„Woran erinnert sich der reglose Rabe?“

Zur Komposition „Raven“ von Theodorakis

„Der Komponist Jannis Christou ist verunglückt. Das hat mich schwer mitgenommen. Der Tod ist blind und verantwortungslos. Ich griff wieder zu einem Seferis-Gedicht. Am 15. Januar 1970 beendete ich „Raven“. Mit Petros, meinem treuen Kameraden, veranstaltete ich die „Uraufführung“ in der Gefängnisküche. Wir zwei saßen an einem Tisch und musizierten mit einem Eisenstück und einer Bierflasche. Später ließen wir uns das Bier schmecken.“ (M.T., Januar 1970, Gefängnistagebuch)

Theodorakis vertont „Raven“ zwischen dem 7.1. und dem 15.1.1970 als Gefangener der Junta, ein „Chanson-fleuve“ mit tragischer Grundstimmung. Textgrundlage ist ein Gedicht nach Edgar Allan Poe des Literaturnobelpreisträgers Giorgos Seferis. Theodorakis widmet das Werk, damals noch Skizze, seinem Komponistenkollegen Jannis Christou.

„Ich erfuhr im Oropos-Gefängnis, dass Jannis Christou zusammen mit seiner Frau bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Unter dem Eindruck starker emotionaler Erregung komponierte ich ein Werk, das mir gestatten sollte, mit ihm zu kommunizieren und ihn in mir lebendig zu halten. Wie es scheint, fand ich in den Versen des „Raven“-Gedichts etwas dieser Situation Entsprechendes. Die Gestalt von Christou – wie ich sie im Gedächtnis hatte – manifestierte sich klanglich im lydischen Thema der Einleitung. Jedenfalls beherrscht der archaische lydische Charakter auch jenseits der Einleitung das ganze Werk.“ (M.T., 1993)

Das Werk wird zwanzig Jahre später in einer Orchestrierung von Jannis Zotos für Mezzosopran, 10 Instrumente und Chor am 23.4.1990 in Dresden uraufgeführt. Aber erst Ende 1993 – 23 Jahre nach der ersten Vertonung –, als Theodorakis von der „klassik komm“ in Köln um eine Uraufführung gebeten wird, macht er sich wieder an die Bearbeitung dieser Musik. So entsteht zwischen Anfang Dezember 1993 und dem 23.1.1994 die endgültige Fassung des Werks für Mezzosopran, Flöte, Harfe und Streichorchester.

„Ein innerhalb meines Gesamtschaffens in dieser Form herausfallendes Werk, eine Art musikalischer Traum, abgehoben, jenseits der Realität.“ (M.T., 1993)

Das siebenteilige Werk wird am 2.3.1994 im Konzerthaus Athen von Alexandra Papatziakou, dem Rundfunkchor Athen und dem Griechischen Rundfunkorchester unter der Leitung des Komponisten und einige Tage später in der gleichen Besetzung in Köln uraufgeführt. Außerdem dient es als musikalische Grundlage für eine Ballettfassung in der Choreographie von Vladimir Vassiliev, getanzt von Ilse Liepa am 30.1.1996, in der Bolschoi Oper Moskau, im Rahmen einer Maria-Callas-Gala.

Theodorakis hatte seit 1960 Gedichte von Seferis vertont, darunter den Megahit „Am Strand“ (Verneinung), obwohl der Dichter dem konservativen Lager angehörte und als Angehöriger des Diplomatischen Korps (1926-1962) eng mit allen Regierungen zusammenarbeiten musste, die Theodorakis politisch bekämpfte. Aber die Abneigung gegen die Obristen, die 1968 durch einen Putsch die Macht an sich rissen, brachte die beiden Männer zusammen. Eines der letzten Gedichte von Giorgos Seferis, 1971 kurz vor seinem Tod geschrieben, mit dem Titel „Verwitterte Inschrift“, besteht aus nur einer Zeile:

... Tote Wörter. Warum habt ihr sie getötet? ...

Die epigrammatische Kürze und der Titel, so kann man vermuten, sollen eine antike Tafel assoziieren, auf der die in pendelischen Marmor gehauenen Buchstaben, archaisch streng, dorisch, kaum noch zu entziffern sind. Doch meint der Dichter keine Urworte antiker Barbarei, sondern die Parolen der 1968 herrschenden Junta: „Griechenland Griechen Christenheit“. Und obwohl Seferis – vor allem in seiner Eigenschaft als Diplomat im Staatsdienst – zeitlebens jeder öffentlichen Stellungnahme ausgewichen war, wendet er sich im März 1969 mit einer offenen Erklärung gegen das Militärregime:

„Zwei Jahre sind bereits vergangen, da uns ein System aufgezwungen wird, das im krassen Gegensatz zu den Idealen steht, für die unsere Welt, für die so aufopferungsvoll auch unser Volk im letzten Weltkrieg gekämpft hat.“ (Giorgos Seferis, Erklärung)

Giorgos Seferis hatte „Raven“, dieses dunkle, mysteriöse Gedicht Anfang 1937 in der abgelegenen albanischen Stadt Koritsa verfasst, in der er von November 1936 bis Ende 1937 als griechischer Vize-Konsul arbeiten musste.

