„Schüsse im Winter waren besonders laut“

Mauer Fall Gespenst Freiheit


Eine fünfundsechzigjährige aufgeweckte Frau erzählt einigen Schülern vom Berliner Theresien-Gymnasium, dass ihr Sohn Chris in der Nacht des 5. Februar 1989 beim Versuch, die Berliner Mauer zu überwinden, erschossen wurde. Die Frau spricht mit ruhiger Stimme, mehr als zwanzig Jahre später, im Oktober 2009 – wie im Zeitraffer schmilzt die Zeit zusammen, und etliche der 18jährigen Schüler beginnen sich allmählich zu fragen, was es heißt, vor solch einem Dilemma zu stehen: zu fliehen oder zu bleiben, zu schweigen oder zu schreien, zu schießen oder nicht zu schießen, etwas zu riskieren oder stillzuhalten.
Karin Gueffroy, die Mutter, reiste an jenem 5. Februar 1989 von Rostock zurück nach Berlin; mit ihrem Sohn war sie für den nächsten Morgen zum Frühstück verabredet. Als sie sich schlafen legte, hörte sie – wie schon seit Jahren immer wieder – von der nahe gelegenen Grenzanlage am Baumschulenweg Schüsse herüber hallen. Karin Gueffroy wusste nicht, dass ihr Sohn in diesem Augenblick von zehn Kugeln getroffen worden war. Die Frage, was „Unrecht“ bedeutete zu DDR-Zeiten, was die Menschen damals als „Unrecht“ empfanden, schwingt immer mit, wenn Karin Gueffroy von der „Grobheit des Staates“ spricht, der sie nach diesem „Zwischenfall“ ausgesetzt war. Die schließlich dazu führte, dass junge Stasi-Beamte sie, die Mutter, Verständnis heischend, fragten: „Und was macht man mit jungen wilden Pferden, die sich nicht zähmen lassen, Frau Gueffroy? ... Man erschießt sie.“

Der Doktrin nach lebte man in der DDR in einer „gerechten Gesellschaft“, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beendet worden war. In der „Geld keine existenzielle Rolle spielte“, in der die soziale Grundversorgung des Menschen garantiert wurde. In der es kein Privateigentum an Produktionsmitteln und keine Arbeitslosigkeit mehr gab und man „gemeinsam“ als „Volk“ siegesgewiss in die Zukunft blicken konnte. Lebte man in der DDR, stand man auf der „guten Seite“. Das „Böse“, der Kapitalismus, war „drüben“, längst überholt, er gehörte zum alten Eisen der Geschichte.
Etwas fehlte allerdings. Dieses Milligramm, das mehr und mehr Menschen vermissten, hieß „Freiheit“: Redefreiheit, Reisefreiheit, Konsumfreiheit – was auch immer ... Es trug entscheidend dazu bei, dass letztendlich sehr viele DDR-Bürger im Kapitalismus die erstrebenswertere Gesellschaft sahen. Das Erlebnis „Mauer“ spielte bei dieser Sicht auf die Dinge eine entscheidende Rolle: der „antifaschistische Schutzwall“, ein Bollwerk, von dem es hieß, es sei gegen den äußeren Feind gerichtet, errichtet gegen die Bedrohung aus dem Westen, gegen Kriegstreiber, Menschenhändler, Kriminelle; ein Bollwerk, das vor allem aber dazu diente, die Menschen auf der Seite der Mauer, wo die Sonne aufging, vor sich selbst zu schützen, vor ihren eigenen Gedanken, Ideen, Worten, Begehrlichkeiten. Eine „Diktatur unter humanem Deckmantel war das“, bemerkte Karin Gueffroy und wusste sofort, dass es schwer werden würde, den jungen Menschen, die ihr heute, 2009, zuhörten, die Dimension dieses Satzes begreiflich zu machen.

... und morgen fressen wir die Mauer auf, vielleicht

War es Appetit auf Schokolade oder der Wunsch, dass alle zu essen haben, die tägliche Milch, Lippenstifte, gesunde Farne in den Städtischen Gewächshäusern, Bananen & Kaugummi oder am besten two in one, Aufkleber, Lederturnschuhe, freie Fahrt, verschiedene Sorten Bohnenkaffee, das bezahlte Mütterjahr, Lernpatenschaften, eine Reise dahin, wo Palmen wachsen, Edelpilzkäse, Telefon, Filzstifte in vielen verschiedenen Farben, Seife, mit der man einen ganzen Schrank beduften konnte, war es das Marodmorbide, ein ungeheuerlich bissiges Fernweh, das man sich nicht aus den Rippen zu schneiden vermochte, war es das Vorwärts, das Nichtvergessen, Rosa Extra, Flotte Lotte, Joker, Fetzer und Bambina, Pittiplatsch und Schnatterinchen, politische Plattformbildung und die Auszeichnung für gutes Lernen in der sozialistischen Schule. War es Hunger, war es Durst, Überlebensangst, Vergreisungspanik, Besäuglingsphobie...

