DDR, sie lebe hoch!

WENN DU ES ANDERS SAGEN KÖNNTEST ...
Asteris Kutulas im Gespräch mit Wolfram Kempe
27. November 1988, Eggersdorf-Süd (DDR)


Das folgende Gespräch mit meinem Freund Wolfram Kempe, das ich hier zum ersten Mal veröffentliche, fand ein Jahr vor dem Fall der Mauer statt und zeigt ziemlich prägnant wie viele aus unserem Umkreis damals dachten und worüber wir uns so unterhielten.


Kutulas: Ich hab hier so einen Satz übersetzt: „Man kann mit Fug und Recht unsere Generation als eine enttäuschte Generation bezeichnen, nicht nur als eine, die um ihre Hoffnungen betrogen wurde, sondern auch als eine, die mit falschen Hoffnungen aufzuwachsen genötigt war." Würdest du sagen, dass das auch für dich zutrifft?

Kempe: Prinzipiell ja, aber man muß vielleicht noch hinzufügen, daß ein wesentliches Moment dabei ist, daß wir überhaupt erst begreifen mußten, daß viele der Hoffnungen, die wir hatten, falsche waren.

Kutulas: Zum Beispiel?

Kempe: Die Hoffnung auf den freien Sozialismus zum Beispiel. Wenn ich mich daran erinnere, wie wir aufgewachsen sind und wann und wie uns das erste Mal die Sache mit dem Sozialismus verkauft worden ist ... diese Hoffnung ... da war ja von einer Naherwartung die Rede. Daß sich das alles nach hinten hinausschiebt, daß das ein Prozeß ist, der hundert Jahre dauern kann und dessen Ende wir alle nicht mehr erleben, davon war ja nie die Rede, als diese Hoffnungen in uns reingebastelt worden sind. Was diesen Sozialismus anbelangt. Das war ja auch das verkehrte Selbstverständnis der Gesellschaft in den sechziger und siebziger Jahren, mit dem wir erstmal umgehen mußten in uns, weil wir es als Kinder verinnerlicht hatten.

Kutulas: Aber der Bruch kam ziemlich schnell. Ich meine, es gibt sicher eine ältere Generation auch von Schreibenden, bei denen kam der Bruch dann nach zehn, zwanzig, manchmal dreißig Jahren und bei manchen hat es allerdings nicht mal bis jetzt einen Bruch gegeben.

Kempe: Bei Ersteren kam es zum Bruch auf einem ganz anderen Weg: innerhalb der Auseinandersetzung um Literatur, und bei uns kam es oft völlig jenseits von Literatur zum Bruch, also im praktischen Leben, innerhalb der Gesellschaft selbst, wenn man so sagen kann.

Kutulas: In der Auseinandersetzung mit dem Umfeld?

Kempe: Ja. In den ersten Auseinandersetzungen mit dem Umfeld.

Kutulas: War das schon bewußt herbeigeführt? Oder war das auch ein Prozeß? Gab es bereits ein Bewußtsein davon, daß diese Enttäuschung oder daß diese nichtrealisierbare Hoffnung eines nahen Sozialismus auf einmal da war, oder war das auch ein Prozeß des langsamen Bewußtwerdens, so dass das zu einer Enttäuschung wurde?

Kempe: Das war natürlich ein Prozeß des langsamen Bewußtwerdens, aber dieses langsame Bewußtwerden ergab sich natürlich aus vielen einzelnen Enttäuschungen: also zum Beispiel wenn man anfing, eine, irgendeine dieser Hoffnungen, die man hatte, oder irgendeine dieser Vorstellungen, die sich mit dem Wort Sozialismus und der Naherwartung des Sozialismus verbanden, beim Wort zu nehmen und umzusetzen, dann gabs immer einen Knall, und so ...

Kutulas: Also in der Schule, im Beruf oder wie?

Kempe: Vor allen Dingen in der Schule. Für mich vor allen Dingen in der Schule.

Kutulas: Schon sehr bald? Also in einer frühen Phase oder erst später?

Kempe: Mit sechzehn. Und dann sehr schnell innerhalb von einem oder zwei Jahren.

Kutulas: Und was war da das auslösende Moment, in der Schule?

Kempe: Daß ich begriff, daß es offenbar noch nicht so ist, daß man äußern kann, was man will.

