Visionen
im Winter 1988 und im Frühjahr 1989

Das Leben geht seinen Gang, und alles müht sich mehr oder minder erfolgreich, mitzuhalten, seltsamer Trott, seltsam trostlos. Ringsum historische Wechselbäder, die unsereins die Sprache, wenn nicht gar das Laufen verschlagen. Verschlafen blicken wir in die einsame Runde, wer lacht, wer weint, wer schlägt, schlägt immerzu verschlagen. Interessiert werden die hiesigen Bücher gelesen, Czechowski, Braun, Hein, Papenfuß, Müller, noch ein paar andere, die Leute gehen unsere Wege, alles zerfällt, seltene Höhepunkte in ängstlichem Leben.

Also, der Überdruß schlägt hohe Wellen. Viel Schaum ist. Und neckische Ruhe. Nur die Wölfe heulen winters den Mond an, einsam und allein oder in Gruppen. Die Ironie ist dir abhanden gekommen, sagte ein Freund, auf deiner Suche nach einem gewissen Gefühl. Das ist doch alles abseitig, monströs, einfach pervers. Ach, diese entformte Wirklichkeit, diese entnormten Selbstbefriediger, antwortete ich geflissentlich. Alles fügt sich zusammen, wie bestellt. (Ich wußte: Er würde nichts begreifen, genauso wenig wie ich.) Hauptsache, sprach er weiter, ich kann mir beim Rasieren ins Gesicht sehn, in die Augen, und er bestellte ein Bier.

Kaiser Diokletian, erinnerte ich mich, zog sich im Jahre 305 von der Politik zurück und züchtete Veilchen. Er starb elf Jahre später als vergessener Mann. Kaiser Diokletian hatte während seiner Herrschaft den letzten großen Kampf gegen die Neue Religion, das Christentum, geführt. Aber ihm halfen nur die geschlechtslosen Neuplatoniker, die in Geheimniskrämerei und Snobismus ihr Heil suchten. Für sie waren die "unphilosophischen Christen" nur eine entmündigte dumme Masse.
Doch Arroganz half nicht. Fast hundert Jahre später verbot Theodosius der Große alle heidnischen Götterkulte. Die Neuplatoniker wurden massakriert, Hypatia zum Beispiel. Kaiser Diokletian hatte keine Chance, die unteren Volksschichten interessierten sich nur für ihre eigenen Belange. Ihre passive und Haltung führte zur tausendjährigen Konservierung des status quo. Glücklicherweise gab es ausländische Invasoren, die Byzanz zugrunde richteten. Kaiser Diokletian starb als ein vergessener Veilchenzüchter etwa tausend Jahre vor dem barbarischen Untergang.
Schnee von gestern, meinte er, wenn nicht von vorgestern. Hier, bei uns herrscht die revolutionäre Devise: Kleinvieh macht auch Mist!
Von Schnecken ist nun mal keine Utopie zu erwarten, beharrte ich wie immer auf seinen Standpunkt, mach weiter so...


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"Sagt es dem Herrscher: Zerstört ist die kunstgesegnete Stätte,
Phoibos hat kein Heim mehr und keinen prophetischen Lorbeer;
Nicht mehr dient ihm die Quelle, verstummt ist das murmelnde Wasser."

Die Priesterin, die solches sprach, hatte ihren Beruf verfehlt, die Weissagung blieb ihr im Halse stecken. Die letzte delfische Prophezeiung aus dem Jahre 363: keine Andeutung mehr, keine Kraft mehr zur Andeutung. Das poetische Zeitalter verstummteverlosch/endete, das christliche begann, und damit nahte die Stunde, sich avantgardistisch zu gebärden – Mönche beteiligten sich an der Modernen Gestaltung der Altenich glaube, dass man beide Wörter klein und in Anführungsstriche gesetzt schreiben müsste, denn so steht es da wie Eigennamen, wie feststehende Begriffe Statuen; abgeschlagen wurden die Nasen der weiblichen Koren, abgetrümmert die Penisse ihrer maskulinen KollegenBegleiter, gänzlich abgeschafft alle Hermaphroditen. Sie, Symbole der altenfrüheren Machthaber, bekamen, was ihnen zustandbekamen nun, was ihnen gebührte. Athener Baumeister hatten folgende Szene auf einer Metope in Delfi festgehalten: Theseus, König von Athen, erschlägt die ihn über alle Maßen liebende Amazonenkönigin Antiope (die ihm Hyppolitos geboren hatte); lächelnd, fast entrückt, versetzt er ihr den wohlplazierten Todesstoß. Apollo, dem diese marmornen Abbildungen auf dem Fries geweiht waren, ja, der erst durch solche (fast metaphysischen) Meuchelmorde zum Gott aufsteigen konnte, mußte von klein auf an diese entnervenden Paradoxa gewöhnt werden, sie sogar, von einer höheren Macht getrieben, suchen: Vor den Augen seiner Mutter Leto, der Erdgöttin, tötete er mit einem Pfeil Pytho, die chthonische Ausgeburt, und nabelte sich damit von seinem Ursprung ab, dessen prophetische Kraft er sich allerdings noch schnell einverleibte. Verschwiegen wurde fortan, daß er, der Sonnengott, unter der Erde geboren worden war – Apollo Smintheus, "Mäuse Apollo", einer seiner frühesten Beinamen.

