Bruchstückhaftes aus meiner Leipziger Zeit mit Uwe G.

Die Philosophie als Lebensform.
Die Flucht als Philosophie.
Die Fliegen flohen vor Don Carlos.
Schiller und Libanon in einem Topf.


3.3.82, Leipzig
Bin gerade mit der Ritsos-Übersetzung fertig: 336 Monochorde. Einer davon: „Eine gute Maske für schwierige Zeiten, der Mythos.“ Jetzt beginnt die Feinarbeit...
Vor zwei Wochen faßte ich den Entschluß: Ich stelle den Antrag, für ein Jahr vom regulären Studienbetrieb freigestellt zu werden, um durch Lateinamerika zu reisen. Die Idee wurde bei Gisela geboren, die auch den Stein ins Rollen brachte. Dann bekam ich unverhofft Unterstützung von Prof. Träger, er riet mir zu und versprach zu helfen; daraufhin gab auch die Sektionsleitung grünes Licht.
Mit meinem Vater sprach ich am 10.2. darüber. Er hat große Vorbehalte, Angst, ist dagegen... Als Uwe von meinen Ausreise-Plänen nach Südamerika hörte, war er hingerissen. Zwar versetzt er mich ständig ... mein bester Freund, aber was soll’s ... Über ihn lernte ich auch Udo kennen, einen angehenden, abgefahrenen Philosophen. Ich liebe diese Voyeure des Geistes, diese hirngeborenen Praktiker. Alles durcheinander in ihren Köpfen: Existenzialismus, Kommunismus, Neukantianismus, die freie Liebe, der junge Marx, die DDR, Max Weber, Sehnsucht nach irgendwas, vielleicht nach Freiheit.

25.6.82, Berlin
War früh in der kubanischen Botschaft und füllte Anträge aus – für meine Reise im Herbst. Ich merke langsam, wie schlecht ich das organisiert habe. Hätte mir bereits Adressen besorgen müssen usw. Außerdem verspüre ich bereits wieder Lust, hier richtig zu arbeiten. Mit Uwe über Literatur und Philosophie schreiben. Ritsos übersetzen. Meine Wohnung nach Berlin tauschen. Bei Prof. Heise anfragen – promovieren. In der Klasse von Wekwerth Regie studieren usw.
Dann 12.30 in der Akademie der Wissenschaften. Traf mich mit Dr. Malina. Wir unterhielten uns. Sie gab mir zwei Ritsosbücher, die ich fürs Poesiealbum brauche: „To Makrino“; „Epitomi“. Sie fragte mich, ob ich nächstes Jahr zu Kazantzakis’ Geburtstag etwas schreiben wolle.
Dann gegen 13.30 bei Kiriakos – habe aber nur Rula getroffen, die mir zu essen machte und mit der ich mich sehr lange unterhielt. Sie nannte ihren Vater einen Dogmatiker und erzählte mir von ihren Schwierigkeiten beim Studium und im Kommunistischen Jugendverband Griechenlands. Ich zeigte ihr meine Nachdichtung der „Monochorde“ sowie von „Einsamkeit“. Erzählte ihr von meinen Plänen (Lateinamerika), sie war perplex. Sie selbst ist unzufrieden mit dem Studium und besonders mit der Art, die Prüfungen abzulegen. Sie will bei der Berliner Zeitung anfangen. Bot mir an, in ihre Wohnung zu ziehen.
Monochord 31: „Mit euch, ja (und nicht in der Einsamkeit), einsam.“ Monochord 88: „Wenn du niemals die Augen schließt, wächst du nicht.“

1.7.82, Leipzig (früh)
Bin jetzt mit Martina H. verabredet – zum Frühstück. Gestern riß ich mich noch von Beate los und fuhr nach Leipzig. War bei Uwe gewesen: unterhielten uns über seine Einleitung zur Diplomarbeit. Ist ausgezeichnet geworden. Der Versuch, Schiller tatsächlich eigenständig und unabhängig zu betrachten, frei von Ideologiekritik – aber im vollen Bewußtsein einer solchen. Interessant: Schon Hegel verlangte, Schiller eigenständig zu betrachten, losgelöst von Goethe und den anderen. Schluß mit dem Schattendasein.
Uwe machte mich noch einmal auf das Interview mit Wertheim in der Zeitschrift für Germanistik aufmerksam. Arbeite immer und immer wieder an der Übertragung von Ritsos’ „Monochorden“. Versuche, Sprache zu feilen, die richtigen Wörter zu finden. Quälerei. Es hapert noch hier und da, obwohl Uwe meint, das sei wunderbar geworden. Wenn auch langsam, so geht es doch vorwärts, glaube ich...
Habe Uwe heute vom Scheitern meiner Reisepläne erzählt. Der tröstete mich mit einer guten Nachricht: Prof. Bönisch von der Philosophischen Fakultät wäre bereit, meine Diplomarbeit zu betreuen! Uwe hat ihn gefragt. Das freut mich sehr. Aber Prof. Träger ist mir möglicherweise lieber, weil ... strenger.

