Maro Seferiadi, die Drossel, das Licht des Meisters

16.4.1986, Athen. Frau Seferiadi erzählte mir, dass ihr Mann nie sehr gern über seine Dichtung sprach bzw. sie fast nie erklärte. „Nur ein- oder zweimal in seinem Leben hat er sich mal ausgestreckt und zu mir gesagt: So, jetzt bin ich so erschöpft, da kannst mich fragen, was du möchtest!"

Den Roman „Sechs Nächte auf der Akropolis" hält sie für das bedeutendste Buch von Seferis. „Noch nie hat meines Wissens ein Schriftsteller solch eine Liebesromanze, oder wie soll ich's anders sagen, solch eine erotische Erzählung geschrieben, frei von jeder Gehässigkeit. Er sagte immer: ‚Dieser Roman hat nichts mit uns zu tun. Er erzählt von der Zeit vor uns.' Es ist sein bedeutendstes Werk. Es sagt viel aus über ihn und sein Leben. Er schrieb dieses Buch in einer einzigen Woche runter, als ich mal nicht da war. Seferis hatte sich im Haus verkrochen. Die Köchin musste ihm das Essen aufs Zimmer bringen."

Frau Seferiadis' Hände – sie schämte sich ihrer, weil sie so „alt" aussahen, „seltsam, nicht wahr, sie zittern noch nicht, sind aber schon total verformt."


1987. Einmal im August, im großen Wohnzimmer, einem langgestreckten Raum, von dem aus drei große Fenster zur Straße gehen. Als erstes der Eindruck von den in einem hellen leuchtenden Blau gestrichenen Markisen, die das Zimmer gegen das grelle Licht und gegen die sengende Hitze abdunkeln, in der die Zikaden lärmen. Das wird in meiner Erinnerung hängen bleiben, und wie erstaunt bin ich, als nach vielen Jahren bei Suhrkamp „Sechs Nächte auf der Akropolis" erscheint und der Schutzumschlag genau diese Farbe hat, das Blau, das Seferis' Fenster füllte.

Bücherstapel. Frau Seferiadi machte eine Sendung fertig, stellte das zusammen, was aus dem Nachlass ihres Mannes an eine große Bibliothek gehen sollte. Vor der Bücherwand ein länglicher, flacher Tisch, dessen Platte aus einem Olivenbaumstamm geschnitten und nicht bearbeitet wurde. Ein kleiner Keramikuntersetzer, bemalt mit einem Fisch. Ein Aquarell von T.S.Eliot. Landschaft, Kiefern am Meer, der Sand. Das Wort „Sand" in meiner Erinnerung für immer mit Seferis verknüpft, der der Diktatur in Griechenland mit einer zärtlichen Handbewegung seinen Vers-Sand ins Gesicht schleuderte. Das Volk sang ein Liebeslied und die Obristen fürchteten sich - vor Namen, die der Wind mitnahm.

Gegen Mittag verließ ich das Haus mit den blauen Fensterläden, hinter denen ich Frau Seferiadi wusste, die mit ihren schönen gealterten Händen die Bücher ihres Mannes eins auf das andere legte. Blau-Silber-Seesand – Seferis' Fahne, gefaltet und wieder entfaltet, ausgebreitet in der Erinnerung.


*****

Bei Giorgos Seferis’ Beerdigung am 22. September 1971, zwei Tage nach seinem Tod, nahmen Hunderttausende Athener an der Prozession teil, die zu einer Kundgebung gegen die damals herrschende Junta wurde: offenbar lag hier ein Mißverständnis vor. Die wenigsten nämlich kannten den, den man gerade zu Grabe trug, als Dichter oder gar dessen Bedeutung für die neugriechische Literatur im 20. Jahrhundert – obwohl ihm 1963 der Literaturnobelpreis verliehen worden war; immerhin erschienen in den dreißiger Jahren die ersten fünf Gedichtbände von Seferis in einer Auflage von jeweils nur 50 bis 356 Exemplaren, die erst nach Jahren verkauft werden konnten, woran sich auch später nur graduell etwas änderte. Und auch als Politiker war er niemals durch irgendetwas in Erscheinung getreten, was solchen Zulauf hätte rechtfertigen können. Die Teilnehmer der Kundgebung sangen die 1932 geschriebenen Verse eines Mannes, den sie bis dahin kaum dem Namen gekannt hatten:

Nicht mehr lang
und wir werden die Mandelbäume blühen sehen
die Marmorsteine leuchten in der Sonne
des Meeres schäumende Wellen

Nicht mehr lang
– richten wir uns noch etwas weiter auf.

