Die Wege des Erzengels: "Bis er wieder tanzt"

Zum Kreta-Roman von Mikis Theodorakis

Dieses Buch von Theodorakis ist keine Autobiographie im klassischen Sinn, sondern es gleicht eher einer romanhaften Reise durch die neuere Geschichte Kretas. Man wird beim Lesen dieses Buches sehr bald feststellen können, dass darin die faktische Biographie des Komponisten zwischen 1949 und 1952 kaum eine Rolle spielt. Viele wichtige Aspekte – wie z.B. die gesamte Militärzeit – werden überhaupt nicht berührt. Im Mittelpunkt von Theodorakis’ Erzählung steht die Insel Kreta mit ihrer Geschichte, ihren Mythen und ihren wundersamen, eigenwilligen und zum Teil grausamen Bewohnern.

So bekommen die historischen Ereignisse den Stellenwert einer schicksalhaften Macht, die den Einzelnen vernichten oder erheben kann – oder beides gleichermaßen. Das Buch beginnt im Mai 1949, kurz bevor der Bürgerkrieg – der die gesamte Handlung überschattet – mit der Zerschlagung der kommunistisch geführten »Demokratischen Armee« in den Bergregionen Nordgriechenlands zu Ende geht. Die Linke, zu der Theodorakis gehört, wird von diesem Augenblick an für die nächsten 25 Jahre geächtet und verfolgt sein und erst 1974, nach dem Sturz der Junta, langsam wieder in die griechische Gesellschaft integriert werden. Theodorakis gehörte nicht nur zu dieser Linken, sondern war seit Anfang der sechziger Jahre einer ihrer exponiertesten Vertreter. Das Buch „Die Wege des Erzengels“ ist unter diesem Gesichtspunkt sicherlich der griechischen »Dichtung der Niederlage« zuzurechnen. Es schildert den Moment der absoluten Desillusionierung, der Einsicht Hunderttausender Griechen, zu den Verlierern der Geschichte zu gehören. Der Einzelne, so auch der Ich-Erzähler, hat seine Fähigkeit zu handeln verloren – die Dinge, die er nicht mehr beeinflussen kann, widerfahren ihm.

Nichtsdestotrotz gleicht Theodorakis’ hier beschriebener Kreta-Aufenthalt mehr einem Traum, einer mythologischen Traumreise, bei der Dichtung und Wahrheit so eng beieinander liegen, dass es müßig wäre, sie trennen zu wollen. Therianos, der 100jährige Urgroßvater des Komponisten, und seine sagenumwobene Sippe, die verwunschene, künstlich erbaute venezianische Stadt Rodolino, die Begegnungen mit Charon, dem Tod, die blutrünstig ausgetragenen Rivalitäten zwischen den moslemischen und christlichen Bewohnern der Insel, die vor nichts haltmachende Blutrache-Mentalität der kretischen Männer – das alles entrückt die Handlung in eine Märchenwelt, allerdings als beklemmende Hardcore-Version.

1952, mit dem Abschied von der Insel Kreta, gehen Theodorakis’ “Lehrjahre” endgültig zu Ende und seine Reise in die Welt der Musik beginnt. Er schließt sein Kompositionsstudium in Athen ab, heiratet 1953 Myrto Altinoglou und nimmt 1954 ein Zusatzstudium am Pariser Konservatorium in der Klasse von Oliver Messiaen auf. Kreta spielt fortan eine entscheidende Rolle in seiner Weltanschauung – sowohl als musikalischer Topos als auch in der Mentalität einer anarchischen Lebenshaltung, bei der man sich von nichts und niemandem Vorschriften machen lässt. Im vorliegenden Buch steht deshalb nicht das curriculum vitae von Theodorakis im Mittelpunkt, sondern es ist vor allem eine Hommage an diese ungewöhnliche Insel und den ungebändigten Geist ihrer Bewohner.

© Asteris Kutulas

 

Mikis Theodorakis, Bis er wieder tanzt, Erinnerungen, Herausgegeben von Asteris Kutulas, Übersetzt von Asteris und Ina Kutulas, Insel Verlag, Frankfurt/M. 2001

sowie auch:

Mikis Theodorakis, Die Wege des Erzengels, Herausgegeben und übersetzt von Asteris Kutulas, Insel Verlag, Frankfurt/M. 1995

 

 

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