Der junge Lukács
oder
Ich bin das Suchen

Funk-Essay von Asteris Kutulas


1. Sprecher, Philosoph (ungeduldig, aufbrausend, skeptisch)

2. Sprecher, Lukács-Forscher (ruhig dozierend, wissend)

Georg Lukács (helle, expressive Stimme)

Sprecher für Irma Seidler, Hilda Bauer, Leo Popper, Ernst Bloch, Gertrud Bortstieber, Korrespondent


Lukács: Die Weltanschauung ist ein tiefes persönliches Erlebnis des einzelnen Menschen, ein höchst charakteristischer Ausdruck seines inneren Wesens, und sie widerspiegelt gleichzeitig bedeutsam die allgemeinen Probleme der Epoche.

1. Sprecher: Da haben Sie es wieder! Selbst Lukács relativiert auf diese Weise alles. (ironisch) Was kann man schließlich dafür?! Mißverständnisse, Dogmen, Verbote, Widersprüchlichkeiten – das gehört zum Leben, und das wenigstens ist gestattet ... Es läßt sich alles erklären und verstehen – immerhin ein Genie!

2. Sprecher: Ganz im Gegensatz zu Ihnen bewundere ich seine Ernsthaftigkeit. Wie wäre er sonst Kommunist geworden? Und erst recht geblieben? Doch gehen wir von der Realität aus und fragen: Es gibt Kommunisten – wie sind sie möglich?

1. Sprecher (einfallend): Die Frage haben Sie von Lukács geklaut! Die hab ich bei ihm schon mal gelesen. Nur in anderem Zusammenhang – nämlich in seiner "Heidelberger Philosophie der Kunst" von 1914, ästhetisch und nicht politisch motiviert: "Es gibt Kunstwerke. Wie sind sie möglich?"

2. Sprecher: Ich wollte nur sehen, ob Sie Ihren Lukács kennen. Immerhin verblüffte er mit dieser Frage den Soziologen Max Weber, abgesehen von Lukács' späterer Abscheu gegenüber jeglicher Soziologie. Sie wissen ja, die jugendlichen Sünden verachtet man im Alter.

1. Sprecher (einfallend): Ja, das gebe ich zu. (nachdenklich) Wenn man nicht zum Fetischisten seiner Erinnerungen wird! Scheint Ihnen nicht aber ein Widerspruch zu bestehen zwischen seiner sogenannten kommunistischen Wende und der Kontinuität, mit der er seinen idealistisch-philosophischen Prämissen anhing? Jener von Ihnen adaptierten Frage nach objektiven Kunstkriterien ging er sein ganzes Leben nach, um sie 1962 – wie er meinte – nur „teilweise“ auf 1.500 Seiten seiner Schrift "Die Eigenart des Ästhetischen" zu beantworten ...

2. Sprecher (heiter-eifrig): Was für eine Ausdauer! Und insofern haben Sie recht, als daß Lukács' spätere philosophische Sympathien schon in seiner vormarxistischen Zeit keimten. Tatsächlich hegte er diese sein ganzes Leben. Doch als er Mitglied der Kommunistischen Partei wurde ...

1. Sprecher (einfallend): „Philosophische Sympathien.“ In die Kommunistische Partei einzutreten... Diesen Schritt tat Lukács im Dezember 1918, und das einzige, was ich daraus schließen kann, ist, daß er vom bürgerlichen Dasein die Fresse gestrichen voll hatte. Nicht „das soziale Elend des Proletariats“ – nein, wo denken Sie hin! –, die Fruchtbarkeit marxistischen Denkens war ihm Grund genug, diesen Entschluß zu fassen.

2. Sprecher (verärgert): Mein Lieber, vergessen Sie nicht – Lukács kam zum Kommunismus über das Geistige, über die Theorie. (bewundernd) Er war so herrlich konsequent! Lukács handelte nur, wenn sein Tun im Einklang mit seinem Denken war. Stellen Sie sich vor, in seiner Person vereinte er "Theorie" und Leben! Wo finden Sie das heute noch? Ich sagte Ihnen doch, diese Ernsthaftigkeit ...

1. Sprecher (einfallend, leise zitierend): "Aber dann in allem furchtbaren Ernst, ohne Ausblick anderswohin."

2. Sprecher (mahnend): Was soll dieser ironisch-tragische Ton? Bedenken Sie, welchen Mut und welche Überzeugung ein großbürgerlicher Intellektueller braucht, um subjektiv seine objektive soziale Stellung und Herkunft abzulehnen. Der Arbeiter dagegen muß sich "nur" seiner Klassenzugehörigkeit bewußt werden und die Konsequenz daraus ziehen. Sagen Sie, was einfacher ist!

1. Sprecher: Ach, was! Der Arbeiter war weitsichtiger als der Philosoph und hat in den Industrienationen für seine „Ausbeuter“ gestimmt. In Bezug auf den Philosophen jedoch scheint mir dieses Argument einzuleuchten. Was meinen Sie, wie konnte Lukács zu dieser Fehleinschätzung kommen?

2. Sprecher: Also, wenn ich bedenke, dass Lukács aus einer wohlhabenden jüdischen Familie stammt, die auf der Pester Seite der Donau wohnte, nämlich in der aristokratischen Leopoldstadt ... und wenn ich weiterhin bedenke, dass Lukács’ Vater, Josef Löwinger, bereits bei der Geburt seines zweiten Sohnes Georg, Direktor der ungarischen Niederlassung der Britisch-Österreichichen Bank war ...

1. Sprecher: Ach so, er war Aristokrat, der Lukács. Dann ist es allerdings interessant, wie er zum Marxismus fand. Damit hab ich mich bisher nie beschäftigt. Man kennt ja nur seine Bücher, wissen Sie ... Der Vater hieß Löwinger? Wieso?

2. Sprecher: Die Familie trug bis 1899 diesen Namen, dann erwarb sich der Vater den Adelstitel "von Lukács" ...

1. Sprecher: Was heißt das, "erwarb sich"?

2. Sprecher: Nun, er kaufte ihn sich. Das war in der damaligen Zeit so üblich. Dadurch stieg das gesellschaftliche Ansehen und die Geschäfte gingen besser.

1. Sprecher: Ich ahne schon, wie es in solch einer Familie zugegangen ist, wo alles Äußere von so großer Wichtigkeit war! Wie hat Lukács in dieser Umgebung reagiert – oder bedeutete etwa die Mutter das ausgleichende Prinzip?

2. Sprecher: Im Gegenteil! Seine Mutter, Adele Wertheimer, eine gebürtige Österreicherin, war strenge Sachverwalterin des Protokolls im Hause. Mit ihren drei Kindern – Georg hatte noch eine jüngere Schwester – sprach sie nur deutsch, und ansonsten fügte sie sich ganz in die geheuchelte Atmosphäre dieser Gesellschaftsschicht. Gegen ihre konventionellen Anschauungen führte Lukács einen "Guerillakampf", der zuerst darin bestand, daß er als Kind die zahlreichen Onkels und Tanten, die er nicht kannte, nicht grüßen wollte.

1. Sprecher: Eine außerordentliche Sünde! Jetzt brauchen Sie mir nur noch zu sagen, daß im Haus die berühmte dunkle Kammer existierte, wo alle eingesperrt wurden, die nicht folgten.

2. Sprecher: Ganz genau so war's! Und weil der Unterricht am Evangelischen Gymnasium von Leopoldstadt die Fortsetzung der protokollierten Ideologie des Elternhauses war, richtete sich Lukács’ Abneigung dann auch gegen die Schule, die er zwischen 1894 und 1902 besuchte.

1. Sprecher: Aber fleißig muß er gewesen sein! (anerkennend) Wenn man sich seine Theaterkritiken durchliest, die er bereits als Gymnasiast schrieb!

2. Sprecher: Ich muß Ihnen widersprechen. Fleißig für die Schule arbeitete er nicht gerade, sehr zum Leidwesen seiner Mutter, da er, auch ohne viel zu lernen, in der Schule besser war als sein Bruder Janos, das Lieblingskind der Mutter.