3.7.82, Dresden (mittags)
Während des Opitz-Seminars am Donnerstag hielt Angela ihren Wundertäter-III-Vortrag und Andrea sprach über Thomas Manns erste Novellen. Die erste machte insgesamt nur eine Textinterpretation und die zweite eine Satzinterpretation der Novellen. So ist das bei uns. Das eigentliche Thema – der literarischer Konflikt (das Sich-Reinbohren in die Substanz der Kunst) – scheint überhaupt nicht zu interessieren.
Traf dann in der Mensa Uwe, wir tranken etwas, und ich lud bei ihm meinen Frust ab. Ich glaube, es war zu viel Wein. Dann fuhr ich nach Dresden, wo ich sofort bei Beate klingelte. Wir quälten uns einige Stunden miteinander herum.
Gestern übersetzte ich ein paar Ritsos-Gedichte, ging ich die Stadt, kaufte mir ein Buch über die Alban-Berg-Oper „Wozzeck“. Dann schaute ich mir den „Woyzek“ von Büchner im Großen Haus an; keine schlechte Vorstellung, aber alles zu langatmig, zu episch angelegt. Das Büchner-Stück ist ein unterdrückter Orgasmus – kein Roman.

25.10.82, Leipzig
Heute früh Verteidigung von Uwes Doktorarbeit. Dr. S., sein Mentor, versteht die Ausmaße seiner Arbeit nicht. Viele Dozenten sind geduckte Geister. Anschließend mit Uwe und Stefan essen gegangen und Wein getrunken. Unterhielten uns über die Kulturkonferenz der FDJ, die gerade in Leipzig stattgefunden hat. Spürbare Reaktionen überall. Allgemeine Unruhe und kritische Distanz, viel Unbehagen und Protest in studentischen Kreisen. Aber auch bei einigen Professoren großes Unverständnis. Man kann nicht Heiner Müller und Volker Braun auf diese plumpe Art kritisieren. Öffentlich anprangern. Und das im Namen von Brecht! Im Namen der „Jugend“! Mein Gott, wie bescheuert und dumm muß man sein. Und dabei reichen die Kritiker den Kritisierten nicht mal bis zum Knie...
Es heißt immer: Keine einfache Zeit. Wirtschaftliche, moralische, außenpolitische Krisen machen Verhärtungen wohl „notwendig“: „Jahre werden kommen, gelb im Flor ... und das Blut der Jugend wird schuldlos altern.“ Denn, obwohl man Brecht zitiert, will man ihn nicht „verstehen“: Man schuf eben KEINE „dialektischen Institutionen, die veränderlich sind“. Alles Worthülsen. Heuchelei.

28.10.82, Leipzig
Die letzten zwei Tage mit Uwe in meiner Wohnung gearbeitet: Rede (für morgen auf der Philosophischen Arbeitstagung) „Drei Modellfälle zum Zusammenhang von Literatur und Philosophie. Skizzierung eines Problemfeldes“ ausgearbeitet. Ich liebe meinen Schopenhauer. Dabei viel in Lukacs’ Vorwort zur „Eigenart des Ästhetischen“ gelesen. Da steht: „Denn die genaue Analyse der Tatsachen wird hier besonders deutlich zeigen, daß die gedankliche Bewußtheit über das im Gebiet des Ästhetischen praktisch Geleistete immer hinter diesem zurückgeblieben ist.“
Heute 45 Minuten-Unterhaltung mit Prof. Werner über Ritsos-Projekte. Trank mit B. einen Gin-Tonic und verknallte mich in sie. Was wird Uwe dazu sagen?
Sah mir anschließend im Casino-Kino Faßbinders „Katzelmacher“ von 1969 an.
Lese nachts weiter bei Lukacs: „Es kommt dabei natürlich auf die Entwicklung der objektiven ästhetischen Tatsachen an, nicht darauf, was ihre Vollstrecker über ihr eigenes Tun gedacht haben. Gerade in der künstlerischen Praxis ist die Divergenz zwischen Tat und Bewußtsein über sie besonders groß.“ Auch sehr interessante Darlegung seiner verwendeten Methode („der Bestimmungen im Gegensatz zu der der Definitionen“). Hinweis auf Lob von Max Weber sehr bezeichnend. Werde morgen Uwe frage, was er davon hält.

