Gespräche mit Czecho

Unterhaltung 1

Der Krebs – sagt C. – ist in uns und nicht nur da.
Er zwinkert mir zu. Auf dem Tisch steht ein Glas
mit Rotwein. Darin spiegeln sich meine drei Finger,
die es halten. Ich werde unsicher und möchte
aus der Flasche trinken. Die fünf Finger meiner
linken Hand trommeln auf den Tisch.
Jeder – sagt C. weiter – nährt seinen Krebs,
denn wir sind Homoeroten.
Er lacht.
Und ich schau auf die Rotweinflasche.


Unterhaltung 2

Auf der andern Straßenseite
das Gefängnis. Eine rothaarige Frau
sieht durch das Fenstergitter
zum Himmel. Sie schreit.
In der linken Ecke des Hofs
rollt eine Bierbüchse übers Pflaster.
Kein Wind zu spüren hier. Enttäuscht
lehne ich mich im Sessel Sessel zurück.
Hol mich raus – rufe ich,
doch sie ist nicht mehr am Fenster.
Die Stille wurde marmorn,
ich ihr Gefangener.


Unterhaltung 3

Trübe Tage, Maskengesichter.
Aus dem Haus hetzen.
Verstohlene Bewegungen begleiten
den Flug der Spatzen.
In der Bibliothek, wenige Meter
nur von mir entfernt,
bückt sich eine alte Studentin
zum untersten Regalboden mit
der sprachwissenschaftlichen Literatur.
Der kurze rote Rock
rutscht ihre Schenkel hoch.
Als sie die Hand ausstreckt
zum Semantik-Lehrbuch,
zerbricht irgendwo eine Fensterscheibe.
Die Studentin wendet lachend ihr Gesicht
mir zu und sagt: „Sehr heiß heute.“
Ich beuge mich schnell über
meine Bücher und lese
Czechowski-Gedichte.

© Asteris Kutulas, 1987


***


17.08.84, Dresden
Der Freitag ist bald vorbei. In vier Tagen fliegt meine Maschine nach Athen – nach Hause? Zumindest der Herkunft nach. Der Mentalität nach auch? Vielleicht. Meine Vorbereitungen sind eher spärlich, immerhin kommt Czecho nach Griechenland, und wir wollen für einige Tage nach Delfi fahren, in meine felsbeherrschte Heimat. Gibt es eigentlich „geistige Heimat“? Zumindest existiert im Griechischen kein adäquater Ausdruck dafür. Das Syndrom deutscher Geistesgeschichte – inwiefern bin ich selbst davon berührt? Eines scheint für mich festzustehen: Auch meine Entwicklung ist verstrickt in ein dichtes Netz biografisch-seelischer Zustände. Wieder so ein Wort: Seele. Das heißt: psychí. Psyche also, in deutscher Sprache stets eine Gratwanderung, bedeutet dieses Wort im Griechischen eine Un-Menge.
Ich lese Ritsos’ lyrischen Monolog mit der Überschrift „Delfi“ und stelle verblüfft fest, dass zur gleichen Zeit (1961) auch Seferis einen großen Essay zu „Delfi“ schrieb, der mit den Sätzen anfängt: „Am Anfang war der Zorn der Erde. Dann kam Apollo und tötete den chtonischen Drachen, Python. Man ließ ihn verfaulen. Davon soll die erste Bezeichnung des Ortes Delfi herrühren, (Pitho) Pitho (Wurzel pith = verfaulen). Aus diesem Grund wurzelte und erstarkte die Kraft des Gottes der Harmonie, des Lichts und der Wahrsagekunst.“ Eigenartig ist bei Seferis immer dieser idealisierende, mystifizierende Grundton: als wolle er eine neue Mythologie aufbauen. Das ganze Gegenteil von Ritsos. Die große Rolle, die Nietzsche spielte, als es darum ging, Ausgewogenheit in das Verhältnis zwischen dem apollinischen und dionysischen Verständnis der Mythologie zu bringen, ist bei den griechischen Intellektuellen – vor allem seit Kazantzakis’ Nietzsche-Übersetzung und deren Propagierung – noch immer gegenwärtig. Czecho kann kommen.

© Asteris Kutulas

 

Heinz, wir hätten unbedingt nach Delfi fahren müssen, unsere „Delfischen Gespräche“ führen ... Ich hatte auf dich gewartet im Olivenhain von Amfissa, lief jeden Tag zum Grab meines Vaters, und wartete ... Aber du, der du schon reisefertig von Leipzig nach Berlin gekommen warst, bekamst keine Ausreisegenehmigung vom Schriftstellerverband der DDR, obwohl du auf dem Flur des Büros Herman Kant begegnetest und er sich sehr freundlich gab. Aber so waren damals die Zeiten, und so trank ich allein den Ouzo mit sturem Blick auf den Nabel der Welt und führte Selbstgespräche und imaginäre Unterhaltungen mit dir. Dabei deine Gedichte lesend und hoffend, dass ihre Meisterschaft und „Schönheit“ auf mich abfärben könnten. Was blieb mir auch anderes übrig? Immerhin haben wenigstens die paar Zeilen eines Freundschaftsbeweises überdauert. Sie sind für dich, du Lyriker. A.K.