1. Sprecher (zusammenfassend): Lassen Sie mich bitte an dieser Stelle eine These aufstellen, die mir ganz klar vor Augen schwebt: Ich denke, ein Grund für Lukács’ späteren Parteieintritt in die Kommunistische Partei war der Umstand, daß ihm in seiner Kindheit die Mutter fehlte. Ich erinnere Sie: Noch 1914 klagt er über die "transzendentale Obdachlosigkeit", und wie viele andere bürgerliche Intellektuelle wendet er sich dann der Partei wie einer Mutter zu, damit diese ihn vor dieser Obdachlosigkeit bewahren könnte. Auch der Philosoph Ernst Bloch sagt in einem Interview, für Lukács sei die Partei "Stütze und Zuflucht" gewesen.

2. Sprecher (verärgert): Also bitte keine Freudschen Erklärungen! Das sind gesellschaftspolitische Vorgänge! Zugegeben: Sein langjähriger Jugendfreund Bloch hatte allen Grund, dies später zu behaupten. Und es ist auch wahr, daß der "Partisanenkrieg" gegen die Mutter von Lukács später wiederholt wurde: innerhalb der und gegen die Parteiinstitutionen. Doch bleiben wir bei der Kindheit und den Fakten! Lukács' Antihaltung zeigt sich darin, wie er die von seiner konservativen Umwelt verachtete westliche Moderne verherrlicht.

1. Sprecher: Ist ja nicht zu glauben! Da sieht man, was für ein außenseiterisches "Gehirntier" Lukács schon in jungen Jahren war.

2. Sprecher (überlegen): Lukács findet in der Bibliothek des Vaters Max Nordaus’ Buch „Entartung“, und weil Literatur dieser Art dem offiziösen Geschmack zuwiderläuft, begeistert er sich auch für Baudelaire, Swinburne, Ibsen, Verlaine, Zola.

Lukács: Dieser Oppositionsgeist kam zuerst in meinen Schulaufsätzen zum Ausdruck, die bei den Lehrern heftige Entrüstung auslösten. Das und meine Hinwendung zum internationalen Modernismus waren meine Versuche, mich geistig von der intellektuellen Sklaverei des offiziellen Ungarn zu befreien.

1. Sprecher (interessiert): Aha! Er befriedigt seine Oppositionslust also durch Literatur. Das finden Sie bei einigen introvertierten Individualisten noch heute ... Übrigens, wir sind unversehens ins Präsens abgerutscht!

2. Sprecher: Macht nichts. Lassen Sie uns so weitermachen. Ich habe Ihnen noch einiges zu erzählen. Zum Beispiel, dass das wichtigste Merkmal von Lukács’ Kindheit ist, dass er keine Freunde hat. Das ändert sich erst in seinem fünfzehnten Lebensjahr, als er jenes Interesse für Literatur entwickelt, das die Basis wird, sich mit anderen darüber zu verständigen. Doch die Zeit der Vereinsamung hat bereits Spuren in der Psyche des jungen Mannes hinterlassen. Die krankhafte Selbstüberhebung des eigenen Ich geht einher mit der Vergötterung der nun gefundenen Freunde.

1. Sprecher: Ein beinah schizophrener Zustand also. Das wundert mich nicht – bei dem Elternhaus. Haben Sie Anhaltspunkte dafür, ob die jüdische Herkunft auch eine Ursache für das Emanzipatorische in Lukács Wesen ist?

2. Sprecher: Nein, das dürfte keine unmittelbare Rolle gespielt haben. Es gibt aber einen Ausspruch von Lukács' Vater, der zu Beginn der zionistischen Bewegung sagte, er wolle bei Konstitution des jüdischen Staates Konsul in Budapest werden. Natürlich färbt dieses Selbstbewußtsein auf den jungen Lukács ab, von dem der Vater verlangt, er solle sich so verhalten, daß er – der Vater – stolz auf ihn sein könne. Dafür gewährt er ihm jede materielle Unterstützung.

1. Sprecher: Sehr nobel! Den Vater als Mäzen zu haben, stelle ich mir äußerst amüsant vor. Wann legt Lucács nun sein eremitisches Dasein ab?

2. Sprecher: Als er mit etwa fünfzehn Jahren seine ersten wichtigen Freunde findet und beschließt, Schriftsteller zu werden.

1. Sprecher (einfallend): Diese Hybris der jungen Leute ist bewundernswert! Und mit Erfolg?

2. Sprecher (bedeutsam): Jene Ernsthaftigkeit, auf die ich zu Beginn unseres Gesprächs so nachdrücklich verwies, zeigt sich hier zum erstenmal. Lukács’ Opponieren tritt hier in die produktive Phase, in der aber Aktionismus allein nicht von Bedeutung ist. Denn als Korrektiv wirken ab jetzt seine Freunde. Zunächst Marcel Benedek und Laszlo Banoczi, die ihm das unspekulativ-wissenschaftliche Herangehen an Literatur sowie die moralitè als Lebensmaxime vermitteln.

1. Sprecher: Aus Ihrem Munde klingt "moralitè" so bedeutsam. Könnten Sie erläutern, was gemeint ist?

2. Sprecher: Diese Haltung entspricht Lukács' Kindheitserfahrungen, weil sie gegenüber der Erfolgssucht seiner familiär-bürgerlichen Umwelt den Wert der eigenen moralischen Wahrheit behauptet. Das hatte Lukács schon als Kind bei der Lektüre seines Lieblingswerks "Der letzte Mohikaner" gefallen.

1. Sprecher: Und wozu führen die neuen Erfahrungen?

2. Sprecher: Sie werden 's nicht für möglich halten! Lukács gesteht sich ein, daß er auf schriftstellerischem Gebiet ein Dilettant ist und schreibt keine Theaterkritiken mehr, wie er sie als Oberprimaner im expressionistischen Stil eines Alfred Kerr für verschiedene ungarische Zeitungen verfaßt hatte.

Lukács: Und was meine an Hauptmann und Ibsen orientierten Dramen betrifft: Gott sei Dank ist davon nichts geblieben. Mit ungefähr achtzehn Jahren verbrannte ich all meine Manuskripte, und von da an hatte ich ein geheimes Kriterium für die Qualität von Literatur, nämlich was auch ich verfassen könnte, ist schlecht.

1. Sprecher: Ich verstehe, seine Revolte gewinnt damit das Niveau qualitativ gehobener Ansprüche.

2. Sprecher: Ja, er verfaßt vier Jahre lang nichts mehr. In dieser Zeit widmet er sich der "Thalia-Gesellschaft", einer freien dramatischen Bühne nach Berliner und Wiener Vorbild, sowie seinen philosophischen Studien.

1. Sprecher: Er studiert also Philosophie?

2. Sprecher: Ja und nein. Dem väterlichen Wunsch entsprechend, studiert Lukács von 1903 bis zu seiner Promotion 1906 Jura an der Budapester Universität. Doch ihm steht, wie wir sahen, der Sinn nicht nach bankdirektoraler Karriere. Darum vertieft er sich in die abstrakt-idealistischen Philosophien der Jahrhundertwende.

1. Sprecher (einfallend): Was liest er denn?

2. Sprecher: Alles mögliche! Schopenhauer, Nietzsche, Lessing, die Frühromantiker, den Schiller-Goethe-Briefwechsel, Kierkegaard. Das sind wohl die wichtigsten. Bald kommen Dilthey, Simmel und Marx hinzu. Aber noch entscheidender als die Lektüre ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung damit, und die elektrisierende Energie solcher Auseinandersetzungen erfährt Lukács im Elternhaus von Laszlo Banoczi. Der Vater seines Freundes und Studienkollegen gehörte zu den namhaftesten Denkern Ungarns. Er hatte unter anderem auch Kants "Kritik der reinen Vernunft" übersetzt, die Lukács nun studiert.

