

und doch der Garten
- sag ich -
mit den zahllosen Fenstern
war riesig
und sein Grün
reicht bis nah ans Meer
genau bis da wo beginnt
der gelbe Strand

auf diesem gelben
Strand
sangen wir
- wie mir scheint -
unsere schönsten Lieder

und doch dort
steinigten sie uns
mit Steinen
und Kieseln
eine Handvoll nach der andern

und die Kiesel waren
die schlohweißen
erotischen Zähne
der Frauen
die wir liebten


DAS BÜNDEL KLARHEIT

Die Blitze, mit ihrem Jahrhundert, schlugen ein und verloren sich in des Dunstkreises Herz. Und jetzt, beim Gewitter, warten die Tiere, beharrlich in ihrem Reich, mit Augen voller Wiesen und Wiesenpfade, auf der Liebe Flammen und Hoffnungen. Rose der Winde, der Schafotte, du Nordwestbrise der Flüsse und des Leids, komm und tu, was die Frauen tun und die Vögel. Mach, daß das reiche Blut spazierenführt den Klang der Glocke. Heb deine Hände wie Purpurmäntel an den Spiegel des Samens, peitsch die Anemonen deines langen Haars, lös auf den Zauber in den Häfen deiner Wimpern und Augen. Siehst du nicht, wie schnell der Tag zur Neige geht?


ODYSSEUS LAERTIADES

Er, der bei den Vorführungen eines chinesischen Theaters mitwirkt, vergißt nie, seine Nase mit einer leuchtend weißen Farbe zu schminken, “Ausdruck seiner Schläue”, denn er denkt nicht daran, seinen Gram zu verbergen, oder seine Scham, daß er einst Ehebrecher war. Keine Entschuldigung, nicht einmal vor sich selbst, ist jene innere Trunkenheit, infolge einer wilden Sehnsucht, schnellstmöglich, und sei’s nur eine Stunde eher, in sein Ithaka zu kommen.

© Deutsche Übertragung von Asteris und Ina Kutulas

 

Ich war nie ein systematischer Schriftsteller, ein systematischer Autor, ein littérateur. Die große Liebe meines Lebens gilt ausschließlich der Malerei. Jede Stunde, die ich nicht der Malerei widme, scheint mir eine verlorene Stunde. Aber ein Bild verlangt natürlich nicht die ständige Hingabe des Denkens und des Herzens. Es gibt Momente, in denen die Hand sozusagen wie von allein zeichnet. Das Gehirn jedoch arbeitet immer. Und davon profitiere ich und überlege mir verschiedene Dinge, oder, für gewöhnlich, denk ich mir Lieder aus. Wenn ich nach der Arbeit diese Lieder aufschreibe, ist es gut, wenn nicht, vergeß ich sie wieder [...] Nach einiger Überlegung, und nach meiner Erklärung, daß ich nie ein “systematischer” Schriftsteller gewesen sei, fühle ich mich bemüßigt zu erklären, daß ich auch nie ein “professioneller” Maler war ...

Nikos Engonopoulos (1977)


Er, rotgesichtig, mit leuchtenden Augen und einer außerordentlich suggestiven Stimme, trug ständig ein schmales goldenes Kettchen um den Hals und einen dicken goldenen Ring am Zeigefinger seiner rechten Hand, den man unmöglich übersehen konnte. Entweder er sprach mit weit ausholenden Handbewegungen, oder er schwieg mit abgespreiztem Finger, ähnlich den Figuren, die er malte und die, in den meisten Details, byzantinischen Vorbildern glichen. Kein anderer kannte die französische Dichtung so gut wie er. Es genügte die kleinste Anspielung auf einen Text - und wäre es der abwegigste gewesen, der verlorenste im Reich der französischen Literatur des Mittelalters -, daß er ihn in perfektester Aussprache und mit Bravour zuende rezitierte.

Odysseas Elytis


Das Wichtigste während der Anfänge der surrealistischen Bewegung in Griechenland war, daß Nikos Engonopoulos, dessen Gedichte urplötzlich und mit ungewöhnlicher Kraft einschlugen, den Flügel der “Kompromißlosen” stärkte. Er war ein geborener Orthodoxer. Vom Surrealismus durchdrungen wie von Elektrizität der Lichtmast. Der keine Berührung duldete, es sei denn, man war ihm zuliebe bereit, einen starken Schlag auszuhalten. Unnahbar, mißtrauisch, streitsüchtig, hatte er es lange Zeit abgelehnt, mit uns zusammenzuarbeiten. Aber seine Stimme, und sei es nur von weitem, erreichte uns doch sofort ...

Odysseas Elytis

© Deutsche Übersetzung von Asteris Kutulas



Nikos Engonopoulos, geboren am 21. Oktober 1907 in Athen; Sohn eines Unternehmers aus Konstantinopel; 1914 Reise der Familie nach Konstantinopel, wo sie nach Kriegsausbruch bleiben muß; 1919 bis 1927 am Gymnasium in Paris; 1927/28 Wehrdienst in Griechenland; 1928 bis 1930 Arbeit als Übersetzer bei einer Bank und als Sekretär in der Universität von Athen; 1930 bis 1933 Zeichner beim Städtebauamt im Ministerium für Öffentliche Bauten; 1932 bis 1940 Abendstudium an der Kunsthochschule bei Konstantin Parthenis und Fotis Kondoglou; von 1938 an Gruppen- und Einzelausstellungen mit Zeichnungen und Gemälden sowie Arbeit als Bühnen- und Kostümbildner für zahlreiche Theateraufführungen; 1934 bis 1945 Beamter beim Ministerium für Öffentliche Bauten; 1941 Einberufung zur Armee, Soldat an der albanischen Front, Gefangennahme durch die Deutschen, Arbeitslager und Flucht; 1945 bis 1964 Dozent bzw. Professor, 1967 bis 1973 ordentlicher Professor und Lehrstuhlinhaber für Freies Zeichnen am Polytechnikum Athen; stirbt am 31. Oktober 1985 an Herzversagen.
Neben vielen Auszeichnungen und Preisen für seine Malerei erhält Engonopoulos 1958 und 1979 den Ersten Staatspreis für Dichtung.

Gedichtbände: „Unterhaltungen mit dem Fahrer verboten“ (1938), „Die Klaviere der Stille“ (1939), „Bolivar“ (1944), „Die Rückkehr der Vögel“ (1946), „Eleusis“ (1948), „Der Atlantik“ (1954), „In blühender griechischer Sprache“ (1957), „Im Tal mit den Rosen“ (1978)

 

 

zurück zur Themenauswahl