Die Wege des Erzengels & das Ende des Menschen

Phänomen Theodorakis

Mikis Theodorakis, der Komponist, der Weltbürger, der kompromisslose Demokrat war Zeit seines Lebens ein Vollblutmusiker, der unaufhörlich komponierte, dirigierte, produzierte – Songs und Sinfonien, Ballette und Opern, Filmmusiken und Kammermusik. Sein musikalisches Schaffen und sein gesellschaftliches Engagement führten häufig zu extremen Gegenpositionen, er selbst war stets ein gedanklicher Extremist. Für die Linken ein Rechter, für die Rechten ein Linker. Für akademische Musikkritiker ein Popmusiker, für die Popmusiker ein klassischer Komponist. Er richtete sich auf keinem dieser Plätze ein. Er war und blieb ein Anarchiker. Ein weltoffener Geist, mit einem minutiösen Gedächtnis, rhetorisch versiert, gebildet, sensibel, voller Humor, umgeben von einer pulsierenden Aura, äußerst diszipliniert, ein begnadeter Geschichtenerzähler, sehr ernsthaft, spontan, lesehungrig.
Eine Umfrage außerhalb Griechenlands ergab, dass Theodorakis der berühmteste Grieche im Ausland ist. Er hat weltweit über 60 Millionen Platten und CDs verkauft. In Griechenland selbst kennt ihn jedes Kind. Für die Griechen ist er „Mikis“. Sie haben ihn geliebt und gehasst, ihn gehört und ihn verboten. Er musste mehrmals ins Gefängnis, und er wurde weltweit gefeiert. Für viele ist er der Inbegriff Griechenlands.
Die Gründe, die Ursachen für dieses einmalige Phänomen sind für Nicht-Griechen wahrscheinlich kaum nachvollziehbar. Begonnen hatte es damit, dass Theodorakis die hohe Dichtung seines Landes (Elytis, Ritsos, Seferis, Gatsos etc.) in den Blutkreislauf der breiten Masse einspeiste. „Es war so, als hätte Benjamin Britten Verse von Auden vertont, und die Platte, besungen vom Erzbischof von Canterbury, hätte die Beatles aus den Hitlisten verdrängt“, wie der Brite Ron Hall es einst beschrieb. Oder, um es für Deutschland zu übersetzen: Man stelle sich vor, Hans Werner Henze würde Gedichte von Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Erich Fried und Christian Magnus Enzensberger vertonen und die damit veröffentlichten Platten, besungen von Hermann van Veen, würden sich fünf Jahre lang durchschnittlich 12 Millionen mal verkaufen. Genau das geschah mit Theodorakis’ Liedkompositionen in Griechenland zwischen 1961 und 1966. Allein die Single von „Am Strand“ (mit dem gleichnamigen Text von Georgios Seferis) verkaufte sich 1964 über 400.000 mal, bei einer Bevölkerungzahl von 7 Millionen Griechen. Theodorakis veröffentlichte damals jedes Jahr zwischen drei und fünf Langspielplatten und weitere fünf bis acht Singles. Seferis erhielt 1963 den Literaturnobelpreis – auch für den Zyklus, den Theodorakis bereits 1961 vertont hatte. Und für das Werk „Axion Esti“, auf dessen Grundlage Theodorakis 1960 sein gleichnamiges Oratorium komponierte, wurde Odysseas Elytis 1979 der Literatur-Nobelpreis verliehen. Es gibt selbst heute kaum einen Griechen, der diese Lieder nicht kennen und singen würde, der also nicht durch Theodorakis‘ Musik die hohe Dichtung inhaliert hätte.

Der zweite Grund für die Existenz des Phänomens „Theodorakis“, eng verzahnt mit dem eben beschriebenen, bestand im kulturpolitischen Impetus, den seine Musik umgab. Theodorakis verband Anfang der sechziger Jahre seine Kunst sehr bewusst mit einem emanzipatorischen Anspruch: mit dem Gedanken an die Freiheit des Individuums. Im monarchistischen und polizeistaatlich geführten Griechenland zu Beginn der sechziger Jahre entwickelte diese Kombination von Dichtung, Musik und individuellem Freiheitsanspruch eine unglaubliche Dynamik. Und es verwundert nicht, dass viele seiner Lieder damals nicht nur vom Staatlichen Rundfunk– wegen „Aufhetzung gegen die herrschende Ordnung“ (gemeint waren Liebeslieder!) – verboten, sondern auch von der kommunistischen Linken stark kritisiert und zum Teil unter Verdikt gestellt wurden (wie die Revue „Lied des toten Bruders“).