1. Sprecher: Ach, dieses unleserliche Buch!

2. Sprecher (gefällig): Lukács verschlingt es geradezu.

1. Sprecher: Sie deuteten noch etwas von Öffentlichkeitsarbeit in dieser Zeit an!

2. Sprecher: Zusammen mit Marcel Benedek und Laszlo Banoczi gründet Lukács im Herbst 1903 die "Thalia-Gesellschaft", die ab 1904 moderne westliche Stücke zur Aufführung bringt, Strindberg, Wedekind, Shaw, d'Annunzio, aber auch Tschechow und Gorki.

1. Sprecher: Will Lukács durch elitäres Verhalten die etablierte Gesellschaft schockieren?

2. Sprecher: So könnte man es umschreiben, aber sie inszenieren auch für Arbeiter. Nur, daß Lukacs selbst vorwiegend organisatorische Aufgaben in dieser bohemisierenden "Kaffeehausgesellschaft" erfüllt, nachdem seine Regieversuche fehlschlagen. Eigentlich beginnt er sich ab dieser Zeit in seinen geistigen Konstruktionen einzuigeln. Ach ja, er übersetzt für die "Thalia-Bühne" Ibsens "Wildente".

1. Sprecher: Schriftsteller: nichts! Regisseur: nichts! Ihm bleibt nur noch die Philosophie!

2. Sprecher (berichtigend): Die wichtigste Frucht dieser Periode ist eine zweibändige "Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas". Darin fließen natürlich seine Erfahrungen aus der Zeit an der "Thalia" mit ein. Aber von seinem Vorhaben, Literaturhistoriker zu werden, nimmt er nach einer Studienreise durch Deutschland wieder Abstand. Ihm erscheint die professorale Analyse, warum die Augenfarbe von Lotte in Goethes "Werther" blau und nicht wie in Wirklichkeit schwarz gewesen sei, äußerst abwegig und nicht wissenswert. Insofern haben Sie recht, es bleibt die Philosophie als grundlegende Orientierung.

1. Sprecher: Mir fiel schon bei Ihrer Aufzählung seiner Lektüre auf, daß die deutsche Literatur im Mittelpunkt steht. Und jetzt sprachen Sie von einer Deutschlandreise.

2. Sprecher: Er liebt die deutsche Wissenschaftlichkeit – natürlich jene, die den gesellschaftlichen Boden unter den Füßen nicht verliert. Jetzt verstehen Sie vielleicht seine Distanz zur ungarischen, unambitionierten Intelligenz – als welche Lukács sie gesehen haben dürfte. Da ist das Flair des Berliner Philosophen Georg Simmel ein ganz anderes gewesen. Im Wintersemester 1906/07 hört Lukács erstmals dessen Vorlesungen, die ihn tief beeindrucken.

1. Sprecher (hastig): Dessen Buch "Die Philosophie des Geldes" kenne ich gut, wo Simmel den längst "überholten" Marxismus weiterführt, indem er ihm ein Stockwerk unterbaut, so daß die wissenschaftlichen Formen als das Ergebnis tieferer Wertungen und Strömungen, psychologischer, ja metaphysischer Voraussetzungen erkennbar werden.

2. Sprecher (ärgerlich): Dürfte ich fortfahren?! Der zweite starke Impuls geht von Wilhelm Dilthey aus, von dem Sie sicher auch wissen, daß er der Begründer der Geisteswissenschaften war und Nietzsche in Deutschland kathederreif gemacht hatte ...

1. Sprecher (einfallend): Gestatten Sie mir noch eine Frage. Wie verträgt sich das mit Lukács' Aktivitäten in Ungarn? Oder wendet er sich gänzlich von der Heimat ab?

2. Sprecher: Das kommt etwas später. Er schließt sich zunächst der radikal-bürgerlichen "Soziologischen Gesellschaft an, hält im Galilei-Zirkel der revolutionären Studentenschaft Vorträge und wird stark von Endre Adys Buch "Neue Gedichte" beeinflußt. Ab 1906 veröffentlicht er auch wieder in verschiedenen Zeitschriften Rezensionen und Essays.

1. Sprecher: So war der deutsche Einfluß nur geistiger Natur?

2. Sprecher: Nur! Sie werden sich wundern! Um für sein Dramenbuch ein soziologisches Fundament zu schaffen, liest Lukács 1908 das "Kapital" von Marx und analysiert in einem Vorwort tatsächlich die Beziehung von materiellen Verhältnissen und künstlerischen Produkten.

1. Sprecher: Dann ist's ja ein Katzensprung zum Marxismus! Warum dauert das noch zehn Jahre?!

2. Sprecher (überlegend): Bedenken Sie doch, daß wir Bücher niemals unvoreingenommen lesen, sondern borniert – durch unsere "ideologische" Brille, durch die wir beständig die geistigen Phänomene betrachten und blind bleiben. Sehen Sie, nach der Marx-Lektüre setzt Lukács in diltheyischer Manier das nur hermeneutisch faßbare "Leben" voraus und kommt zu dem Schluß, daß das wirklich Soziale in der Literatur die Form sei!

1. Sprecher: Eine fürwahr unmarxistische Deduktion. Was ist denn mit "Form" gemeint?

2. Sprecher: "Form" bedeutet für den jungen Lukács alles und nichts! Eine wahre Formenmetaphysik! Eine Flut von verwaschenem Zeug.

1. Sprecher: Das müssen Sie mir schon näher erläutern! Bis jetzt hab ich folgendes begriffen: Bei der Verinnerlichung der modernen Literatur verinnerlichte Lukács auch das Krisengefühl dieser Literatur. Das ist ihm wohl nicht gut bekommen?!

2. Sprecher (einlenkend): Sozusagen... (bestimmt) Die im Verständnis von Lukács a priori existierenden "Formen" verdeutlichen sein pubertäres Ungenügen gegenüber der Welt. Hätte er nur zu Rauschmitteln oder Aspirintabletten gegriffen! Stattdessen erblickte er die angemessene Heilslehre in der geisteswissenschaftlichen Methode Diltheys, die sich als Kunstlehre ausgibt, mit deren Hilfe man schriftlich fixierte Lebensäußerungen mühelos auf sich übertragen könne.

1. Sprecher: Das könnte aus einer hinduistisch-meditativen Neureligion stammen!

2. Sprecher (fortfahrend): Durch ein "Sich-Hineinversetzen" in paradigmatische Personen aus der Vergangenheit, könne man der schlechten Gegenwart entfliehen ...

1. Sprecher: Sagen Sie, nimmt Lukács dieses Rezept gegen sein Weltwehweh ernst?!

2. Sprecher (kalt): Lukács lebt danach! Vor allem Kierkegaard ist es, dem er sich wahlverwandt fühlt und dessen Leben er „nachzubilden“ und zu „verstehen“ versucht. Das ist das Wesen dieser sogenannten „Essayperiode“.

1. Sprecher (kategorisch): Ihre gelobte Einheit von Theorie und Leben bewährt sich hier in sehr fataler Weise. Lukács fehlt einfach eine Frau!

2. Sprecher: Zu spät!

1. Sprecher (ironisch): Sagen Sie bloß, er ist zu "ernsthaft" dafür.

2. Sprecher: Mein Lieber, das sind keine Hirngespinste eines bürgerlichen Intellektuellen! Lukács empfindet die tiefe Zerrissenheit um sich herum schmerzlich als "radikale Lebensnot". Hier einige Beispiele:

Lukács (nachdrücklich): Das Resultat des heute Erschauten ist: der Weg führt bergab. Dies ist die Monumentalität einer grauen Monotonie, und es ist das Gefühl, daß die kaum übersehbare Menge von kleinen und grauen Ereignissen bloß ein verschwindend kleiner Teil der unendlichen Monotonie des Lebens selbst ist. Mein Leben ist nicht bunt, aber auch nicht weiß; kein still ruhender Bergsee, sondern Eile, Lärm und ewiges Rennen – wohin? ... Ich weiß: Ich habe nur Taten, nur Taten machen mich zum Menschen, und doch können meine Taten mich nicht zum Menschen machen, weil sie nicht die meinen sind, weil sie aufhören, die meinen zu sein, sobald sie geschehen sind. Sokrates aber wußte, daß das, wonach wir uns sehnen, für immer fremd ist, daß es für unser Sehnen nie eine Erfüllung geben kann. Darum ist das Leben nichts, das Werk ist alles, das Leben ist lauter Zufall, und das Werk ist die Notwendigkeit selbst.