Kutulas: Wieso? Hatte das jemand gesagt?

Kempe: Ja, meine Staatsbürgerkundelehrerin in der siebten Klasse, die in meiner Geschichte vielzitierte.

Kutulas: In welcher Geschichte?

Kempe: Na, in der vom "Vorläufigen Ende einer Figur", die Staatsbürgerkundelehrerin.

Kutulas: Ach so. Alles klar.

Kempe: Also das ist das, was ich da versuche, zu umschreiben: Die gebratenen Tauben dürfen jetzt endlich in Kopfhöhe durch die Luft fliegen. Die Vorstellungen von Sozialismus, an die ich mich noch sehr deutlich erinnere, waren wie Beschreibungen eines Schlaraffenlandes.

Kutulas: Und dieser Eindruck ist bei dir nicht erst jetzt im Nachhinein entstanden? Das war wirklich in der Schule so vermittelt für dich?

Kempe: Ja, das war wirklich so, wie ich es verstanden habe. Das ist das Gefühl, das ich ...

Kutulas: Na, das ist ja auch das Wichtigste ...

Kempe: ... als ich dann nachgegraben habe, das Gefühl, das heraus kam, also das, was ich assoziiere, wenn ich an den Staatsbürgerkundeunterricht in der siebten Klasse denke. Das war 1974.

Kutulas: Obwohl das ein sehr kühner Vorgriff ist: Hatte das einerseits auch etwas mit deinem Verständnis von Sprache zu tun oder damit, daß man nicht sagen durfte, was man dachte und andererseits möglicherweise auch mit der Unzulänglichkeit der offiziellen Sprache, Dinge zu benennen, die man sah oder die man erlebte, also mit einer Nichtsprache, denn diese Dinge wurden ja überhaupt nicht benannt – hatte das irgendwie bei dir als Künstler zu irgendeiner Auseinandersetzung mit Sprache geführt, zu Sprachbehandlung? Oder hat dich dieses Problem nicht tangiert? Es gibt ja Literaten, die dann sagen, daß mit Sprache nicht mehr zu arbeiten sei im traditionellen Stil, auch deswegen. Auch wegen der Enttäuschungen, die sie mit Sprache oder über Sprache erlitten haben.

Kempe: Es hat natürlich meine Sprache geformt, aber in einem mittelbareren Zusammenhang. Diese Erlebnisse mit Sprache, mit dem, was gesagt wird und daß sich vieles von dem, was gesagt wird, als Lüge oder als Halbwahrheit oder als Methode zum Verschweigen der Wahrheit herausstellt – das hat sich festgesetzt in meinem Kopf als Erfahrung mit Sprache, das ist richtig. Und das hat mich sicherlich dahin gebracht, auch so etwas zu machen, d.h. über Dinge zu reden und gleichzeitig ganz andere Dinge zu meinen. Also mehr mit Metaphern zu arbeiten als mit direkter Sprache. Auch grade in der Prosa. Also Vorgänge als Parabeln kenntlich zu machen, weil ich das, was ich eigentlich sagen will, aufgrund einer Erfahrung, ja wenn du so willst: einer Grunderfahrung, meine, nicht sagen zu können.

Kutulas: Anders nicht sagen zu können.

Kempe: Anders nicht sagen zu können.

Kutulas: Wenn du es anders sagen könntest, müsstest du keine Literatur schreiben?

Kempe: Unter Umständen ja.

Kutulas: Aber dich anders auszudrücken, hast du ja nie getan. Ist das nicht interessant? Oder hast du es nie gelernt?

Kempe: Doch natürlich, in Briefen. Also in der ganz privaten Kommunikation.

Kutulas: Und warum sagst du, daß du keine Essays schreiben kannst? Essay ist doch, etwas direkt auszusprechen, und wenn man dir die Chance gibt, einen Essay zu schreiben, sagst du: du hast noch nie einen geschrieben, du weißt nicht, ob das deine Sache ist. Ich nahm an, du willst das tun ...

Kempe: Wenn ich sage: ich weiß nicht, ob ich einen schreiben kann, heißt das zweierlei. Erstens: ich weiß nicht, ob ich intellektuell dazu in der Lage bin, einen Essay zu schreiben. Die andere Frage ist, ob ich das tun muß, einen Essay schreiben, oder ob ich nicht lieber das tun sollte, von dem ich glaube, ich könne es besser: Geschichten schreiben nämlich.