Und dabei hatte sich Theodorakis bis 1960 ausschließlich mit der sogenannten ernsten Musik beschäftigt. Seine Ballette, Klaviersonaten und sinfonischen Werke wurden in London, Paris, Rom und Stuttgart aufgeführt. Er hatte bei Olivier Messiaen studiert und viele Preise für sein sinfonisches Schaffen erhalten. Seine Rückkehr nach Griechenland (1960) und seine Besinnung auf das Lied geschahen aus der Erkenntnis heraus, dass er zu seinen Landsleuten gehörte – zu ihnen, mit denen zusammen er Anfang der vierziger Jahre gegen die Deutschen und Italiener gekämpft, den Bürgerkrieg durchlitten und die schweren Jahre nach 1950 durchgemacht hatte. Und diese „unterirdische“ – biografisch-seelische – Verbundenheit mit seinen Landsleuten ist die Basis gewesen, die ihm ermöglichte, seine Lieder zu erschaffen und sie den Menschen zu geben. Theodorakis musste das akademische London und das mondäne Paris verlassen, und er musste sich mit dem „Bouzouki“ die Hände dreckig machen. Er tat es für sich und seine Landsleute, die ihn dafür umjubelt und gleichzeitig verdammt haben. Er hat uns Griechen einfach zu viel gegeben, und wir tun uns schwer damit, ihm das jemals zu verzeihen.

© Asteris Kutulas, 2005


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30.7.2004, Vrachati. Ein Tag nach seiner Geburtstagsfeier sitze ich mit Mikis in seinem Haus. Wir reden über Stalin und die Schlacht am Kursker Bogen, über Beethoven, Andreas Papandreou und die Kommunistische Partei, über Jannis Ritsos und den Lenin-Friedenspreis und immer wieder über Musik.
Mikis ist ein unverbesserlicher Optimist und ein gottverdammter Realist. Ich hasse ihn für beides. Ich will wissen, warum er keine Zukunft für die menschliche Zivilisation mehr sieht. Seine Antwort trifft mich unvorbereitet: „Der Mensch ist ein Fehler der Natur, weil er einen riesengroßen Widerspruch in sich trägt: Er kann nicht allein leben, er kann aber auch nicht mit anderen zusammenleben. Das lehren uns sowohl die menschliche Geschichte als auch unsere eigenen Erfahrungen der letzten siebzig Jahre. Der zweite Weltkrieg brachte so unsäglich viel Leid: über 50 Millionen Tote, Millionen in Konzentrationslagern bestialisch ermordete Juden, Millionen Verwundete und Entrechtete ... Wir waren uns damals sicher, nie wieder einen Krieg und nie wieder solch eine Inhumanität zu erleben ... Und? Seit 1945 folgt ein furchtbarer Krieg auf den anderen." - „Und was denkst du", frage ich, „über die Zukunft? Über unserer aller und unserer Kinder Zukunft?" – „Ich habe", antwortet er, „inzwischen nicht mehr die Zuversicht, dass der Mensch sich ändern wird. Er hat die Welt um sich herum nicht geachtet. Es ist immerhin der „zivilisierte" Mensch, der die Wälder niederbrennt, die Tiere in einer unvorstellbaren Massenhaltung schindet, die Umwelt zerstört und schließlich auch andere Menschen tötet oder sie sadistisch quält. Ich habe oft die Rechtfertigung gelesen, dass er das alles in der Urzeit aus seinem Selbsterhaltungstrieb heraus getan hat - aber warum tut er es heute? Ich habe dafür nur eine einzige Erklärung: aus Gründen der persönlichen Befriedigung, also aus sehr egoistischen Gründen ... Der Mensch zerstört das Gleichgewicht, die Harmonie der Natur, aber er wird damit zwangsläufig sich selbst eliminieren, und die Natur wird endlich aufatmen können. Wenn der Mensch von der Erdoberfläche verschwindet - was eine sehr tröstliche Vorstellung ist -, wird die Natur glücklich sein, die Tiere werden glücklich sein. Die Flüsse werden wieder frei fließen. Die Wälder des Amazonas werden wieder sprießen. Denn die Natur ist eins mit sich ... Allein der Mensch ist ein Missklang der Natur, und darum hat er seinen Untergang verdient."

© Asteris Kutulas, 2004


 

 

 

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