2. Sprecher: Dieses Lebensgefühl von Vereinsamung und Entfremdung fängt Lukács sehr prägnant in einer Reihe von Essays ein, die in Buchform 1910 unter der Überschrift "Die Seele und die Formen" erscheinen. Vielleicht interessiert es Sie zu erfahren, daß Thomas Mann seine Schriftsteller-Situation der Vorkriegszeit in diesem Buch ausgedrückt fand und aus dem Philippe-Essay ganze Passagen in seine Novelle "Tod in Venedig" einarbeitete!

1. Sprecher: Worauf wollen Sie hinaus?

2. Sprecher (zusammenfassend): Zweifellos ist dies Erleben der Dichtung, die fragmentarisch-neuromantische Lebensform eine Reaktion auf die "heile" Welt des Elternhauses und die oberflächlich-glatten Umgangsformen seiner Gesellschaftsschicht.

1. Sprecher: Darum ließ er wohl nach seiner Wende zum Marxismus nur die großen synthetischen Formen gelten?

2. Sprecher: Vielleicht wurde die spätere Dogmatisierung in diesem jugendlichen Erleben vorgeprägt. Doch in der Essayperiode unterhält er freundschaftliche Beziehungen zu vielen zeitgenössischen Schriftstellern und zu der konstruktivistischen Malergruppe "Die Acht". Malerin ist übrigens auch seine große tragische Jugendliebe Irma Seidler, die er im Dezember 1907 kennenlernt.

1. Sprecher: Wieso tragisch?

2. Sprecher: Weil Lukács jenes Kopieren von Originalen sehr ernst nimmt und auf die Spitze treibt! Er ahmt zum Beispiel Kierkegaards mißverständliche Haltung gegenüber dessen Verlobter Regine Olsen gründlich nach. Nur: Lukács verlobt sich gar nicht erst, schreibt aber dafür den Kierkegaard-Essay und denkt, das aus der Romantik überkommene Problem der Vermittlung von Kunst und Leben durch eine prosaische Geste zu lösen: Er negiert das wirklichkeitsbefleckte Leben und erhofft sich Seligkeit durch eine rein geistige Liebesbeziehung.

1. Sprecher: Ich bin sprachlos. Und dies Platonisieren führt zu einer Katastrophe?

2. Sprecher: Noch nicht. Irma Seidler ist eine schöne, selbstbewußte Künstlerin, übrigens zwei Jahre älter als Lukács, die gehofft hatte, mit seiner Hilfe und durch seine Liebe ihre innere Vereinsamung zu überwinden. Nun trifft sie aber auf einen philosophierenden Jüngling, der sich ganz seinem Werk widmen will und sie wie eine intellektuelle Mätresse behandelt.

1. Sprecher: Ein unerhörter Narzißmus! Und eigentlich feige.

2. Sprecher (bestimmt): Aber konsequent! Natürlich beendet Irma Seidler die Halbheit ihres "kampfähnlichen Beisammenseins", indem sie im November 1908 einen ungarischen Malerkollegen heiratet. Einen Monat zuvor schreibt sie noch einen verzweifelten Abschiedsbrief:

Seidler: Ich machte in Ihrem Leben, in Ihrer Entwicklung eine große Etappe mit Ihnen zusammen durch, und Sie schenkten mir seelische Erlebnisse – insbesondere über das Geistige. Doch waren wir nicht zusammen dort, wo sich mein entsetzlich menschliches, aus Blut und pulsierendem Stoff bestehendes, in handgreiflichen Dingen lebendiges Leben abspielt. Wir waren nicht zusammen mit allen Teilen unseres Wesens. Denn riesengroß sind in mir die primitiv menschlichen, einfachen, großen Sehnsüchte. Auch das Kunstgefühl in mir ist von solcher Art. Und für das Leben haben eben sie die Dominanz. Und ebenso stark ist in mir die Vorliebe für die in keinerlei Kunstkategorien vorkommenden und in ihnen nicht ausgedrückten Freuden.

1. Sprecher: Der Vorwurf einer Frau kann wirklich nicht elementarer sein! Und die Offenheit der Irma Seidler ist regelrecht erschreckend! Wie reagiert Lukács?

2. Sprecher: Dem Vorwurf angemessen, antwortet Lukács mit einer Selbstmordankündigung.

1. Sprecher (erstaunt): Hätte mir das früher jemand gesagt, ich hätt mir nicht vorstellen können, dass er das ernst meint!

2. Sprecher: Genau, er hatte es "nur" theoretisch vor, was für Lukács damals viel entscheidender war, als es tatsächlich zu tun. Immerhin galt ihm die geistige als primäre Wirklichkeit... Dafür nimmt sich Irma Seidler drei Jahre später das Leben – ohne schriftliche Ankündigung! Darauf komme ich noch zurück. Jetzt will ich Sie auf die Sackgasse aufmerksam machen, in der sich Lukács befindet. Er versteht, daß nicht mal der Tod die „Vollendung seiner Philosophie“ hätte sein können! Gerade das ist aber das Wesentliche bei seiner Betrachtung von Novalis und dessen "Lebensphilosophie des Todes" in seinem Essay über den Frühromantiker ...

1. Sprecher (einfallend): Jetzt verstehe ich den Ausspruch von Ernst Bloch über den jungen Lukács, nämlich daß dieser sich nicht damit begnüge, über Ethik zu schreiben, er lebe auch danach! Erkennt Lukács nicht, daß auch das alltägliche, egoistische, gemeine Leben real und nicht wegzuphilosophieren ist?

2. Sprecher: Sehr langsam nur! Vorerst gefällt er sich in einer Apologie des psychischen Leidens nach Nietzsches Vorbild, schafft es aber nicht, die "undurchdringliche Maske" seiner Klugheit abzulegen. Aus dieser weihevollen Untergangsstimmung reißen ihn sein bester Freund der Essayperiode, der Kunsthistoriker Leo Popper, und Hilda Bauer, die Schwester von Bela Balazs. Fünf Monate nach der Trennung von Irma Seidler geht er mit ihr das neue Liebesverhältnis ein, zumal Hilda Bauers Mentalität völlige Ergebenheit entspricht:

Bauer: Schonen Sie die Frauen nicht, bedauern Sie sie nicht, damit entwerten Sie sie. Wir sind nicht da, um Hindernisse, sondern um Stufen zu sein, über die die Männer höher steigen.

1. Sprecher: Das läßt sich Lukács nicht zweimal sagen!?

2. Sprecher: Sehr richtig! Im Sommer 1909 fährt er zu ihr nach Ammerland, wo es zu "Entgleisungen" kommt.

1. Sprecher (erstaunt): Wie alt ist Lukács, da er seine asketische Erstarrung aufgibt?

2. Sprecher: Vierundzwanzig. Die Beziehung wird nicht fortgeführt, das breitere Fundament der Ehe verursacht ihm schon als Vorstellung schlaflose Nächte.

1. Sprecher: Ich verstehe. Seine Ablehnung des von Doppelmoral gekennzeichneten bürgerlichen Lebens umfaßt auch die bürgerlich-sanktionierten Institutionen, wie beispielsweise die Ehe ...

2. Sprecher (ausrufend): Bei dieser "gesellschaftlichen Moral" der puritanistischen High-Society in der Habsburger Doppelmonarchie! Was erwarten Sie!? Zudem dürfte sich Lukács noch sehr gut an das steril-protokollierte Ehegebaren seiner Mutter erinnert haben. Oder an die damals von ihm verlangten "Küß die Hand"-Floskeln ... Nein, Ehe wird für den aristokratisch verzogenen und frustrierten jungen Mann erst möglich, wenn sie den Rahmen der Bürgerlichkeit sprengt.