Kutulas: Denkst du vielleicht, daß diese Geschichten gültiger sind, anstatt daß man etwas so benennt, wie es ist?

Kempe: Das versteh ich nicht.

Kutulas: Na, daß die künstlerische Aufarbeitung der Realität viel allgemeingültiger ist als ein Aussprechen dieser Realität.

Kempe: Na ja, das ist aber doch das, was ich sage, oder? Mißverstehen wir uns jetzt?

Kutulas: Ja. Aber du hast vorhin gesagt, daß du unter Umständen, wenn du Dinge beim Namen nennen könntest, keine Prosa schreiben würdest.

Kempe: Nee, andersrum. Man müßte es vielleicht einschränken: Ich hätte nie gelernt, Prosa zu schreiben. Nun schreib ich aber halt Prosa; also das ist ja ein Prozeß ...

Kutulas: ... darauf wollte ich hinaus...

Kempe: ... über den wir sprechen, der so zwölf, fünfzehn Jahre überstreicht, und da ist dann irgendwann ein Punkt gekommen, wo eine neue Qualität entstanden ist. Nun schreib ich Prosa und nun mach ich eben das.

Kutulas: Jetzt verkürze ich mal: Also diese Desillusionierung in der Schule hat dich dazu gebracht – oder sagen wir mal: diese Desillusionierung, die darin bestand, daß du Dinge nicht beim Namen nennen durftest, konntest, hat dazu geführt –, daß du nach einer anderen Sprache gesucht hast, um diese Dinge trotzdem ausdrücken zu können. Ist das so eine Art für dich – also ich frage, ob das so eine bewußte Sache war: das Bestehen auf dem aufrechten Gang?

Kempe: In dieser Verkürzung: Ja. Es kommt noch was anderes dazu: Es ist natürlich nicht nur die Erfahrung von Schule als solche, das ist nicht die einzige Erfahrung: diese Erfahrung von Schule und der Vermittlung gesellschaftlicher Werte und Normen, die dann eigentlich nicht stimmen, wo Scheinmoral da ist – dazu kommt ja dann, was zumindest genauso wichtig ist: was ich danach tat, mit sechzehn: im Krankenhaus arbeiten.

Kutulas: Du bist mit sechzehn von der Schule geflogen.

Kempe: Ja.

Kutulas: Von der Erweiterten Oberschule?

Kempe: Ja.

Kutulas: In Magdeburg?

Kempe: In Schönebeck bei Magdeburg.

Kutulas: Und du warst arbeitslos?

Kempe: Ja. Ich wollte dann Elektriker werden, wollte ne Lehre machen, aber das wäre nicht gegangen. Ich hab keine Lehrstelle gekriegt in der Stadt, ich habe keine Arbeit gekriegt in der Stadt, nichts, gar nichts – es war so um Weihnachten rum –, und ich habe dann an meinem siebzehnten Geburtstag angefangen, im Krankenhaus zu arbeiten. Nee, kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag, als Hilfspfleger. Weil: das war das einzige Reservat, in das ich durfte.

Kutulas: Und wie lange warst du dort?

Kempe: Erst ein halbes Jahr und dann danach wieder, nachdem ich eine Lehre als Chemiefacharbeiter gemacht und ein Jahr in dem Beruf gearbeitet hatte. Mit zwanzig dann.

Kutulas: Und diese Erfahrung war noch mal grundlegend für dich? Nach der Erfahrung in der Schule.

Kempe: Ja. Diese Erfahrung, aber auch die Erfahrung des Arbeitens selber. Also zu sehen, daß offenbar diese einheitliche Welt, daß dieses monolithische Bild von Welt, also zumindest von DDR, das vermittelt worden ist in der Schule, daß das überhaupt nicht stimmte. Sondern daß es viele kleine Nischen gab, wenn du so willst, in denen Leute existierten. Im Krankenhaus machte ich diese Erfahrung insofern, als daß immer die Situation entstand, daß die Leute da am meisten von sich erzählten. Zwangsläufig. Weil sie froh waren, wenn sie da einen zum Reden hatten. Da kamen also die unterschiedlichsten Positionen zusammen.