6.1.83, Leipzig
Komme gerade von Uwe. Haben uns heute im Barbe getroffen und ich hab ihm meinen Teil der Arbeit für Bönisch übergeben. Er informierte mich beiläufig, daß I. ihn nicht mehr grüßt, da er ihr über den Mund gefahren sei. Er hatte aber eine abweisende Haltung mir gegenüber: „Hast du deine Probleme mit den Pappfeinden hinter dir?“ – so argumentierte er.
Wir verabredeten uns für 17 Uhr. Als ich hinkam, war er nicht da, ich schrieb ihm einen Zettel und lief die Treppe runter. Da sah ich sie: I. an Uwe gelehnt; beide traut lächelnd. Als sie mich sahen, waren sie für einen Moment schockiert, dann Uwe ziemlich verlegen.
Wir gingen hoch, ich nahm den Zettel, den ich ihm an die Tür gesteckt hatte und sagte: „Ich wollte eigentlich mit dir über die drei Seiten für Bönisch sprechen, also über Philosophie.“ Er schaute mich verzweifelt an: „Darüber aber nicht heute.“ Ich schlug ihm vor, uns am nächsten Tag um 17 Uhr in der Unibibliothek zu treffen. Wollte gehen. Da sagte er: „Das gefällt mir jetzt nicht.“ – „Was denn?“, fragte ich und floh nach draußen.

7.1.83, Leipzig
Traf nach der Kramer-Vorlesung über Max Weber meinen Freund Peter. Er erzählte mir, daß er gestern Uwe getroffen habe und daß sie zusammen mit Bernhard noch einen trinken waren. Da wäre I. aus dem Seminar gekommen und hätte sich dazu gesetzt. Uwe habe sie zum Essen eingeladen. Das Ganze muß ein Ende haben. Uwe ist mir zu wichtig, als daß ich ihn als Freund wegen einer Frau verlieren will.

16.1.83, Leipzig
Mit Uwe gesprochen. Waren einen ganzen Abend bei Prof. Bönisch. Schön, diese Stunden, ganz hingegeben der geistigen Welt. Ich erzählte den beiden, daß ich gerade alles von Christa Wolf lese, was ich finden kann. Dabei ist mir ein Satz eingefallen, der die Situation hier im geteilten Deutschland, hier in der DDR sehr prägnant umreißt:
DER HIMMEL IST IMMER NOCH GETEILT, ABER DIE HOFFNUNG FIEL IN DIE SPALTE ZWISCHEN DEN HÄLFTEN.

27.10.83, Leipzig
Am Montag zog ich bei Uwe ein. Dann tranken wir Whisky. Ziemlich viel, glaube ich. Nabil war kurz da. Seit vorgestern übersetzte ich zehn Seiten vom Tonband: das Ritsos-Interview für „Sinn u. Form“. Las in den letzten Tagen alles mögliche von Euripides: „Die Troerinnen“, „Helena“, „Elektra“, „Iphigenie auf Tauris“. Doziere stundenlang über meine „Entdeckungen“ – Uwe hört geduldig zu und macht seine weisen Bemerkungen. Überflog heute wieder Ritsos’ Roman „Was für eigenartige Dinge“. Eine Fundgrube!
Von Uwe entdeckt, für mich aufgeschrieben: „Das Reich der Vernunft ist das Reich der Freiheit und keine Knechtschaft ist schimpflicher, als die man auf diesem heiligen Boden erleidet. Aber viele, die sich ohne innere Befugnis darauf niederlassen, beweisen, daß sie nicht freigeboren, bloß freigelassen sind.“ (Friedrich Schiller, 13. Juli 1793)

1.11.83, Leipzig, nachts
Heute Nachmittag hier bei Uwe angekommen, seitdem durchgearbeitet. Er ist immer noch nicht da. Bei mir häuft sich wieder alles: Gestern in Dresden fand ich 1) vom Verlag Neue Musik die griechische Fassung der „Sadduzäer-Passion“ zum Korrektur-Lesen; heute schon erledigt. Abgeschrieben hatte Dr. Malina. Ich muß sie mal anrufen in Berlin. 2) Die Fahnen des Poesiealbum zur Korrektur (heute erledigt); bei einigen meiner Gedichte sind Veränderungen vorgenommen worden, vorwiegend Interpunktion, aber auch anderes. Und 3) ein Telegramm von Rainer: Bis zum 6. Dezember will das Fernsehen das Szenarium für den Ritsos-Film haben. Ich muß übersetzen, übersetzen, übersetzen. Wo bleibt nur Uwe, dass ich ihm das alles erzählen kann...

