Musik als erlebte Geschichte

Zu der Komposition „Carnival“ von Mikis Theodorakis

Die Ballettsuite „Griechischer Karneval“ entstand zwischen 1947 und 1953: Die äußeren Umstände ihrer Entstehung waren geprägt von massiven Eingriffen des gesellschaftlichen Umfeldes in das Leben des Komponisten. Theodorakis äußerte einmal, dass er sich nur durch das Bewusstwerden seiner biographischen Erlebnisse seine Musik „erklären“ könne.

„Wir sollten nicht so sehr die Ereignisse an sich sehen, sondern uns vielmehr deren Nachwirkungen vorstellen; sie beeinflussten die Ausformung meiner psychischen, emotionalen und rationalen Welt. Ich sage nicht, dass ich, weil ich diese Erlebnisse hatte, diese Musik schreiben musste. Ich sage, dass ich diese Erlebnisse haben musste, um diese Musik zu schreiben. Das scheint dasselbe zu sein, aber im Kern ist es genau das Gegenteil.“ (M.T. in seiner Autobiographie „Die Wege des Erzengels“)

Betrachtet man unter diesem Aspekt die äußeren Umstände der Entstehung von „Carnival“ an, so stellt man fest, dass sie geprägt waren durch den griechischen Bürgerkrieg. Erste Skizzen zu „Carnival“, die zunächst für ein eigenständiges sinfonisches Werk gedacht waren, machte Theodorakis im August 1947 auf der Verbannungsinsel Ikaria. Vollendet wurde die Musik am 12.5.1953 als Ballettkomposition, nach einem diesbezüglichen Auftrag der Staatsoper Rom. In dieser Zeitspanne spielte sich folgendes im Leben des 1925 geborenen Komponisten ab:

1944 – Theodorakis’ Teilnahme an der Schlacht um Athen auf Seiten der Griechischen Befreiungsfront gegen die britischen Truppen und deren griechische Verbündete („Dezemberereignisse“).
1945 – Friedens-Abkommen von Varkiza (Februar). Theodorakis setzt sein Kompositionsstudium fort.
1946 – Offizieller Beginn des Bürgerkriegs im Oktober.
1947 – Am 5.7. Verhaftung und erste Verbannung auf die Insel Ikaria. Im Oktober Freilassung nach einer Amnestie. Theodorakis geht in den Untergrund.
1948 – Am 1.5. erneute Verhaftung und zweite Verbannung nach Ikaria. Ende 1948 Deportation in das Konzentrationslager auf der Trockeninsel Makronisos.
1949 – Am 26.3. furchtbare Folterungen. Theodorakis wird in todkrankem Zustand ins Militärhospital von Athen gebracht. Nach seiner Genesung erneut Deportation nach Makronisos. Am 16.5. Entlassung aus Makronisos. Er zieht nach Kreta zu seiner Familie. Erneut Gefangennahme und Folterung. Am 15.10. endet der Bürgerkrieg mit der totalen Niederlage der linken Befreiungsfront, zu der auch Theodorakis gehört.
1950 – Er legt seine Abschlussprüfungen am Athener Konservatorium ab und erhält sein Diplom. Einberufung zum Armeedienst. Im Oktober Versetzung ins nordgriechische Provinznest Alexandroupolis. Am 24.12. Selbstmordversuch.
1951 – Im Januar Versetzung nach Kreta (Chania). Im August findet das erste öffentliche Konzert mit sinfonischen Werken des Komponisten in Chania statt. Im November Entlassung aus der Armee.
1952 – Im Januar Rückkehr nach Athen. Arbeit als Komponist und Musikkritiker.
1953 – Heirat mit Myrto Altinoglou.
1954 – Beginn des Zusatzstudiums in der Klasse von Olivier Messiaen in Paris.

Auf der Verbannungsinsel Ikaria hatte Theodorakis Mitgefangene das Volkslied „Kapitän Andreas Zeppos“ singen hören. Er notierte die Melodie und begann mit deren sinfonischer Umsetzung. Später ging diese Skizze als 1. Teil in „Carnival“ ein. Während der ersten Verbannung auf Ikaria 1947 hatten die Gefangenen ein relativ ruhiges Leben, abgesehen von den täglichen Appellen. Theodorakis konnte systematisch arbeiten. Zusammen mit vier anderen Mitgefangenen bewohnte er das „Haus mit den Skorpionen“ im Dorf Christos.