Kutulas: Im Krankenhaus, das ist eine „neue Welt“ gewesen ...

Kempe: Das ist einfach nur eine Frage der Erweiterung des Blickes gewesen. Und das ist dann auch sehr wesentlich für das Schreiben geworden.

Kutulas: Siehst du dich als einen pessimistischen oder als einen optimistischen Schreiber oder tangieren dich diese Begriffe nicht?

Kempe: Tangieren mich nicht.

Kutulas: Du würdest auch nicht antworten wollen auf die Frage, ob du dich selbst von deiner Weltsicht her als Optimisten oder Pessimisten siehst?

Kempe: Ich weiß nicht, ob es relevant ist in dieser Welt, ob man Optimist oder Pessimist ist. Es kommt meiner Meinung nach nur darauf an, was man tut und ob man etwas tut. Also für mich ist diese Frage von Optimismus oder Pessimismus von sekundärer Natur. Das scheint sich zu widersprechen, was ich jetzt sage.

Kutulas: Ja. Ich frage nur, weil ein großer Literat und Philosoph im neunzehnten Jahrhundert, also der Arthur Schopenhauer, seine Realismusauffassung auf die Grundlage des Pessimismus stellte. Und nach ihm haben das, von ihm lernend, noch andere getan. Wie Thomas Mann zum Beispiel. Und weil ich das Gefühl habe, daß viele Romanciers und Prosaautoren so einer Weltsicht anhängen ... Hätte ja auch sein können, daß du ähnlich bestimmt etwas sagen wolltest.

Kempe: Nee, also in dem Zusammenhang ganz gewiß kein Pessimist, also ganz gewiß nicht dieses Schopenhauer'sche Modell.

Kutulas: Also auch nicht dieses Modell, was ja aus dem Pessimismus, aus diesem philosophischen Pessimismus muß man dazu sagen, erwächst: Schauendes Weltauge sein?

Kempe: Nee. Das ist mir zu ...

Kutulas: ... distanziert?

Kempe: ... außerhalb der Welt. „Schauendes Weltauge sein“ ist mir eine zu distanzierte Haltung; das ist nicht meine Haltung. Das krieg ich in mir nicht zusammen.

Kutulas: Dich interessieren kurze, prägnante Geschichten, die durch ihre Story, also durch einen Höhepunkt brillieren?

Kempe: Nicht nur. Es interessiert mich natürlich auch anderes.

Kutulas: Die haben etwas Novellenartiges.

Kempe: Ja. Das hab ich aber nicht gelernt.

Kutulas: Zum Teil jedenfalls.

Kempe: Hm ...

© Asteris Kutulas, 1988


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ABGESANG: WIE MAN IST, SO ISST MAN (WÄHREND DER WENDE ZUMINDEST)
Der erotische Beigeschmack der Olive

Immer mehr Menschen lernen die Olive schätzen, und nicht nur unsere Freunde Schappy und Yury Winterberg. Kenner sagen: ihrer eigentümlichen Bitternis wegen. Die renommierten Hausfrauenjournale andererseits, die all unsere Muttels zu gerngesehenen, vielseitig begabten Models heranbilden möchten, befürworten den Verzehr von Oliven, da er im Rahmen eines Diätplanes unerläßlich ist: Diese Frucht läge nicht schwer im Magen und ihr Öl sei an Reinheit durch kaum ein anderes zu übertreffen. Deswegen vielleicht ist auch einer der Begründer der Neuen Wilden, der Maler Rainer Fetting, ein ausgesprochener Freund von Oliven. Das ein Argument auch für alle Alternativverkoster, ruhigen Gewissens neben den Muttels von "Petra" und "Brigitte" zur Olive zu greifen. Obwohl die Olivenbauern aus dem Dorfe Sernikaki bei Delfi ganz andere Gründe dafür finden würden.

Nicht nur, daß das Oval jener Frucht eine Assoziation zur Gebärmutter hervorruft und daß der, der eine Olive nach der anderen isst – je nachdem in welchen Maßen –, sich damit seiner Lust hingibt, sondern ihr Geschmack erinnert den Genießer zugleich an die Herbheit des Lebens und zwingt ihn, sich dem Mahle – fast möchte man meinen: – masochistisch zu überlassen. Lustvoll die Frucht zum Munde führen, um dann wieder und wieder von ihrer Bitterkeit überrascht zu sein. Dann stört es auch kaum, daß dieses Ritual an einem trostlos verregneten Dienstag in einer Hinterhauswohnung auf der Immanuel-Kirch-Straße im verfallenden Prenzlauer Berg stattfindet.