1. Sprecher (ironisch): Wir leben zum Glück nicht mehr in der "Welt von Gestern"... Sie wollten noch über den Freund erzählen, den er so vergöttert:

2. Sprecher: Ja, Leo Popper, den Lukács als Genie bewunderte. Für Popper sind die verschiedenen Essays Lukács' – über Storm, George, Sterne, Kassner, Paul Ernst – "Lebensbewältigungen", insofern ist er der einzige, der Lukács durchschaut. Er hatte im Juni 1908 Irma Seidler und Lukács nach Florenz begleitet und das Werden wie das Ende ihrer Liebe beobachtet. Durch seine Kritik will er die humorlose, ins Tragisch-Düstere stilisierte Weltanschauung seines Freundes in eine heitere Region verwandeln.

Popper: Äußerlich sieht es so aus, als sammelst Du für die Dichter-Monographien Lebenserfahrungen, nur wer gut hinschaut, bemerkt, daß es umgekehrt ist. Und innerlich, was die auf Dich fallenden Reflexe deiner Schriften anbelangt: Sie enthalten so viel Resignation und Trauer, daß sie der vorherigen, äußerlichen Auffassung gleichsam als Nährboden dienen. Wie ich Dich kenne, fürchtest Du dich schon jetzt, man könnte etwas von Deiner Lyrik merken und davon, daß Literatur für Dich nur eine Gelegenheit zum Selbstporträtieren ist. Doch darf man aus den Menschen nicht die Frage herauskitzeln, wie der Kassner dazu kommt, den Georg Lukács zu symbolisieren. Daß Deine Essays lyrisch sind, wissen die Leute schon daher, daß sie sie nicht verstehen. Warum soll also das einzige, was sie endlich mitbekommen, soviel sein, daß das ganze Mysterium der Verfasser selbst ist?

1. Sprecher: Hilft die radikale Kopfwäsche? Oder hat sich Lukács so sehr in seine essayistische Lebensweise vernarrt, daß er die Sehnsucht nach einem wirklich eigenen Ich nicht mehr spürt?

2. Sprecher: Sie haben das zentrale Problem erkannt; sein Essayband hätte auch den Titel "Die Sehnsucht und die Formen" haben können! In den lebensphilosophischen Essays steht nicht, wie im Dramenbuch, die soziologische, sondern die existentielle Problematik im Vordergrund. Doch stets wird die soziologische mitgedacht. Entgegen dem gebräuchlichen neukantianischen Modell, welches das Sein sich umstandslos nach dem Denken richten läßt, strebt Lukács eine Versöhnung der Antinomien durch seinen Formbegriff an! "Form" wird so zum Lebenselixier.

1. Sprecher (einfallend, zitierend): "Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln wird" ...

2. Sprecher (fortfahrend): Von Leo Poppers Kunstphilosophie beeinflußt, zählt er jedes künstlerische Werk zum Kitsch, das das Formprinzip sprengt, zerstört. Diesen Ordnungsfimmel hat er sich bis ins hohe Alter bewahrt.

1. Sprecher (leise): Das Schlimme ist nur, daß andere ein Dogma daraus machten.

2. Sprecher: Wir wollen nicht ... auf diese späten Debatten eingehen, die unfruchtbar-selbstzerstörerisch waren! (fortfahrend) Für Lukács bedeutet die ausbleibende Reaktion auf seinen 1910 erschienenen Band "Die Seele und die Formen" eine persönliche Niederlage. Sicher, Lukács ist ein bekannter Mann, was ihm auch sein Freund Bela Balazs bestätigt, doch die erhoffte Anerkennung kommt nicht. Da nützt es auch nichts, daß seine Aufsätze und ersten Bücher von den ungarischen Insidern gelesen werden, daß er eine bedeutende philosophische Zeitschrift gründet, die zwei Nummern erlebt, daß er mit Balazs versucht, aus der Zeitschrift "Renaissance" ein eigenes Organ zu machen. Er bleibt im geistigen Leben Ungarns ein Outsider: durch die starke geistige Bindung an die deutsche philosophisch-dichterische Tradition, durch die strikte Ablehnung seiner anachronistischen Heimat, das habsburgische Österreich-Ungarn, das ihm wie eine zur Zerstörung bestimmte Sinnlosigkeit erscheint. Im selben Jahr reist er für mehrere Monate nach Berlin und Florenz. Aus der Berliner Ferne zieht er resigniert Bilanz, was zugleich ein Loslösen von der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik anzeigt:

Lukács: Was ich im Frühjahr anfing, ist, wie es scheint, gelungen: die Ausschaltung des "Lebens". Das bedeutet nicht unbedingt Askese. Das bedeutet lediglich, daß der Schwerpunkt von allem endgültig und nunmehr unerschütterlich in der Arbeit liegt. Jene Art von "Liebe", die es da gab – Liebe als ganzes Leben sozusagen – ist jetzt erledigt. Daneben sind Frauen, vielleicht sogar eine Ehe durchaus möglich. Nur hat alles einen ganz anderen Wert als damals. Ich muß so unendlich viel lernen, bis die Dinge in mir vollends klar werden, bis das, was ich sage, wissenschaftlich stichhaltig wird – daß ich nicht weiß, wie weit ich bin. (Unter "wissenschaftlich" verstehe ich, was zum Beispiel Hegel dazu sagen würde; nicht dasselbe wie im Frühjahr.) Was mir zu leisten gestattet ist, das bin ich; wissen kann ich das nicht, nur es suchen, doch ich: ich bin eben das Suchen ...

2. Sprecher: Wie Sie sehen, wir haben's mit einer doppelten Neuorientierung zu tun – wenn ich das so sagen darf. Die erste ist die Entscheidung, sich ganz dem Werk zu widmen, eine Sache, die sich lange ankündigte und der er bis zu seinem Lebensende treu bleibt. Man erzählt sich, daß Lukács bis ins hohe Alter nicht mal einen Nagel in die Wand schlagen konnte. Auch hierin bleibt er also konsequent! Die zweite, für seinen Weg zum Marxismus äußerst entscheidende Neuorientierung, bedeutet seine Wende zu Hegel. Die Ethik der essayistischen Lebensform überwindet er und damit auch die Verzweiflung, die aus dem uralten Zwiespalt dieser Form entsteht.

1. Sprecher: Was für einen Zwiespalt meinen Sie?

2. Sprecher: Den zwischen Kunst und Wissenschaft. Lukács löst ihn zugunsten letzterer auf, behält aber bei seiner weiteren wissenschaftlichen Forschung das künstlerisch-brisante Problem der Totalität und Entfremdung als zentrales bei ...

1. Sprecher (einfallend): Aha. Mir fällt jetzt auf, dass das auch das Neue ist, was Lukács Anfang der zwanziger Jahre mit seiner Schrift "Geschichte und Klassenbewußtsein" in die philosophische Diskussion um den Marxismus einbringt. (überlegend) Wie kommt er aber auf Hegel, der ihm diese Sicht überhaupt erst ermöglicht? Sie sagten doch, daß in Ungarn vor allem Kant gelehrt wurde.

2. Sprecher: Er kannte natürlich Diltheys "Jugendgeschichte Hegels" von 1906, die zusammen mit anderen Schriften den allgemeinen Übergang vom Neukantianismus zum Neuhegelianismus vorbereitete. Aber ausschlaggebend war die Bekanntschaft mit dem gleichaltrigen Philosophen Ernst Bloch, den er 1910 in Budapest kennenlernt. Bloch, der Marx und Karl May für die originellsten Schriftsteller hält, tut so, als hätten nach Kant, Hegel und Marx keine anderen Philosophen existiert. Das beeindruckt Lukács. Bloch dagegen ist von Lukács nach ihrer ersten Budapester Begegnung enttäuscht. Die Schriftstellerin Emma Ritook erzählt Lukács davon. Seine Antwort, daß man als guter Philosoph kein Menschenkenner sein muß, gefällt Bloch so gut, daß sie zur Grundlage einer langen Freundschaft wird.