2.11.83, Leipzig
Heute früh kam Uwe. Wir sprachen lange über meine verkorkst-normale Geschichte mit B. usw. Wollten dann zu Nabils Verteidigung gehen. In der Stadt traf ich B., sie bebte am ganzen Körper, ich schlug ihr vor, daß wir zus. einen Kaffee trinken. Sie nahm meinen Arm und wir gingen in die Teestube. Blieben dort 1 1/2 Stunden. Bin fix und fertig. Uwe versucht mich aufzumuntern.

8.11.83, Leipzig, nachts
Heute vor einem Jahr starb Vater. Ich ging mit Uwe einen Wodka auf ihn trinken. Wenn ich könnte, würde ich jetzt für ihn Padmoskowskje Vetschera singen ...
Gestern kam ich in Leipzig an und wir unterhielten uns lange. Abends dann zu Czecho und Ingrid, ich holte sie ab, wir sahen den „18. Brumaire“ von Karls Enkel. Auch Peter Geist war da und die ganze Clique der 11. Etage.
Lernte Peter Gosse kennen. Sprach wieder lange mit Steffen & Wenzel. Steffen bemerkte zu meinem Ritsos-Text, daß die Konstruktivität der Dichtung und Sprache als Fakt noch hineingehört.
Übersetzte gestern und heute für unseren Film Ritsos-Interviews. Bin etwas paralysiert. Kann nicht viel anderes machen. Um 19.00 bis 21.30 im Rundfunk DDR II „Athener Abend“: furchtbar!

22.11.83, Leipzig
Mit Uwe heute ein langes Gespräch gehabt über den Canto-Film und dessen Schwächen. Der Film wirkt in vielen Momenten plakativ, weil er vieles von außen aufdrückt, behauptet, ohne es eigentlich so verarbeitet zu haben, daß es filmisch-organisch gezeigt wird. Die Frage wird nicht von der künstlerischen Subjektivität her begriffen und erzählt, sondern vulgär-materialistisch: Leben ? Werk. Nicht gefragt wird nach der Wirkungsintention des Künstlers einerseits und seinem Ringen um und mit dem Stoff andererseits. Das aber wäre gerade das Interessante, weil spezifisch für Theodorakis. Also, daß er „Komponist“ ist, wird nicht klar. Aussparung des schöpferischen Prozesses.
Auch nicht klar wird Theodorakis’ Konzeption, die aus dem Spannungsverhältnis zwischen Volksfront und Metasinfonik resultiert. Diese tiefere Schicht wird erst gar nicht angerissen. (Wahrscheinlich aus politischen Gründen.) Höchstens mit ein paar Sätzen im Kommentar (ein weiteres Negativum) angedeutet.
Der zweite Teil unserer Unterhaltung betraf den Ritsos-Film. Ich versuchte Uwe folgendes zu erklären: Ritsos benötigt, oder besser: erfaßt bestimmte Dinge, Gegenstände (so z.B. Steine, Gedichte, Zeichnungen, einen Tisch, Handschellen usw.), die für ihn an sich erst einmal interessant sind. Dieses An-Sich verwandelt sich jedoch sofort in ein Für-Sich, nämlich in dem Augenblick, wenn diese Gegenstände eine Begegnung mit einem anderen Menschen, mit der Welt ermöglichen. Siehe Gedicht „Bedeutung der Einfachheit“. Das ist so etwas wie ein existenzialistischer Marxismus – oder anders ausgedrückt: eine Theorie der Verwirklichung durch Vergegenständlichung. Dabei wird die Entfremdung insofern aufgehoben, als daß es egal ist, ob der Gegenstand dem Produzenten gehört, wenn nämlich ein „Treffen“, eine „Begegnung“ zur Tür, zur Welt, zu sich selbst führt! Weiterhin ist das Resultat eines solchen „Treffens“ (eigentlich einer solchen Identifikation) die Entwicklung eines Symbols. Ob das nun die Steine sind, die auf Makronissos bemalt wurden und eine Art von Widerstand bedeuten, oder ob es das Bild des Heiligen Sebastian ist, das zum Symbol des Sieges der Schönheit und Menschlichkeit über Leid und Folter wird. Und dann werden diese „einfachen Dinge“ in Momenten wie 1967 (der „Wiederholung“) zu einfachen, elementaren (konstruktiven?) Fixpunkten. Was will man also mit einem Ritsos-Film? Welcher zwingende Gedanke könnte den Film als dessen roter Faden zusammenhalten? Lese nachts Euripides’ „Iphigenie in Aulis“.