Der einzige Feind dieser Frucht ist – wie Yury Winterberg an dieser Stelle richtig bemerken würde – die neue Anti-Sex-Kampagne aus den USA. Sex ist out. Keuschheit ist in, tönt es aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Die Priesterinnen dieser neuen Modewelle der Enthaltsamkeit propagieren, daß einmal Sex im Jahr genug sei. Am besten ist, es zu Silvester zu machen, dann habe man gleich zwei Jahre abgearbeitet. Schlechte Zeiten für den ehemaligen DDR-Bürger – ein Bruder von Konopke? –, der nach seinem Eintreffen in New York dort großen Erfolg mit der ersten Bockwurstbude hatte. Aber das war schon vor Jahren. Heute würde er in Amerika mit seinen ausgestellten Phallussymbolen wohl kaum noch weit kommen, um die enthaltsam gewordenen Amerikaner auf dumme Gedanken zu bringen.

Schlechte Zeiten auch für den Hiergebliebenen und besonders die Hiergebliebene, die erwiesenermaßen viel öfter zum Orgasmus kam als ihre bundesdeutsche Nachbarin (eine sensationelle Nachricht, die "das blatt" viel eher gewußt haben will als die "Bild"). Statt sich in chinesischen, thailändischen, griechischen oder italienischen Lokalitäten fremdartigen Genüssen hinzugeben, war die ostdeutsche Frau in Ermangelung solcher Erlebnisbereiche ganz auf den Bezirk ihres Bettes und den ihrer Klitoris angewiesen. Sie lässt – nachdem sie gelesen hat, daß die Männer in der DDR in jungen Jahren bereits ausreichend Erfahrung mit Frauen haben, sich auch gern binden, dann aber weitaus öfter fremdgehen als die Ehemänner im Westen – den Penis ihres Ehegatten fahren, wohin zum Teufel er will, und greift neuerdings zum Hörer, um sich vom Westberliner Sex-Telefondienst befriedigen zu lassen.

Doch Halt! Weit häufiger als die Frauen gehen die Männer in der Noch DDR ans Telefon, versuchen sich Rat wegen ihres vorzeitigen Samenergusses zu holen. Man erkenne, so lautet es derzeit in medizinischen Fachkreisen, all jene Frühstarter sofort an der Stimme. Aber Jungs, laßt Eure Nasen nicht hängen. Hirn abschalten!, wie Schappy sagen würde. Und wer kennt Schappy nicht?

Viel schlimmer trifft es die DDR-Menschheit, daß man sie trotz aller Anpassungsversuche – und darin ist Herr Diestel einfach Spitzenklasse – noch immer am Inhalt ihres Kühlschranks als solche erkennt. Anstelle von Oliven drängeln sich querbeet Maracuja Joghurt, Maggi Suppen, Jaffa Bannen, Coca Cola, Artus Sprudel und Kokosnuß. Der DDR-Bürger soll erstmal sortieren lernen, sagen die von nebenan. Und Underberg sortiert bereits das verkorkste Mageninnere, und Herr Rathenow (der Dichter!) sortiert im ZDF seine konspirative Vergangenheit, und die neugegründete Zeitschrift "Sondeur" sortiert die Guten ins Töpfchen, die Schlechten in Kröpfchen und gibt den eigenwilligen Rat: Lesen Sie Sondeur statt Erbsen!