Dieses und einige andere von Mikis Theodorakis Anfang der sechziger Jahre vertonte Gedichte, sowie Seferis' 1969 verfaßte "Erklärung" gegen die Obristendiktatur hatten ihm unverhofft Popularität eingebracht. Dabei waren dieser "Erklärung", der ersten und letzten öffentlichen "politischen" Stellungnahme in seinem Leben, etwa vierzig Jahre Loyalität als Diplomat gegenüber allen - auch monarchistischen, faschistischen und ultrarechten – Regierungen von 1926 bis 1962 vorausgegangen, trotz seiner persönlichen Ablehnung einiger dieser Machtstrukturen. Wäre Seferis kein Dichter gewesen, der die "großen Ideen" (gemeint sind: Dogmen) von seinem Werk fernhalten wollte, "um nicht als Künstler zerstört zu werden" (13.5. 33) Seferis lebte in dieser Wirklichkeit als Diener "zweier Herren" (1.3.27), wie er sich selbst ausdrückte: Diener sowohl des Berufs (die „äußere Unterwerfung, die mich mein Leben lang verwunden wird") als auch seiner Berufung als Dichter, und er achtete auf die sorgsame Trennung von diplomatischem Beruf einerseits und Privatleben und Dichtung andererseits. Zu vergleichen eher mit dem Reformator Goethe als mit dem Rebellen Beethoven – ein vereinfachtes (nicht ganz stimmiges) Bild, das Seferis selbst in einem Brief an seinen Freund, den Schriftsteller Giorgos Theotokas, benutzte. Seferis bewegte sich Zeit seines Lebens, wie der Weimarer Dichter Goethe, fast ausschließlich im Umkreis des "Hofes", huldigte dessen Ritualen und genoß dessen Privilegien, was Theotokas im Vorwort zu seinem Briefwechsel mit Seferis sehr umsichtig beschreibt; Seferis’ "Rebellion" (oder wie er es sah: sein Schmerz) – mächtig für die einen, dürftig für die anderen, da sie sich in suggestiven dunklen Versen aussprach, wenn man an Texte wie "Drei geheime Gedichte" oder "Drossel" denkt – fand in seiner Kunst statt. Denn sein moralischer und patriotischer Anspruch war in keinem Augenblick seiner vierzigjährigen Beamtenlaufbahn mit der von der jeweiligen Regierung betriebenen Politik in Übereinstimmung zu bringen. Seferis blieb der Diplomatie verhaftet, was seine soziale wie poetische Optik beeinflußte, einengte und zugleich, im Bestreben aus dieser Enge auszubrechen, in andere – existentielle – Bereiche weitete. Seferis bezeichnete die Regierenden, seine Vorgesetzten, in Tagebüchern und Briefen gelegentlich als psychopathisch, verantwortungslos, verkrüppelt, engstirnig, durchtrieben und korrupt, bis er zur Schlußfolgerung kommt: "Du mußt zu einer Mumie werden, um das alles auszuhalten... Das Gefühl, in Schlamm zu waten... Ich muß ein für allemal begreifen: Ernsthaftigkeit und Politik sind zwei ihrem Wesen nach voneinander verschiedene Dinge." (18.11.1942)

Doch Seferis' Beamtentum provozierte nicht nur solchen Widerspruch, über den er sich wiederholt in seinen Tagebüchern und Briefen – in gewisser Weise selbstquälerisch – äußerte, sondern dieses Beamtentum bedeutete zugleich die ständige Versetzung von einem Ort zum anderen. London, Koritsa, Alexandria, Kairo, Johannesburg, Ankara, Beirut, London sind einige Stationen seiner diplomatischen Laufbahn zwischen 1931 und 1962. Nicht verwunderlich scheint daher, daß das Bild der "Reise" und das der "neugriechischen Diaspora" nach Ausbruch des 2.Weltkrieges den durchschimmernden Hintergrund für seine Gedichte und Essays abgeben. Positiv, nämlich wenn man das als einen wichtigen poetologischen Ansatz versteht, hat es am ehesten noch Henry Miller beschrieben, der Ende der dreißiger Jahre mit Seferis befreundet war; in seinem Buch "Der Koloß von Marussi" ist zu lesen: "Alles, was er betrachtete, war griechisch in einer Art und Weise, die ihm nicht vertraut gewesen war, als er sein Land noch nicht verlassen hatte."