23.11.1983, Leipzig
Uwes zentrale Frage: Wie machen/schaffen es bestimmte Leute, sich eine Ideal anzueignen und es dann – allen Widrigkeiten und Anfechtungen zum Trotz – ein Leben lang aufrechtzuerhalten? Ich weiß nicht, ob er das positiv meinte, und wenn ja – vielleicht ist es gar nicht so positiv. Außerdem merke ich, dass die Begriffe nicht zutreffen, nichts erfassen, ins Leere gehen.
Ritsos hatte, bevor ich ihn im September besuchte, die Geschichte der Mutter eines Mithäftlings von Makronissos erfahren und sie mir sehr gerührt erzählt: Als der Mann dieser Frau Ende der vierziger Jahre hingerichtet wurde, blieb sie, die blind war, allein mit ihren Kindern zurück, völlig mittellos. Um ihren Mann bestatten zu können, mußte sie zu einem Tischler außerhalb der Stadt gehen, der ihr einen Sarg zimmern sollte. Sie bat eine Nachbarin, sie zu ihm zu führen. Die beiden Frauen zogen los, die Greisin führte die junge Blinde. Der Tischler machte ihr den Sarg und sie schleppte ihn auf dem Rücken nach Hause. Die Nachbarin konnte ihr beim Tragen nicht helfen, konnte sie nur führen. Inzwischen war es Nacht.
Ritsos machte eine Pause und schaute mich an: „Stell Dir dieses Bild vor, es läßt mich nicht los. Ist schon zu einem Gedicht geworden. Diese Frau ließ sich zu jedem 1.Mai die Fahne beschreiben, die aus ihrem Fenster hing. Als ihr Sohn dafür eine Metallstange nahm, wurde sie zornig: Die Fahnenstange, rief sie, muß aus Holz sein, ans Holz wurde auch Christus geschlagen. Und das Tuch muß lang sein, bis auf die Straße muß es reichen, daß es jedem Passanten gegen die Schulter schlägt!“
Das erzählte Ritsos voller Bewunderung und mir wurde klar, auf welche unterschiedliche Art und Weise sich unsere Bewunderung für die gleichen Dinge, Phänomene zeigt. Und das nicht nur auf poetischer Ebene. Seine Voraussetzungen: Erlittenes Unrecht, erlebte Utopie. Meine?

9.12.83, Dresden, nachts
Gestern Abend mit den letzten Sachen, die ich noch von ihr hatte, zu B. gegangen. Sie war eisig am Anfang, später taute sie auf. Da ich nicht bei Uwe übernachten konnte, weil er sich (sensationell!) bis über beide Ohren in eine Libanesin verliebt hat („Es ist was Ernstes!“), mußte ich Ingrid um ein Nachtasyl bitten.
Heute lange mit Uwe gesprochen („Café Günther“). Thassein, so ist ihr Name, liebe ihn auch...

10.12.83, Dresden
Uwe besuchte mich heute Abend mit seiner neuen Freundin! Blieben eine Stunde hier und gingen dann in Jannis’ Wohnung.

5.1.84, Leipzig
Ich könnte eine Dissertation schreiben zum Thema: „Marxismus und Ästhetik in Griechenland“. Uwe nannte mir das folgende glorreiche Argument: Schopenhauer & Hegel könne ich dann zur Entspannung lesen! Und müßte mir keinen Kopf um den Sekundärschwulst machen. („Den gibt es nämlich nicht!“ Aha!)
Und in anderer Hinsicht: Ich entgehe dem Akademismus, ohne aber die Wurzeln der Ästhetik (von Kant bis Plechanow) unberücksichtigt zu lassen! Das Thema sei (nach Uwe) sehr krisenfrei, denn das interessiert alle, auch die Rechten. Ich könnte an jeder Universität in Griechenland lehren. Und schließlich: „Du würdest deinem Vater auf großartige Weise folgen.“

© Asteris Kutulas

 

Uwe war zwischen 1981 und 1984 in Leipzig mein wichtigster Freund. Er war nicht nur Partner in allen geistigen Fragen der Literatur und Philosophie, sondern auch ein großer emotionaler und menschlicher Bezugspunkt für mich. Und seine Wohnung in einem (Fast-) Abrißhaus vom Anfang des 20. Jahrhunderts war ein Refugium für meine zwischen Deutschland und Griechenland transzendierende Seele, sie bot Raum für meine zwischen Pessimismus und Zuversicht changierende Befindlichkeit während meines Germanistik-Studiums. A.K.

 

 

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