1. Sprecher: So finden sich nur große Geister... Ist das nicht die Zeit, da Lukács nach Heidelberg geht und dort sein zweites Buch "Die Theorie des Romans" in Deutschland veröffentlicht?

2. Sprecher: Seien Sie nicht so ungeduldig! Tatsächlich findet die Übersetzung des Essaybandes in Deutschland einen größeren Anklang, und seine Freunde dort, Paul Ernst, Franz Baumgarten, sowie sein ehemaliger Lehrer Georg Simmel, aus dessen Kreis auch Bloch stammt, setzen sich für das Werk Lukács' ein. Doch erst, nachdem 1911 Irma Seidler nach einer unglücklichen Ehe und einem mißglückten Liebesverhältnis mit Balazs Selbstmord begeht und Leo Popper wenige Monate später an Tuberkulose stirbt, hält ihn nichts mehr in Ungarn.

Lukács: Das Alleinsein, das ich wollte, stürzte jetzt auf mich ein als Urteil des Lebens. Wenn irgend jemand sie hätte retten können, wäre ich es gewesen..., und ich wollte und konnte es nicht: ich war ihr "guter Freund", ich weiß – doch nicht dies hatte sie nötig. Anderes. Mehr. Dann starb Leo. Jetzt ist alles anders. Jetzt bin ich wieder in mich selbst zurückgesunken. Nacht und Leere umgeben mich. Alle Bande sind gerissen. Und jetzt gibt es nur Zielgemeinschaften; und Dinge; und Arbeit.

2. Sprecher: Lukács packt seine Koffer und fährt nach Florenz, wo er den ganzen Winter bleibt und, von Bloch dazu aufgefordert, an einer systematischen Ästhetik arbeitet. Bloch ist es auch, der ihn im Frühjahr 1912 überredet, sich in Heidelberg niederzulassen, dem damaligen geistigen Zentrum Deutschlands.

1. Sprecher: Und bis wann bleibt Lukács in Heidelberg?

2. Sprecher: Mit kleineren oder größeren Unterbrechungen bis 1918. In Heidelberg verschaffen ihm seine Beziehungen und seine Schriften schnell den Zugang zu den sonntäglichen Teenachmittagen bei Max Weber und den soziologischen Abenden bei dessen Bruder Alfred Weber.

1. Sprecher: Nach der tragischen Zeit in Ungarn muß ihm die sture deutsche Geistigkeit in diesem Brutkasten bürgerlichen Theoretisierens sehr wohl bekommen sein. Studiert er bei Max Weber?

2. Sprecher: Lukács studiert bei niemandem! Er kommt nach Heidelberg als geltungsbedürftiger, aber selbstbewußter Philosoph. Er führt zwischen 1912 und 1914 den Plan einer "Heidelberger Philosophie der Kunst" aus. Und den Gegensatz zu den edlen Vertretern des süddeutschen Neukantianismus dokumentiert schon die geistige Symbiose mit Bloch. Sie waren sich so ähnlich in ihren Anschauungen, daß sie wie "kommunizierende Röhren" funktionierten und einen "Naturschutzpark der Differenzen" bauen mußten, um vor dritten Personen nicht dasselbe zu sagen!

1. Sprecher: Alles beginnt mit Hoffnung! Auch wenn's nicht zum Prinzip werden kann. Nach dem Fragmentarismus seiner früheren Jahre erscheint ihm wohl die Hegelsche Philosophie wie eine Offenbarung.

2. Sprecher (sachlich): Anders als der Neukantianismus und Positivismus ermöglicht der Hegelsche Idealismus eine synthetische Weltsicht. Totalität in ihren kosmischen Dimensionen – das ist Lukács' neues Schlagwort.

1. Sprecher (lacht): Jetzt wird mir einiges klar! Beispielsweise seine fast pathologische Abneigung in den folgenden Jahrzehnten gegenüber allem Montierten, Expressionierten, Surrealen ... kurz: gegenüber allen untotalitären Kunstformen. Für ihn war das alles der Rückfall in eine romantisierende Fragmentphilosophie. (barsch) Übrigens glaube ich, Lukács wählt das Hegelsche System auch aus Gründen der Eitelkeit: Erstens mißtraut er zutiefst allen institutionalisierten Philosophien, seit seiner Kindheit hält er grundsätzlich zur Opposition; zweitens hegelianisiert außer seinem Freund Bloch kein anderer weit und breit. Er ist immer Individualist geblieben.

2. Sprecher (kritisch): Sie sind also wie Bloch der Meinung, Lukács sei ab dieser Zeit ein ausgekochter Neoklassizist gewesen, der alles Formzerstörende als dekadent und als "Falschmünzerei" bezeichnet!

1. Sprecher (bedeutsam): Wer will es ihm verübeln, daß er das Klassisch-Universale auch noch in den Himmel hebt?! Das zeugt doch nur von seiner – wie Sie sagen – konsequenten Haltung: die Welt als Psychotest!

2. Sprecher (intervenierend): Das geht zu weit! Sie quacksalbern! (ruhig) Ich werde Ihnen das erklären... Im Mittelpunkt von Lukács' Heidelberger Kunstphilosophie steht die Suche nach dem "Begriff", der die "leer und sinnlos werdende Wirklichkeit" zumindest benennen könnte. Doch die theoretisch-ästhetische Klärung gelingt nicht. Die Ästhetik scheitert gerade daran: weil in der Wirklichkeit der Sinn fehlt. Und worin, denken Sie, sieht Lukács die Alternativen zur bürgerlichen Welt?! (auftrumpfend) In den gegen den Zarismus gerichteten Bomben der russischen Anarchisten und in den Werken Dostojewskis, die die bürgerlich-frigide Pseudomoral total negieren. Was, meinen Sie, sollten die Bomben anderes bewirken, als die bestehende gesellschaftliche Formation zu zerstören und wenn möglich in die Luft zu jagen?

1. Sprecher: Das ist purer Extremismus!

2. Sprecher (überlegen): Auch als Philosoph kann man extrem sein. Wir haben ja heute noch die Schriftsteller... Doch Lukács geht einen Schritt weiter: Er heiratet!

1. Sprecher (entgeistert): Was?! Er heiratet?

2. Sprecher: Eine russische Anarchistin! So ist – unter solchen Vorzeichen – von vornherein eine bürgerliche Ehe, wie sie Lukács fürchtete, nicht möglich. Übrigens ist es Ihr vielgeliebter Bloch, der Lukács' Frau, die Malerin Jelena Grabenko, treffend charakterisiert:

Bloch: Sie war eine aktive Revolutionärin, die während der Revolution von 1905 in der Ukraine an Bombenattentaten mitgewirkt hatte. Bei einer dieser Aktionen war zum Beispiel eine Bombe in einem Kissen versteckt worden, auf dem ein Baby lag, als deren Mutter sich die Grabenko ausgab; sie hatte den Auftrag, diese Bombe explodieren zu lassen. Dabei konnten sowohl das Baby wie auch sie selbst ums Leben kommen. Dies beeinflußte Lukács' Ethik in durchaus erotischer Weise.

1. Sprecher: Ein bombenliebender Hegelianer – Sie müssen schon entschuldigen, das ist zu viel!

2. Sprecher: Was wollen Sie denn! Im Grunde offenbart das doch einen religiösen Glauben an die den Menschen und seine Fähigkeit, die Welt spontan zu verändern. Einen bodenlosen Utopismus, den sich Lukács über das intensive Erleben der modernen Literatur erworben hatte. Denken Sie nur an Rilke, Zola, Kafka, Gorki und an die Gedichte des Ungarn Endre Ady.