Seferis' Suche nach "Griechenland" – "diese unentrinnbare Verlockung" (16.2. 1925) –, die 1931 mit seiner Versetzung als Botschaftsrat nach London begann, bestimmte bis zu seinem Tod Inhalt und Struktur fast aller seiner Gedichte und Essays. Da ihm aber eine Identifikation mit dem Staat, dem er diente, zu keinem Zeitpunkt möglich war, schien ihm auch eine Identifikation mit seinem Land unmöglich, das er nur durch das Raster seines vom Beruf okkupierten Alltags oder seiner theoretischen Studien zur Kulturentwicklung sah und in dem das Volk genauso korrumpierbar wie seine politischen Führer zu sein schien. Bei Seferis tritt das "Volk" nur zweimal als selbstbewußte Kraft in der neueren griechischen Geschichte auf: 1821, während des Aufstandes gegen die türkische Herrschaft, und im nationalen Befreiungskampf während des 2.Weltkriegs. Damit ist nicht gemeint, daß sich Seferis nicht als Grieche fühlte; er fühlte sich eher als einer der letzten "Menschen des Griechentums", die in Verbindung mit der "ewigen und vielgestaltigen griechischen Idee stehen", wie er Theotokas am 20.8.1932 schrieb. Das Gefühl der Einsamkeit und des Verlorenseins steigerte sich ins schier Unermeßliche: "Dieses Land, das uns verwundet, uns erniedrigt. Griechenland wird sekundär, wenn man an das "Griechentum" denkt. Alles, was mich hindert, an das Griechentum zu denken, soll untergehen", notierte er am 5.1.1938 in seinem Tagebuch, und etwas später, während Thomas Mann in den USA in seiner Rede über Arthur Schopenhauer der pessimistischen Gesinnung eine große Zukunft voraussagte, poetisierte Seferis eben diese Grundhaltung im Gedicht "Der letzte Tag" oder in der folgenden Tagebucheintragung: "Das, was sich am massivsten bemerkbar macht, ist dieses Faulende, der Gestank eines Kadavers, der dich zu ersticken droht – und die Hyänen, raushängende Zunge, schlaue erschrockene Blicke. In welchem Winkel dieser Welt ließe es sich noch leben?" (27.11.39)

Um dieses Gefühl von realer „Heimatlosigkeit“ – also die Sehnsucht nach dem realen Griechenland – verdrängen zu können, um eine wenigstens geistige Heimat zu finden, entwickelte Seferis Mitte der dreißiger Jahre das "Dogma des Griechentums", das losgelöst von den konkreten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen gedacht wurde, und die Vorstellung von einem "griechischen Volk", das es so wohl nur in der Anschauung des Dichters gegeben hat. "Hellenismus" nämlich, verstanden als "Auffassung von der menschlichen Würde und Freiheit, nicht als historischer Begriff". (5.1.38) Aus solch einem Impuls heraus – das spezifisch "griechische Element" in der neueren Literatur zu entdecken – entstanden vermutlich auch seine Reden zu Kostis Palamas und Angelos Sikelianos sowie der Essay zu Andreas Kalvos.

Der naive Maler Theophilos, auf den Seferis 1934 durch den Psychoanalytiker und surrealistischen Dichter Andreas Embirikos aufmerksam gemacht wurde, und General Makrijannis, der Mitte des 19. Jahrhunderts seine "Memoiren" verfaßt hatte, galten dem Dichter als Bürgen und DNA-Träger dieses "Dogmas". In ihren Werken – die für Seferis in einer Traditionslinie mit der antiken Klassik und dem, was er selbst noch schreiben würde, standen – nahm er echte Ergriffenheit wahr und unverfälschte künstlerische Vollkommenheit. Diese beiden Künstler erreichten seiner Meinung nach das, was für den Sensualisten Seferis die größte Aufgabe des Dichters darstellte: die Seele des Menschen zu berühren, ihn zu sensibilisieren. "Ich schreibe wie jemand, der sich die Pulsadern aufschneidet", steht am 7.9.1926 in seinem Tagebuch – was zumindest eine pathetische Umschreibung für den "existentiellen" Wert der Dichtung in seinem Leben ist.