„Im Osten geht die Sonne auf – im Westen geht sie unter“, das war klar gestellt und die Mauer eine Bruchstelle zwischen zwei Gesellschaftssystemen. Diese unnatürliche Entzweiung eines Volks sollte über kurz oder lang unerwünschte Folgen haben, als das Wünschen schon nicht mehr viel half: Die „Diktatur des Proletariats“ verlor gegen die „Diktatur des Kapitals“, einfach weil letztere dem Einzelnen mehr Möglichkeiten zum Konsum und mehr Freiheit bieten konnte – dem hatte die „Diktatur des Proletariats“ nichts entgegenzusetzen. Im Osten wurde versucht, ab 1973 den „Konsum“ als neue Staatsdoktrin zu installieren, den Kapitalismus auf eigenem Terrain zu schlagen, und die Losung ausgegeben: „Ich leiste was, ich leiste mir was.“ Aber den Kapitalismus überholen, ohne ihn einzuholen, wie Walter Ulbricht es in totaler Verkennung der Lage verlangt hatte – das war nicht zu schaffen. Man hechelte ihm wie einer Fata Morgana hinterher, spielte ihm somit in die Hände und schlug sich dabei à la Honecker heldenhaft auf die Brust: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“

Der Sozialismus scheiterte, weil er ökonomisch bankrott ging, er scheiterte jedoch auch als „Utopie“ – aber nicht wegen der Probleme, die es im Sozialismus zuhauf gegeben hat, sondern wegen der Art, wie mit ihnen ideologisch und politisch umgegangen wurde. So war es obskur, eine bestimmte Realität um sich herum zu haben und in den DDR-Massenmedien niemals diese Realität zu finden. Ebenso obskur, dass einige wenige vergreiste, bis auf die Knochen kleinbürgerliche und ungebildete Herren sich das Recht nahmen, „ihrem“ Volk vorzuschreiben, wie es zu denken, was es zu lesen und wie es zu leben hatte. Dieselben Herren maßten sich an, den „sozialistischen Alltag“ nach Gutdünken regulieren zu können, obwohl sie seit Jahrzehnten jeden Kontakt zu eben diesem Alltag verloren hatten. Und so wurden sie, die mit dem Argument des „Antikommunismus“ jede Kritik an ihrer Politik im Keime erstickten, selbst die größten Antikommunisten und Totengräber einer millionenfachen Hoffnung und eines großartigen gesellschaftlichen Entwurfs.

Die DDR-Führung war schlichtweg unfähig, das vielgepriesene Volkseigentum effektiv zu verwalten und zu mehren; die Wirtschaft nach vierzig Jahren DDR völlig marode, sie brach zusehends in sich zusammen. „Meine Hand für mein Produkt“, so hieß es auf Plakaten – und die Menschen im ganzen Lande spöttelten: „Dann hätte so mancher schon keinen Arm mehr“. Satt hatte man dieses ganze System mit seinen „Aktivisten“ und seinen „Verbesserungsvorschlägen“, die dazu dienen sollten, den West-Kaffee und die West-Jeans nachzuahmen, abzukopieren, neu zu erfinden. Die Menschen in Honiwood entschieden sich letztendlich für das Original. Der Himmel war geteilt und die Hoffnung schon lange in den Spalt zwischen den Hälften gefallen. Schließlich fiel 1989 auch die Mauer – unter anderem und vor allem, weil die Ost-Bürger die Westmark haben wollten, mit all ihren Verheißungen...

... weder im Osten noch im Westen waren wir, vielleicht

Es kannten alle das Märchen vom Land hinter dem Riesengebirge aus Puddingbrei, in dem einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, die Würste und Brezeln von den Bäumen hängen und wo in den Bächen Cola und Limonade fließen. Das Interessanteste an diesem Märchen war allerdings nicht, was hinter und vor dem Puddingbrei-Riesengebirge lag, sondern war dieses Gebirge an sich, das man erst einmal zu überwinden hatte, bevor man von der einen auf die andere Seite gelangte. Die Mauer war so etwas wie dieses merkwürdige Gebirge. Der Matschpudding das eigentümliche Phänomen, mit dem wir es immer wieder aufnahmen beim Match der Matschos. Mit den Jahren wurde der Brei nicht weniger, sondern eher mehr. Eine süßliche, wabernde Masse, die einem schon morgens das Maul und die Ohren zu stopfen drohte. Freiheit des Wortes. Die hatten wir zu verteidigen gegen das Sandmännchen, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl, den Schokomohr, Mao, Maoam, Haribo, Hari Krishna, Baumwollbatist, Batista, Mars, Venus, Guevara, Guarana, Nesquick und Nesslow, die Waschmittelmatrone, gegen Stalin und Winnetou, gegen das Neue Deutschland und die Hörzu. Wer behauptet, wir seien im Osten gewesen, hat keine Ahnung. Wer meint, wir seien im Westen gewesen, irrt. Wir waren weder hüben noch drüben, denn für uns gab es kein Hüben und Drüben. Wir waren in der Mauer, im Gebirge, im Puddinghaufen und wussten: Die Weisheit, sie ist mit Löffeln nicht zu fressen. Zu jedem Topf gibt’s auch den falschen Deckel, zum Brei den Wolfshunger, Wissenshunger. Ein Wunder, dass wir nicht erstickt sind. Wir waren ... was heißt: wir waren ... Wir sind. Der mit dem Hunger tanzt.