Lukacs: Bei Ady wird von Anfang an jene "Ich lasse mich nicht kommandieren"-Haltung deutlich, die bei mir Hegels Phänomenologie und Logik immer als Begleitmusik untermalt hat. Das ergab eine „Mischung“, die in der damaligen Literatur noch nicht existiert hat: daß jemand als Hegelianer gleichzeitig einen linken und sogar, bis zu einem gewissen Grad, einen revolutionären Standpunkt einnahm.

2. Sprecher: In dieser geistigen Verfassung lernt Lukács also 1913 in der italienischen Küstenstadt Bellaria Jelena Grabenko kennen und heiratet sie ein Jahr später in Heidelberg.

1. Sprecher (zweifelnd): Geht nun diesmal alles gut?

2. Sprecher: Je nachdem, was Sie darunter verstehen. Zwischen den beiden harmoniert es nicht besonders. Bela Balazs, der Lukács in Italien begleitet hatte, vermerkt in seinem Tagebuch, daß Lena für Lukács eine "Versuchsstation, eine menschliche Realisierung seiner Probleme und ethischer Imperative" sei.

1. Sprecher: Die Ehe als "Versuchsstation", als Exotikum, als in der Realität nicht existierender Ort anarchisch vollendeter Freiheit: das paßt wieder zu Lukács – und zu Hegel! Sehen Sie, das Idealische, das Durchgeistigte läßt sich nicht unterkriegen!

2. Sprecher: Da mögen Sie recht haben. In dieser Beziehung ist Lukács ein Pragmatiker. Eine Heirat nämlich bedeutet für die aristokratisch-intellektuellen Kreise Heidelbergs die erste Stufe bürgerlicher Seriosität. Und da Lukács Habilitationsabsichten hegt, muß er auf Konventionen achten! Doch während des Krieges, der auch verhindert, daß er zu einem "interessant-exentrischen Privatdozenten" wird, trennen sie sich. Lena lebt bis Kriegsende mit einem Musiker zusammen, Lukács bleibt loyal! Er läßt sich erst nach dem Krieg von ihr scheiden. Eigentlich ist die Ehe mit ihr nur ein verzweifelter Versuch, nicht nur geistig, sondern auch im realen Alltagsleben der Bürgerlichkeit zu entkommen. Seinem Ausspruch: "Das Äußere ist nicht zu ändern – schafft eine neue Welt aus dem Möglichen!" folgt er als erster.

1. Sprecher: Ist das nicht traurig!?

2. Sprecher: Was?

1. Sprecher: Wie er sich rumquält, wie er sich ernst nimmt, wie er aus jedem theoretischen Gedanken, von dessen Richtigkeit er überzeugt ist, eine praktische Konsequenz zieht ...

2. Sprecher (verblüfft): Wieso ist das traurig? Heute ist's doch viel trauriger, da schon die Sehnsucht nach Substanz keine Rolle mehr spielt und die Jugend nur immer melancholischer wird, selbst nicht wissend, daß es so ist!

1. Sprecher: Da pflichte ich Ihnen bei. Der Himmel ist immer noch geteilt, doch die Hoffnung fiel in die Spalte zwischen den Hälften.

2. Sprecher (betont): Ich würde diese extreme Formulierung nicht unterschreiben. Bei Ihrer Bloch-Verehrung und bei dessen Einfluß auf Lukács... Ich erhebe Bloch nicht zum marxistischen Theoretiker! Er ist für mich ein Künstler, ein Sprachkünstler, mit einer tiefen marxistischen Gesinnung. Seine Schriften sind immer essayistisch geblieben, durchtränkt von einer religiösen Zuversicht in die Zukunft. Er macht nicht den Schritt zur praktischen Politik, während Lukács immerhin langjähriger Funktionär der Kommunistischen Partei Ungarns gewesen ist. Aber das soll keine Forderung sein! In unserer Zeit ist Blochs Hoffnungsphilosophie mit ihrem phantasievoll aktivierenden Optimismus sehr wichtig. Die sollten Sie sich zu eigen machen! Sie beeindruckt 1913 auch Lukács. Von beiden ging in Heidelberg die Sage, sie seien Gnostiker. Auf die Frage nach den vier Evangelisten antwortete man damals: Marcus, Matthäus, Lukács und Bloch! Doch zurück zu Lukács' Ehe. Bloch als auch Balazs machen auf jenen Irrtum aufmerksam: Lena Grabenko gleicht nach beider Zeugnis so sehr einer Schöpfung Dostojewskis, daß Lukacs es schwer hat zu begreifen, daß sie keine ist!

1. Sprecher: Vielleicht würde uns eine solche fatamorganisierende Erscheinung auch nicht schaden! Hintergrund dafür sind 1914 die antibürgerlichen Moralauffassungen Dostojewskis? Ich kann das gut nachvollziehen, zumal Dostojewski für viele radikale Intellektuelle die einzige Alternative bietet, weil die Analyse seines Lebens und Werks Lösungen verspricht – so schreibt Karl Mannheim bereits 1912 an Lukács – und auch weil Dostojewskis Welt mit ihrer eigenen in hohem Maße verwandt ist, samt all ihrer Mißstände, Unerfülltheiten und Verzerrungen.

2. Sprecher: Diesen Messianismus überträgt Lukács in seiner ersten marxistischen Periode auf die Arbeiterklasse. Neu ist mir nur, daß seine Hinwendung zur Ethik, die ihn schließlich zur Revolution führt, schon vor dem ersten Weltkrieg beginnt.

1. Sprecher: Ja, noch 1913 hofft Lukács, der entsetzt ist angesichts des „geistigen Niedergangs Deutschlands“, auf ein "Wiedererwachen der deutschen Philosophie und Religiosität", auf die Gemeinschaft einer "unsichtbaren Kirche" für das desorientierte, verlassene Individuum. Die ethische Komponente macht deutlich: Lukács wird zu einem Zoon politikon! Mit Ausbruch des ersten Weltkrieges treten die ästhetischen Fragestellungen noch mehr in den Hintergrund, und an deren Stelle kommt nun Geschichtsphilosophie.

2. Sprecher: Ich würde so weit gehen zu behaupten, daß Lukács mit Kriegsbeginn das akademische Theoretisieren bleiben läßt und in der "Theorie des Romans", die das Einleitungskapitel einer nicht fertiggestellten Dostojewski-Monographie bildet, die ganze existierende Gesellschaft als unmenschlich verwirft.

1. Sprecher (stolz): Ist mir bekannt! Fichte folgend, charakterisiert er die Gegenwart als eine "Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit" und den sie widerspiegelnden Roman als "Epopöe der gottverlassenen Welt". Darum mißt er der Innerlichkeit eine immer größere Bedeutung bei, aber daß damit von Lukács die politische Konsequenz gezogen würde – das scheint mir überinterpretiert!

2. Sprecher: Natürlich kann in Lukács' Verständnis jeder Mensch für sich das Primat der Seele behaupten. Doch gerade im Krieg wird die Nivellierung des Einzelnen innerhalb der sich abschlachtenden Menge offenkundig, ist eine unentfremdete Lebensform völlig ausgeschlossen, ja erweist sich "die Wesensverschiedenheit von Ich und Welt, die Inkongruenz von Seele und Tat", als eigentliches Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft.

1. Sprecher: Und wie steht Lukács zu den verschiedenen politischen Systemen?

2. Sprecher: Er lehnt alle am Krieg beteiligten Staaten mit ihren verschiedenen Systemen als unmoralisch und wertzerstörend ab: das zaristisch-absolutistische Rußland, die westlichen Demokratien Frankreichs und Englands, die Monarchien der Hohenzollern und Habsburger.

Lukacs: Es ist eine Todsünde an den Geist, was das deutsche Denken seit Hegel erfüllt: jede Macht mit metaphysischer Weihe zu versehen. Eine metaphysische Realität besitzt aber nur die Seele, nicht der Staat. Und hier muß – um die Seele zu retten – gerade die Seele geopfert werden: Man muß, aus einer mystischen Ethik heraus, zum grausamen Realpolitiker werden und das absolute Gebot, das "Du sollst nicht töten", verletzen. Aber im letzten Wesenskern ist es ein uraltes Problem, das vielleicht Hebbels Judith am schärfsten ausspricht: "Und wenn Gott zwischen mich und meine Tat eine Sünde stellen würde, was bin ich, das ich mich ihr entziehen dürfte?" Nur die Situation ist neu, und die Menschen sind die einer neuen Zeit.

