Guy, Mozart-, Schubert- und Theodorakis-Kenner, Autor, Lehrer, Luxemburgianist, glücklicher Dorfbewohner, "Nights in white satin"
Wagners Katzenparadies
10.06.86, Esch
Gestern in Luxemburg angekommen. Besuche Guy und Ariel für ein paar Tage. Das Dorf heißt Beidweiler. Ende der Welt. Katzenparadies.
Dieser Kleinstaat ist seltsam. Fasziniert mich auf merkwürdige Weise: Ich, Wanderer zwischen den Welten, treffe auf einen Zwischenweltenzustand. Eigenartige Ver-Staatlichung meines Gefühls. Im Schwebezustand, hervorgerufen durch diese Übereinstimmung. Symbiose von südlichem Temperament und mitteleuropäischem Gemüt. Das habe ich nicht erwartet. Durchatmen.
Vormittags mit Guy nach Esch gefahren. Er ist Intendant des Escher Theaters, durch das er mich führt. Allerdings gibt es, durch das „Sprachproblem“ bedingt, kein Schauspielensemble in Luxemburg, jedenfalls kein professionelles. Es müsste in drei Sprachen spielen.
Die Menschen auf dem kleinen Markt in Esch sprechen so, wie sie aussehen: mediterran. Ich hörte natürlich Französisch, Luxemburgisch und Deutsch, aber auch sehr viel Italienisch, Spanisch und Portugiesisch.
12.06.86, Luxemburg
Man erzählt sich hier das Märchen von Melusine. Siegfried, der erste Luxemburger Fürst, ging einen Pakt mit dem Teufel ein, um ihr das Schloss zu bauen, das sie zur Bedingung für die Heirat wollte. Nachdem sie vermählt waren, hielt sich Siegfried aber nicht an ihre Abmachung, sie sonnabends nicht sehen zu dürfen. Er wollte herauskriegen - versteht sich: aus Liebe -, was seine Frau macht, schaute ins Bad und erblickte sie als Undine. Das bedeutete natürlich die Trennung, seitdem erscheint sie nur alle 100 Jahre – und natürlich auch, wenn Luxemburg in Gefahr ist.
Undine klingt so traurig und zugleich so zerrissen. Warum nur? Vielleicht weil der Name nach Ingeborg Bachmann riecht.
Guy erzählte, dass Luxemburg neben Griechenland das einzige Land war, das während der deutschen Besatzung im 2.Weltkrieg gegen die Mobilmachung einen Generalstreik durchführte. Groteske Situation für einen „neutralen“ Staat. Von den Imperatoren „missachtet“.
In Guys großer Videosammlung gestöbert und viele Filme geschaut. Für mich, der nicht mal einen Fernseher besitzt, ist das herrlich. „Krieg der Sterne“, „Elektra“, „Das Boot“, „Das verlorene Bataillon“, „Mr. Seltsam“ von Kubrik. Bin wie ausgehungert.
Mittags
War im kleinen, wunderbar organisierten Museum von Luxemburg. In der Abteilung für zeitgenössische Kunst fiel mir am meisten ein Bild auf mit dem Titel „Meine Mutter“. Hintergrund: helles mattes Grün. Das ovale glatte Gesicht in einem leuchtenden, allerdings sehr tiefen Grün, die Nase, wie draufgesetzt, tiefrot und ziemlich breit. Augenbrauen schwarz, Ohren, wie drangeklebt, von Schwarz zu tiefviolett tendierend – und so weiter. Das alles, trotzdem oder deshalb, eine expressive Einheit!
Beim Besuch der Kasematte begegnete mir wieder Siegfried. Er gilt als der Stammvater Luxemburgs. Graf Siegfried gründete 963 die Burg, aus der die Stadt entstand. Und nun das Interessanteste! 443, also unmittelbar (8 J.) vor der Schleifung Konstantinopels durch die Türken, nahmen die Burgunder Burg und Land ein, das die nächsten 400 J. unter ihrer Fremdherrschaft blieb. Auch wie in Griechenland. Hießen die Besatzer in Griechenland: Türkei, Venedig, Frankreich, England, Italien, so hießen sie für Luxemburg: Burgund, Spanien, Frankreich, Österreich, Deutscher Bund. 1867 wurde Luxemburg dann für neutral erklärt. Wahrscheinlich lag es zu sehr zwischen verschiedenen Interessensphären – und man einigte sich so. Was hieß, der Stärkere (und jeder glaubt natürlich, der Stärkere zu sein) würde sich sowieso des neutralen und kleinen Landes bemächtigen. Luxemburg eingekeilt zwischen Frankreich und Deutschland. Die zwei Weltkriege zeigten, wie die kriegführenden Staaten (in beiden Fällen Frankreich) sich daran hielten: gar nicht.
nachmittags:
Inspiration durch die Musik. Die inspirierende Kraft der Musik. Ihr Zusammenhang mit meiner Stimmung. Wenn die Musik sphärisch ist.
Le Bistro d’Artscene:
Sehr schönes, angenehmes, altes Bistro mit einer Bar, Tischen mit Marmorplatten, schwarz und rot. Gegenüber das Stadtmuseum (Fischmarkt). Hier könnte man Gedichte schreiben, wenn man sie schreiben könnte.
Und noch ein anderes schönes Cafe entdeckt: Interview. Moderne Musik. Dort lernte ich einen anarchisierenden jungen griechischen Mann kennen, der mir mit seinem Auto Luxemburg zeigte. Ansonsten Nomadenleben.
13.06.86, Echternach, Mittag
Ein kurzer, sehr „dichter“ Roman müsste entstehen: Etwa wie Valerys „M. Teste“, aber politischer und unbarmherziger. Ich weiß, dass Letzteres unzumutbar scheint.
Haus Hubertus, nachmittags:
Die Grenze zur BRD überquert und hierher gelaufen. Ich übersetze Mikis’ Brief vom 02.06.86 an mich: „Man könnte sagen, dass es sich um eine unfassende/wesentliche Kritik einer konkreten gesellschaftlichen Struktur oder sogar einer konkreten Macht-Struktur handelt. Die Monarchie, der Absolutismus in den sozialistischen Ländern verformen das Volk ... Mein Standpunkt ist der, dass die Macht-Struktur ein diachrones, dia-historisches Phänomen darstellt, unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen, die in einem Land herrschen. Sie hängt mit der Macht-Form zusammen – mit der Persönlichkeit des Spitzenfunktionärs, mit der Beziehung der „Macht“ zum Volk“ usw.
abends, Peter-und-Paul-Kirche:
„Sehen Sie sich doch die Leute an! Wir, sie werden schon als Käfer geboren. Wir brauchen uns nicht mal mehr zu verwandeln.“
„Die Stadt Luxemburg stinkt nach Geld.“
© Asteris Kutulas
Mikis Theodorakis
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