Karin Gueffroy war zu DDR-Zeiten ein „unpolitischer“ Mensch, lebte „unbescholten“ im sozialistischen Brutkasten, bis ihr der Tod des Sohnes widerfuhr. Diese Tragödie veränderte ihr Leben und rüttelte sie auf, verlangte nach einer Reaktion der DDR-Bürgerin und Mutter. Die Stasi-Leute sagten ihr, ihr Sohn habe eine militärische Anlage angegriffen und sei dabei unglücklicherweise ums Leben gekommen. Sie brauche sich aber keine Vorwürfe machen, denn schuld an dieser misslichen Situation sei allein der Sohn. Zwei Tage nach dessen Tod war der Leichnam heimlich und selbst ohne Wissen der Mutter um 00:45 nachts in einem Krematorium eingeäschert worden. Wenn man Karin Gueffroys Ausführungen folgt, begreift man die Leipziger zu Zeiten der Montagsdemos im September/Oktober 1989, die bebend vor Angst Plakate hochhielten, mit der Aufschrift: „Wir haben keine Angst“.

Ein Schüler reagiert betroffen auf Karin Gueffroys Ausführungen und bedauert, dass in der Schule nicht so ausführlich die vor allem in manchem Familienkreis inzwischen schon wieder verklärte DDR-Geschichte behandelt wird. Karin Gueffroy wirkt in diesen Momenten etwas hilflos: Sie hat ihre ganz private Geschichte zu erzählen, und obwohl die Frau emotional beherrscht wirkt, erkennt man ab und an, dass Wut in ihr hochkommt.

Tatsächlich ist es unbegreiflich, wie Erich Honecker, der zu DDR-Zeiten in Wandlitz heimlich seine West-Pornos guckte und nach dem Fall der Mauer die demokratischen Errungenschaften der Bundesrepublik ganz selbstverständlich und ohne Scham in Anspruch nahm, seine Ausreise nach Chile 1993 mit den Worten begründete: „Es ist doch das Normalste dieser Welt, dass der Vater zu seiner Tochter reist“. Genau dieses Recht hatte er jahrzehntelang den DDR-Bürgern vorenthalten und auf alle, die sich dieses Recht nehmen wollten, schießen lassen. Aber auch Pornos waren in der DDR verboten – sie waren mit der „sozialistischen Moralauffassung“ nicht vereinbar. Im Nachhinein wirkt es ziemlich kurios, ja wie eine Marotte der Geschichte, dass sich die Altherrenriege, die die DDR regierte – die Honeckers, Sindermanns und Mielkes –, über Jahrzehnte als Inkarnation der sozialistischen Revolution und als Sachwalter des kommunistischen Ideals präsentierte – und, in diesem pervertierten Glauben gefangen, von der eigenen Unfehlbarkeit überzeugt war.

Karin Gueffroys eigene Geschichte erzählt von einem tragischen Einzelschicksal, an dem das Menschenverachtende des DDR-Systems besonders deutlich wird. Und an dem sich zeigt, wohin eine Gesellschaft driftet, die sich nicht auf die Herzen und den Verstand vieler Millionen Menschen verlässt – die zum Teil mit Hoffnung und Zuversicht in den fünfziger Jahren zum „Sozialismus“ aufgebrochen waren –, sondern im kleinbürgerlichen Morast einer Handvoll machtbesessener und rücksichtsloser Potentaten versinkt. Karin Gueffroy erwähnte nebenbei, sich an die Nacht vom 5. zum 6.2.1989 erinnernd, als ihr Sohn erschossen wurde: „Schüsse im Winter waren besonders laut“ – eine Feststellung, die schlaglichtartig das Leben eines Landes und ein ganzes System erhellt, das vor zwanzig Jahren untergehen musste. Chris Gueffroy war das letzte Todesopfer an der Berliner Mauer, das durch Waffeneinsatz ums Leben kam.

© Asteris Kutulas
(mit zwei poetischen Einschüben von Ina Kutulas)

 

 

 

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