„Abends sitzen wir da und schauen aufs Meer. Wir singen leise. Oft halten wir inne, sehen zu Boden. Uns stimmt diese ständige Überwachung traurig. Wir wären gern einen Augenblick allein, nur in Gesellschaft der Skorpione und der Wände.“ (M.T., aus „Das Haus mit den Skorpionen“, 1947)

Mit dieser hier wahrgenommenen Romantik des Ortes war es 1948, während seiner zweiten Verbannung auf Ikaria, vorbei. Der Bürgerkrieg hatte seinen Höhepunkt erreicht und die Gefangenen wurden immer mehr schikaniert. Die Bedingungen wurden ständig härter und kulminierten in den Folterungen auf der Verbannungsinsel Makronisos. Trotzdem komponierte Theodorakis in dieser Zeit mehrere Kammermusikstücke, sinfonische Werke sowie Lieder.

Wir sind schon so verhärtet
Stücke von graugrünem Fels ...
Ich habe ein Gefühl von Sonne
während sie müde Stirnen streichelt.
Wie kann ich mich gewöhnen an den Fieberglanz der Augen?
Die Meere umspülen nur unsere Herzen
es gibt keine Inseln, keine Einsamkeit.
(M.T., aus dem Gedicht „Ostria“, 1948)

Am 15.11.1953 wurden 7 der 10 Teile des Werks vom Athener Staatsorchester unter der Leitung von Andreas Paridis konzertant aufgeführt. Die Athener Kritiker nahmen das Werk positiv auf, aber gemahnten Theodorakis, wie noch oft in den fünfziger Jahren, sich nicht dem „Sumpf des Modernismus“ zu ergeben, so z.B. der Komponist und Musikkritiker Petros Petridis in einer Athener Tageszeitung:
„In der „Einleitung“ herrscht eine feinsinnige impressionistische Atmosphäre; die orchestrale Ausarbeitung zeugt von außerordentlicher Gewandtheit und Finesse, vor allem wenn man berücksichtigt, wie jung der Komponist noch ist ... Herr Theodorakis sollte ernsthaft das griechische Volkslied studieren, ... dem „harmonischen Fortschritt“ in seiner Kompositionstätigkeit aus dem Weg gehen (denn der bedeutet nur mechanische Multiplikation und keine schöpferische Arbeit) und sich nicht übermäßig den Sirenen der Orchestrierung zu Lasten der musikalischen Ideen ergeben.“ (Petros Petridis, Kathimerini, 22.11.1953)

Am 14.3.1954 wurde der „Griechische Karneval“ in der Staatsoper Rom vom Griechischen Ballettensemble in der Choreographie der legendären Rallou Manou uraufgeführt, mit der auch die Hauptrolle besetzt war. Andreas Paridis dirigierte das Orchester der Staatsoper Rom. Das Thema des Balletts hatten zwei bedeutende griechische Autoren beigesteuert, Vassilis Rotas und Spiros Vasiliou. Das Werk wurde 1957 in einer modifizierten Variante unter dem Titel „Block Nr.40“ erneut vom Griechischen Ballettensemble aufgeführt und feierte seinen größten Erfolg in einer neuen Form als “Le feu aux Poudres” 1958 in Paris. Schließlich flossen Teile des Werks in die erfolgreichste Ballettkomposition von Theodorakis ein, in die Zorbas-Ballettsuite (1987).

1990 dirigierte Theodorakis’ langjähriger Freund und Komponistenkollege Manos Hatzidakis „Carnival“ in Athen. Aus diesem Anlass schrieb Hatzidakis eine Replik bezüglich der Koordinaten ihres gemeinsamen Wirkens:
„Griechenland hatte für Mikis und mich seit Ende des 2.Weltkriegs verschiedene Gesichter. Das „offizielle“, das des Polizeistaats, der Unfreiheit, der Pseudoethik und der Prahlerei hinsichtlich unseres antiken Erbes. Das andere Gesicht, gleichsam das wahre, bestand in unserer erotischen Wirklichkeit in den einfachen Wohnvierteln von Athen und Thessaloniki und in unseren außergewöhnlichen intellektuellen Vorbildern, die mal von der Sicherheitspolizei und mal von der offiziellen Meinung verfolgt wurden. Alle unsere Regierungen waren gegen das Geistige. Das, was immer jenseits des Willens der Herrschenden existierte, war eine in unsere Sensibilität und in unseren uralten Erotismus sich flüchtende Freiheit. So ist der „Griechische Karneval“ das Werk einer Alternativkultur, der beschieden war, unser Land seit nun 40 Jahren zu prägen, allen Regierenden und Mächtigen trotzend.“ (Manos Hatzidakis, 1990)

© Asteris Kutulas

 

Mikis Theodorakis: Carnaval & Raven, Intuition Music 2003
St. Petersburg State Academic Capella Symphony Orchestra, Conducted by Mikis Theodorakis, Produced by Asteris Kutulas & Alekos Karozas

 

 

zurück zur Themenauswahl