Auf der anderen Seite – und auf einer anderen, d.h. literarischen Ebene – standen für Seferis jene drei Dichter, die den künstlerischen Anspruch in die neugriechische Literatur eingebracht hatten: Dionissis Solomos, Andreas Kalvos und Konstantin Kavafis – "unsere drei toten Dichter, die kein Griechisch sprachen" (Essays I, 63f.), mit denen Seferis sich zum Teil identifizieren konnte und mit deren Gedichten er sich sein Leben lang auseinandersetzte. Über Solomos hat Seferis zwar keine eigenständige Arbeit geschrieben, aber in fast jedem seiner Essays bezieht er sich auf ihn. Wie diese drei Dichter sprach auch Seferis zunächst "kein" Griechisch und lebte wie sie jahrzehntelang außerhalb Griechenlands. Vor allem Solomos und Kavafis hatten einen ähnlichen Prozeß der Suche und des Forschens nach einem ihrer Epoche adäquaten poetischen Ausdruck durchgemacht. Bereits 1925, nachdem Seferis fast sechs Jahre in Frankreich und England gewesen war, stellte er, kaum in Athen angekommen, fest, daß "die Aufgabe der Jüngeren" darin bestehe, "eine neue Sprache zu entwickeln" (25.7.25), und wiederholt verglich er sich selbst mit einem Handwerker. In der 1935 gegründeten Zeitschrift "Nea Grammata" veröffentlichte Seferis eine Reihe von Essays, in denen er sich einsetzte für: die gesprochene Sprache Dimotiki; einige Schriftsteller der älteren Generation wie Palamas und Sikelianos, die von manchen Kritikern als "überholt" bezeichnet wurden; die Präsentation von jüngeren griechischen Autoren wie Elytis und Andoniou, die sonst keine Artikulationsmöglichkeit gehabt hätten.

Dieses praktische und theoretische Ringen um eine neue dichterische Sprache ging einher mit einem ausgiebigen Studium der englischen und vor allem der französischen Moderne. Seine Schwester Ioanna Tsatsou berichtete, mit welcher Ausdauer und Beharrlichkeit Seferis 1927/28 ein Kapitel aus Valerys’ "Monsieur Teste" übersetzte und dabei an seinem eigenen Stil feilte, "einem einfachen Stil" – so schrieb sie – in der Dimotiki (der gesprochenen Volkssprache), neben sich die Bücher von Solomos und Makrijannis. Seferis, nach dessen Auffassung der Mensch sich im Stil offenbart, entdeckte sein Griechenland zunehmend im griechischen Wort. Als er 1931 bzw. 1935 seine Gedichtbände "Wende" (1931) und "Mythistorima" (1935) herausbrachte, hatte er die Erneuerung der dichterischen Sprache nicht nur angestrebt, sondern sie auch erreicht. Der Pomp, das Pathetische und Überschwängliche, das es in den Texten der bis dahin maßgeblichen Dichter Palamas, Sikelianos und ihrer Epigonen gegeben hatte, war einem prosaischen, kompakten, gestischen Ausdruck gewichen. Im Gegensatz zur Manier der Neo-Symbolisten Uranis, Agras, Lapathiotis und den Anhängern der Strömung des Kariotakismus, die vor allem 1928, nach dem Selbstmord von Kostas Kariotakis dessen Weltverneinung als poetisches Lebensgefühl übernahmen, nicht aber dessen literarische Qualität, befreite Seferis seine Dichtung von jedem unnötigen Ballast und reinigte sie von jedweder "Ästhetisierung". An die Stelle der bis dahin üblichen Dithyramben auf Liebe, Natur und Nation trat eine pessimistische Grundstimmung, die das, was man „Modernes Bewußtsein“ oder „Tragische Weltanschauung“ nennt, in poetischen Bildern verdichtete. Eingang ins Gedicht fanden Tagebuchaufzeichnungen, Zitate, Träume, Schilderungen der Probleme des Dichters beim Verfassen des Gedichts, Fragmente aus anderen Gedichten. Ähnlich assoziativ entstanden auch viele Essays, von denen einige aus Tagebüchern kompiliert wurden. Und nur, weil Seferis sich nicht an die (auch eigene) theoretische Forderung nach dem spezifisch "griechischen Element" in der Dichtung gehalten hat, sondern sich nach den Standarts der "Weltpoesie" richtete, blieb seine Dichtung auch nach 1940 substantiell, als sich jüngere Dichter wie Sinopulos und Anagnostakis zunehmend gegen das "Dogma des Griechentums" auflehnten, weil sie für ein solches keine Notwendigkeit sahen.