„Seit vier Tagen keine Zeitungen und keine Briefe. Die Straßen sind völlig verschneit. Rundherum schwanken die Bergesgipfel, die Augen sind müde. Draußen, auf dem weißen Feld Raben und auf den Straßen unentschlossene Holzfäller, mit einer geschärften Axt über der Schulter oder unter der Achsel ... Der Schlamm glänzt manchmal golden in der Sonne ... Die letzten Tage unerträglich. Müde von den immer gleichen Spaziergängen, dem immer gleichen Essen, den immer gleichen Gesichtern, den immer gleichen Worten.“ (Giorgos Seferis, Tagebuch, 17.2.1936)

Anfang 1970 wählt der kranke Theodorakis im Oropos-Gefängnis bei Athen jenes 33 Jahre alte Seferis-Gedicht, um seine Stimmung und seine Befindlichkeit auszudrücken:

„Jahre wie Flügel. Woran erinnert sich der reglose Rabe? Woran erinnern sich die Toten nahe den Baumwurzeln? Deine Hände hatten die Farbe des Apfels, der fällt. Und diese Stimme, die immer wiederkehrt, leise ...“

Usw. usf. (siehe das ganze Gedicht weiter unten) ...

© Asteris Kutulas

 

Mikis Theodorakis: Carnaval & Raven, Intuition Music 2003
Alexandra Gravas (mezzo) / St. Petersburg State Academic Capella Symphony Orchestra / Conducted by Mikis Theodorakis / Produced by Asteris Kutulas & Alekos Karozas




Giorgos Seferis
RAVEN
In memoriam E.A.P.

Jahre wie Flügel. Woran erinnert sich der reglose Rabe?
Woran erinnern sich die Toten nahe den Baumwurzeln?
Deine Hände hatten die Farbe des Apfels, der fällt.
Und diese Stimme, die immer wiederkehrt, leise.

Jene, die reisen, schauen zum Segel und zu den Sternen
sie hören den Wind hören noch weiter als der Wind das andere Meer
die verschlossene Muschel in ihrer Nähe, sie hören nichts
anderes, sie suchen nicht zwischen den Schatten der Zypressen
ein verlorenes Gesicht, eine Münze, sie forschen nicht
den Raben erblickend auf dem trockenen Zweig, nach seiner Erinnerung.
Er verharrt reglos auf meinen Stunden etwas weiter höher
Seele einer Statue, die keine Augen hat
eine Menge ist versammelt in diesem Vogel
tausend vergessene Menschen ausradierte Falten
vereinsamte Umarmungen und Gelächter ohne Ende
unfertige Werke stille Bahnhöfe
ein schwerer Schlaf aus goldenem Niesel.
Er verharrt reglos. Er sieht meine Stunden. Woran erinnert er sich?
Es sind viele Wunden in den unsichtbaren Menschen, in ihm
unvorstellbare Leiden, wartend auf die zweite Offenbarung
bescheidene Wünsche, die festklebten auf der Erde
ermordete Kinder und Frauen, die des Morgens überdrüssig.
Ob sein Gewicht zunimmt auf dem trocknen Ast ob sein Gewicht zunimmt
auf den Wurzeln des gelben Baumes auf den Schultern
der anderen Menschen, seltsame Gestalten
die nicht wagen, einen Wassertropfen zu berühren, die in der Erde Versunkenen
ob er schwerer wiegt auf irgendwas?
Deine Hände hatten ein Gewicht wie im Wasser
in den Meeresgrotten, eine leichte unbedachte Schwere
mit der Bewegung, mit der wir manchmal schlechte Gedanken verscheuchen
das Meer glättend bis zum Horizont zu den Inseln.
Schwer ist das Feld nach dem Regen; woran erinnert sich
die schwarze stehende Flamme am grauen Himmel
eingekeilt zwischen dem Menschen und der Erinnerung des Menschen
zwischen der Wunde und der Hand, verwundet von einem schwarzen Bajonett,
nachdem es vom Regen getrunken, wurde dunkler das Feld, der Wind ließ nach
mein Atem rettet nicht, wer wird ihn von dort fortbewegen?
zwischen dem Gedächtnis, Kluft – die überraschte Brust
zwischen den Schatten, die kämpfen, wieder Mann und Frau zu werden
zwischen Schlaf und Tod stehendes Leben.

Deine Hände machten eine Bewegung immer hin zum Schlaf des Meeres
streichelten den Traum, der ruhig hinauflief die goldene Spinne
brachten in die Sonne die Menge Sternbilder
die geschlossenen Lider die geschlossenen Flügel ...

Koritsa, Winter 1937

© Übertragen von Asteris Kutulas

 

 

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