Welch verführerische Botschaft in diesen Zeiten, wo man am liebsten immerfort Erbsensuppe löffeln möchte, bis sie einem zu den Ohren wieder rauskommt, um nicht jeden Tag das Gejammer der Linken und das Gesabber der Rechten hören zu müssen. Beide verkünden: Nach der Währungsunion wird alles anders. Und da soll einem nicht schlecht werden! Nein. Denn sobald die vertrauenswürdigen Gesichter von Staatssekretärin im Kulturministerium Frau Gabi Muschter und von Cordula Schubert, der Jugendministerin, im Fernsehen erscheinen, ist uns warm ums Herz – schon die alten Griechen wußten: Dein Herz dem Sport – und alles andere egal. Frau Schubert sollte mehr Sport treiben und sich nicht durch die FDJ das Leben vermiesen lassen und auch nicht, wie sie uns vorgestern verriet, von den Schnecken, die sie so gern ißt und die noch nicht ausreichend in unseren Feinkosthäusern angeboten werden. Nach der Währungsunion wird alles anders. Und vielleicht steigt Frau Schubert dann lieber von Schnecken auf Haifischflossen um, denn wer gern Schnecken ißt, wie gut kann der schon im Bett sein – und gar in der Politik! Cordula, halt Dich an Claudia, die bestätigt: Wasser machts auch! Mit den Maßen 90/62/91 ist Claudia die Frau der neunziger Jahre. Schön, schlank und intelligent. In der Schule hatte sie Komplexe, doch heute verdient die neunzehnjährige am Tag 20.000 Mark als Model. Und alles das bei Wasser und Sport! Während die einen nichts als Westmark im Kopf haben und andere nichts als Wasser, denken wir an Oliven und daran, daß Essen die Sexualität des Alters ist.

© Asteris & Ina Kutulas, 1990


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ERINNERUNG: AUS DER DDR ...

Kenn ich, antwortete ich, auf einem der gepolsterten Stühle der Gaststätte Platz nehmend, immer schön in der Mitte bleiben, nichts übertreiben, keine Extreme, alles verstehn, alles erklären, was bliebe uns dann noch zu tun, außer still halten, abwarten und sterben. Ruhe und Ordnung, Allheilmittel in Politik, Kunst, Liebe, nur keine Experimente - es ist alles prima Chef, armer Zorbas. Was wusste er von Geduld. Als könnte man auf den eigenen Tod warten. Zu Lebzeiten freiwillig eingesargt. ES LEBE ... Ich sah zum andern auf. Er war eingeschlafen, umgeben von der wohligen Hitze, ermattet vom täglichen Kampf um die besten Ergebnisse, erschöpft auch von den vielen Ehrenrunden, vom Betrachten der vielen Steine und Ruinen, vom anhaltenden Stimmengewirr und Applaus. Ich bestellte mit leiser Stimme ein Glas Rosenthaler Kadarka und beschloss, die vorhin am Kiosk gekaufte Zeitung zu lesen: Das Triptichon der Macht - die ökonomischen, militärischen und politischen Kreise – hat ausgedient, so ohne Beziehung zum wirklichen Leben, völlig frei schwebend im fremden All. Schwarz auf Weiß. Wir aber, wir machen weiter so, FREIHEIT, SCHÖNER GÖTZENFUNKE, alle Nationalheiligen auf unserer Seite, wir gehen immer VORAN, kein Blick zurück, keinen Tag könnte ich hier leben, entweder tot oder im Gefängnis, hier, in meinem Afrika, keine andere Alternative. Hören Sie diese schöne Musik, einer kam auf mich zu, Edith Piaf ist die Größte, steckt alle Klassiker in ihre kleine Tasche. Wie durcheinander ich bin, die Struktur meiner Gedanken ... so unkonzentriert, unausgeglichen, würdest du sagen, unausgeglichen.

© Asteris Kutulas, 1986

 

AUS DER DDR: Solche Texte schrieben wir damals, so 1985, 1986 (und dann später) ... na ja ... wenigstens hatten wir ein gutes Gefühl dabei. 1989 wollte ich mit meinem Philosophenfreund Udo Tietz (der übrigens Husserl, Adorno, Horkheimer und all diese Leute sehr mochte) einen bibliophilen Band mit Texten und Grafiken in Luxemburg herausgeben. Alle Grafiken – von Johannes Heisig, Trak Wendisch, Angela Hampel usw. – waren schon gedruckt, alle Texte geschrieben, aber dann kam der Mauerfall, und wir hatten anderes zu tun, als bibliophile Bücher herauszugeben. Wir haben es dann trotzdem gemacht, drei Jahre später ... haben das Siebdruckbuch symbolträchtig in Packpapier gepackt und es in einen Blechsarg gelegt:

ausdrückliche klage aus der inneren immigration. Texte & Grafiken aus der DDR. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas und Udo Tietz, editions phi, Echternach 1992



 

 

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