Der große Unterschied zur bisherigen poetischen Praxis in Griechenland – mit Ausnahme von Kavafis', der aber in Ägypten gelebt hatte und in Griechenland aus mehreren Gründen noch unbekannt war – zeigt sich auch darin, daß Seferis bei keinem zeitgenössischen griechischen Dichter Anfang der dreißiger Jahre ähnliche Bestrebungen oder Tendenzen wie in seinen Schaffen erkennen konnte, wohl aber bei T.S. Eliot, dessen Gedichte er 1931 kennenlernte, was ihn zu der Feststellung veranlaßte, Eliot sei der erste Dichter, den er beeinflußt habe. Und während Eliot seine apokalyptischen Bilder im "Wüsten Land" der Großstädte angesiedelt hatte, beschrieb Seferis im Gedicht "Argonauten" die als utopielos empfundene Welt mit der Metapher des auf den uferlosen Meeren umhertreibenden modernen Ulysses:

Was suchen denn unsere Seelen reisend
auf verfaultem Meergehölz
von Hafen zu Hafen?

– um vielleicht damit über sein eigenes Unterwegs-Sein zu reflektieren. "So verbringen wir unser gesamtes Leben, an ein paar Planken geklammert, die früher zu unserem schönen Schiff gehörten", steht in einem Brief von 1923 an seine Schwester Ioanna, und die einzige Hoffnung, die Seferis sein Leben lang nährte – "den Menschen zu finden, wo er auch ist", so formuliert in seiner Nobelpreisrede von 1963 –, versuchte er sich durch das Auswerfen der "Flaschenpost", in die er seine Gedichte steckte, zu bewahren.

So wäre also – im besten Fall – die zunehmende Anerkennung seiner Dichtung und jene Manifestation anläßlich seiner Beerdigung doch kein Mißverständnis gewesen, sondern die Konsequenz seiner Suche nach "Griechenland", bis ihn Griechenland zur Stunde des Todes selbst fand. Daß er die Obristen ebenso wenig wie die Regierungen zuvor in Übereinstimmung mit seiner Auffassung von „Griechenland“ sah, machte er nicht nur mit seiner "Erklärung" von 1969 deutlich: Aus Protest gegen die Junta veröffentlichte Seferis seit dem Putsch 1967 nichts mehr in Griechenland und lehnte am 27.12.1967 in einem (nicht-offenen) Brief an Franklin Ford von der Harvard-Universität das Angebot zu den berühmten Poetik-Vorlesungen für das akademische Jahr 1969/70 mit einer Begründung ab, die seinen Standpunkt und seine Tragik eindeutig umreißt: "Ich gehöre keiner Partei an, weder der Rechten noch der Linken. Ich beschäftige mich ausschließlich mit schöpferischer Arbeit; und genau hier beginnen die Probleme. Wie Sie wissen, ist seit dem vergangenen Frühling in meinem Land eine Zensur verhängt; und ich denke, daß das geschriebene Wort ohne die Freiheit des Ausdrucks nicht gedeihen kann; ich meine nicht nur meine eigene Freiheit, sondern auch die Freiheit eines jeden andern, meine Ideen zu bekämpfen (...) Wenn es im eigenen Land keine Freiheit des Ausdrucks gibt, dann gibt es sie nirgendwo auf der Welt. Der Zustand des Selbstexilierten gefällt mir nicht; ich will aber bei meinem Volk bleiben und sein Schicksal teilen."

© Asteris Kutulas

 

Das von Frau Seferiadi kommentierte Buch haben wir tatsächlich fast zehn Jahre später übersetzen und veröffentlichen können:

Giorgos Seferis, Sechs Nächte auf der Akropolis, Herausgegeben und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas, Übersetzt von Asteris und Ina Kutulas; Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1995

Das im Text kolportierte Lied ist der Song „Am Strand", Text: George Seferis, Musik: Mikis Theodorakis, der - wie alle Theodorakis-Lieder - während der Junta-Zeit (1967-1974) verboten war.

Die Beziehung von Seferis zu T.S.Eliot kann man sehr schön in einigen Essays des folgenden Bandes nachlesen:
Giorgos Seferis. Alles voller Götter. Essays, Herausgegeben, übersetzt, mit Nachwort, Anmerkungen und Register von Asteris Kutulas; Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1990

 

 

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