*****


Lieber Asti,
ich weiß ja nicht, wie schnell die Buschfeuer aus Athen funken, aber Deine Mutter war eine vorzügliche Gastgeberin und großartige Tanzlehrerin. Wie du auf beiliegendem Foto sehen kannst, bewegten wir uns auf dem Parkett einer Familien-Taverna zu Buzuki und anderen Klängen auf das Gewagteste! Ich schicke Dir einen Entwurf mit, unsere Nachtgespräche in Delphi betreffend. Möller, der sich als ein glänzender Freund und Organisator erwiesen hat, brachte mich zur Europäischen Kulturstiftung, die für einen evtl. Delphi-Aufenthalt zuständig ist. Vielleicht kannst Du Dich für unsere alte Idee wieder erwärmen, zumal jetzt, wo ja die Nachtgespräche quasi ohne Grenzen stattfinden können ...

Laß es dir gut gehen (bevor du nach Köln verschwindest, was ich zum Teil verstehen kann) und küsse dein schönes Weib und Alexander den Großen auch in meinem und Ingrids Namen!

Dein alter: Czecho
15. Februar 1992



NACHTGESPRÄCHE IN DELPHI
Ein Entwurf

Gerade aus Athen zurückgekommen, beeindruckt nicht nur von der Akropolis und den sie umgebenden Trümmern der Antike, sondern auch von der Stadt selbst, ihrer Architektur, dem Verkehrschaos, den Märkten und seinem Leben, in dem sich das scheinbar Unvereinbare vereint, also: mit einer ersten Ahnung konfrontiert, daß Griechenland mehr ist, als mein bisheriges Bild von diesem Land, sehe ich die Konturen eines alten Projektes nunmehr deutlicher aus der Vergangenheit emporsteigen.
Asteris Kutulas, der in Ost-Berlin lebende wichtige Vermittler neugriechischer Poesie und Musik, brachte mir vor einigen Jahren eine Broschüre über Delphi. Beim Betrachten der Fotos entstand die Idee, unsere immer wieder abgebrochenen Gespräche über die damalige DDR eines Tages in Delphi als „Nachtgespräche“ fortzusetzen, um daraus ein Buch entstehen zu lassen. Leider wurde aus diesem Vorhaben nichts, da mir eine Reise nach Griechenland in letzter Minute von den Behörden verweigert wurde.
Jetzt, unter den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, und nicht zuletzt unter dem Eindruck griechischer Kultur und Geschichte, scheint mir die Idee der „Nachtgespräche in Delphi“ wieder aktuell zu sein. Deutschland ist wieder EIN Land; aber die Vergangenheit ist nicht tot, sondern stellt ihre Fragen an die Gegenwart und die Zukunft. Andererseits ist wohl kein Land und kein Ort wie Griechenland und Delphi derart geeignet, aus der Aura menschheitsgeschichtlicher Erfahrung heraus, wie sie in Griechenland gegeben sind, die Gegenwart Europas und Deutschlands zu befragen.
In einem synchronen und diachronen Dialog, dessen Rahmen offen ist, ließe sich unter den Bedingungen eines Aufenthalts in Delphi vieles von dem zur Sprache bringen, das im Augenblick distanzlos unter den hierorts herrschenden Verhältnissen nur schwer zu formulieren ist. Das daraus entstehende Buch (Umfang ca. 200 S.), evtl. ergänzt durch Illustrationen eines in Griechenland lebenden deutschen Malers, könnte auch zum besseren Verständnis griechisch-deutscher Befindlichkeit beitragen. Es wäre aber darüber hinaus auch ein literarisch-kultureller Beitrag, der die Möglichkeit eines Dialogs auf europäischer Ebene versucht. Beide Länder – Deutschland wie Griechenland – stehen, jedes auf seine Weise, in der Pflicht der geschichtlichen Betrachtungen ihrer jeweiligen Vergangenheit. Auch in dieser Beziehung könnte das Gespräch zwischen einem Griechen und einem Deutschen dazu beitragen, den Blick auf eine gemeinsame Zukunft zu richten. Das Spezifische freilich, das diesem Buch seine Prägung geben könnte, kann nur im Ergebnis gemeinsamer Arbeit entstehen. Denn nicht zuletzt sollen ja jene Erfahrungen vergegenständlicht werden, die erst dort entstehen können, wo die „Nachtgespräche“ stattfinden werden.

Heinz Czechowski
Leipzig, Februar 1992

 

 

zurück zur Themenauswahl