Heute versuchen die heidnischen Götter (die christlichen anders, aber nicht minder) vergeblich, sich vor dem Vergessen zu retten: In den Museen für antike Überbleibsel laufen adleräugige Wärter herum und fuchteln wild mit den Armen in der Luft, sobald sie einen Touristen entdecken, der sich neben einer Statue fotografieren lassen will. "Keine Menschen!", schreien sie, "Halt! Nur die Statuen!" (Tatsächlich: Welche Hybris!) Die Götter haben sich in Luft aufgelöst. Und die Menschen, begierig, sich mit ihnen, also mit ein wenig marmorner Luft, auf einem Stück Papier zu verewigen – ständig auf der "Flucht vor der Wahrheit, um sie aus der Ferne, in Wolken gehüllt anbeten zu können" (wie Nietzsche geschrieben hätte, was sich seine Schwester zu eigen machte, als sie ihn, seine Unzurechnungsfähigkeit ausnutzend, ausstellte; der Eintritt, um Nietzsche, zwar krank, aber immerhin lebend, besichtigen zu dürfen, betrug, nach entsprechender Gesichtskontrolle, 50 Mark; dabei hatte er längst mit der Aufklärung abgerechnet).

Im Kommen ist also der coole Typ, ähnlich einem im "christlichen Geiste" erzogenen Hyppolitos, treu ergeben der keuschen Göttin Artemis, dieser undeflorierten Maria, gefeit vor den sexistischen Anfechtungen der ihn liebenden Phädra, die ihm, von ihrem Tempel aus, geile Blicke zuwirft, aus ungestillter Liebeslust die Blätter eines Myrtenbaums mit einer Haarnadel zerstechend, später Hand an sich selbst legend. Die um sich greifende Sprachlosigkeit muß zwangsläufig, was heiß war (also: lebte), kalt werden lassen, was zum Niedergang, in unserem Fall: zu einem arschlosen, unverbindlichen "Liberalismus", führt. Erstarrt sind inzwischen – auf Geheiß ihrer Mutter – Kleobis und Biton, für immer erstarrt, beschenkt mit dem Schönsten, was die Götter zu geben haben: dem ewigen Schlaf. Nichts mehr sehen müssen, nicht mehr atmen müssen. "Die gegenwärtige Wirklichkeit ist ein anderes an sich und ein anderes für das Bewußtsein. Die eine ist die Lichtseite, der Gott des Orakels, der, nach seinem natürlichen Momente aus der alles beleuchtenden Sonne entsprungen, alles weiß und offenbart. Aber die Befehle dieses wahrredenden Gottes und seine Bekanntmachung dessen, was ist, sind vielmehr trügerisch. Denn dies Wissen ist in seinem Begriffe unmittelbar das Nichtwissen, weil das Bewußtsein an sich selbst im Handeln dieser Gegensatz ist." So in hegelsche Worte gepackt (bis zur Selbstvernichtung ge-klärt), kann man die Sache getrost mit nach Hause nehmen, nicht befürchtend, unschuldig schuldig zu werden. Nicht um den Preis, nach Er-Lösung durch die Sphynx morgen schon als freudvoller XY-Komplex in aller Munde zu sein. (Etwa nach dem Motto: Sag mir, wie dein Sex-Benehmen ist, und ich sag dir, wer du warst!) Nein, die mächtig rationalen Luftsprünge der Spät-Aufklärer (jenseits von Verdrängungen, Verklemmtheiten und sonstigen Verwesungen) landeten schließlich in einer barocken Verquicktheit: "Ich schaue Menschheitwesen in Wesen nach Orwesenheit, Antwesentheit, Mälwesenheit, Omwesenheit, nach Organzheit, Antganzheit, Mälganzheit, Omganzheit, nach Orselbheit, Antselbheit, Mälselbheit, Omselbheit, nach Orselbmälganzheit, Antselbmälganzheit, Mälselbmälganzheit, Omselbmälganzheit..." Der Verfasser heißt Karl Christian Friedrich Krause, doch wer kennt ihn schon? Und wozu: in diesen enttrösteten Welten? Nach alledem verstummte nicht nur das murmelnde Wasser, auch die Geister, die es zum Sprechen brachten, entflohen der Zukunft, zogen sich in ihre anheimelnde Innerlichkeit zurück. Wir sind gerettet!, das Einzige, was uns heute noch – fad melancholisch – zu sagen bleibt. Mit der delfischen Orselbmälganzheit ist es vorbei.

© Asteris Kutulas, Eggersdorf, Dezember 1988 bis März 1989

 

 

 

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