1. Sprecher (beeindruckt): Vom Haß auf die Heuchelei des bourgeoisen Elternhauses bis zum Haß auf alle bürgerlichen Staatsformen: Es war mühsam erlebte Erkenntnis. Lukács ist, da er das 1915 schreibt, dreißig Jahre alt. Und er ist in seiner politischen Anschauung radikalisiert. Ich verstehe, wenn Sie sagen, daß die Oktoberrevolution den Ausweg aus dieser alternativlosen Welt bedeutete.

2. Sprecher: Den Übergang zum Kommunismus vollzieht er theoretisch im Herbst 1918 mit der kleinen Studie "Taktik und Ethik", die mit dem Hebbel-Zitat endet und die moralische Rechtfertigung für die revolutionäre Gewalt beinhaltet! In diesem Fall folgt der theoretischen Versicherung der praktische Beitritt zur Kommunistischen Partei Ungarns im Dezember 1918, einen Monat nach deren Konstituierung.

1. Sprecher: Ja, weil Lukács' Kommunismusauffassung durch und durch idealistisch geprägt ist, und wie Bloch richtig bemerkt, bedeutet die Oktoberrevolution für Lukács eine Erfüllung im theologischen Sinn – er findet endlich das Zuhause, das lang ersehnte. Der wahre Christus führt die Revolution an – wie in Alexander Blocks Poem "Die Zwölf" ...

2. Sprecher: Die Wende zur kommunistischen Theorie ist noch ganz anders heilsam. Sie haben zwar den permanenten Widerspruch zwischen einer eher konservativen Lebensphilosophie und einer tragischen linken Weltanschauung angedeutet, aber nicht ausgesprochen. Dieser Widerspruch wird nun aufgelöst: Anstelle der "rechten Erkenntnistheorie" jetzt der Marxismus.

1. Sprecher: Ja, das meinte ich – die psychotherapeutische Heilwirkung. Doch sagen Sie, kommt dieser Schritt im Dezember 1918 nicht etwas unvermittelt?

2. Sprecher: Mir scheint er eher logisch. Auch die drei Jahre unmittelbar davor bereiten den Entschluß Lukács' vor. Er muß vom Herbst 1915 bis zum Sommer 1916 nach Ungarn zurückkehren und kann, trotz eines ärztlichen Attestes vom Psychologen Karl Jaspers, seine Befreiung vom Militärdienst nicht verlängern. Er dient als Hilfssoldat bei der Briefzensur, nachdem der Einfluß des Vaters Schlimmeres verhindert hatte. In dieser Zeit trifft er sich im Hause Balazs' jeden Sonntag mit Karl Mannheim, Emma Ritook, Arnold Hauser und anderen, um über Literatur, Philosophie und Religion zu sprechen.

1. Sprecher (einfallend): Der berühmte "Sonntagskreis", der von fünfzehn bis drei Uhr morgens tagte. Arnold Hauser macht darauf aufmerksam, daß zehn von zwölf Stunden Lukács sprach und daß Politik kaum eine große Rolle spielte. Die Basis des Kreises bildete wohl die Kriegsgegnerschaft. Wenn man die unpolitische Haltung dieses eher pazifistischen Kreises bedenkt, verblüfft der Schritt zur KP noch mehr.

2. Sprecher: Der abgrundtiefe Haß macht, daß Pazifismus nicht zum Problem wird, nicht zu einer neuen Sackgasse in einer ausweglosen Welt. Zudem wird Lukács politische linke Ethik radikalisiert; er liest Rosa Luxemburgs Schriften und lernt über Ervin Szabo, den marxistischen Führer der linken Sozialdemokratie, die Theorie der französischen Syndikalisten kennen.

1. Sprecher: Ach, Sorel muß ihm sehr entsprochen haben: dessen Unerbittlichkeit gegenüber jedem Opportunismus und auch die Mystifizierung der "Partei" ... Dann konnte er ja in der Revolution die Verwirklichung seiner inneren Vision sehen!

2. Sprecher: Doch zu diesem Entschluß bedarf es noch des Anstoßes einer Frau.

1. Sprecher: Hat Lukács von Frauen nicht genug?

2. Sprecher (bedeutsam): Jetzt sind es doch Lebensentscheidungen und keine Experimente mehr! Der Partei und der neuen Frau bleibt er bis zu seinem Lebensende treu!

1. Sprecher: Soso!

2. Sprecher: Die Liebe fürs Leben ist Gertrud Bortstieber, die später bekannte Marxistin und Nationalökonomin, die für Lukács eine Art "Weltidee im Weibe" repräsentiert!

1. Sprecher: Was meinen Sie denn damit?

2. Sprecher: Gertrud Bortstieber, die mit einem Mathematiker verheiratet ist und zwei Kinder hat, kennt Lukács seit seiner frühen Kindheit. Schon 1906 schreibt sie ihm einen Brief, wo sie bedauert, dass ihre Beziehung nur rein freundschaftlicher Natur ist.

Bortstieber: Ihre Gedanken habe ich ohne jeglichen Widerstand aufgenommen – kritisieren will ich nicht, halte mich auch nicht kompetent genug dafür, und schließlich wünschen Sie ja auch nicht das, sondern nur, daß ich "aufnahmebereit" lese. Diese Rolle übernehme ich jederzeit gerne, wann immer Sie einen Leser brauchen, stehe ich Ihnen mit größtem Vergnügen zur Verfügung. Ich bedaure sehr, daß ich kaum eine Gegenleistung von Ihnen werde erbitten können.

1. Specher (amüsiert): Gut, das überzeugt mich. Und sie rät ihm, in die Partei einzutreten?

2. Sprecher: So ist's! Und er widmet ihr das geistige Produkt dieses Umwandlungsprozesses, sein Buch "Geschichte und Klassenbewußtsein". Wie er zuvor "Die Seele und die Formen" Irma Seidler sowie "Die Theorie des Romans" Jelena Grabenko widmete.

1. Sprecher (bewundernd): Für jede Etappe seines Lebens ein Buch und eine Frau – wahrlich, da kann man von "gelebtem Denken" sprechen!

Lukács: Ich weiß nicht, ob ohne Gertrud die innere Umwandlung meines Denkens zwischen 1917 und 1919 verwirklichbar gewesen wäre. Nicht nur, weil jetzt – zum erstenmal im Leben – weltanschauliche Entscheidung = Änderung der ganzen Lebensweise, sondern zugleich als Weltanschauung Alternativen ganz anderer Art.

1. Sprecher: Und so wird der Sohn eines der reichsten Bankiers Ungarns, eben dieser Georg von Lukács, über Nacht zu einem der wichtigsten Organisatoren der Ungarischen Revolution von 1919?

2. Sprecher: Ja, bereits im Januar 1919, einen Monat nach seinem Beitritt zur KP, wird er in das sogenannte "zweite Zentralkomitee" kooptiert und nach Ausrufung der Ungarischen Räterepublik im März ist er stellvertretender, ab dem Sommer allein verantwortlicher Volkskommissar für Unterrichtswesen und Politkommissar der 5. Roten Division an der Front gegen die Armeen der Entente. In dieser Funktion läßt Lukács sechs Soldaten erschießen, weil sie beim ersten Feuer der Schlacht davonliefen. Hier merken Sie sehr deutlich jene Ernsthaftigkeit, auf die ich vorhin schon hindeutete.

1. Sprecher: Sie haben mich überzeugt, besser gesagt, Ihr Nachvollzug von Lukacs' Beharrlichkeit hat mich überzeugt ... Außerdem denke ich, daß dieser Widerspruch zwischen aristokratisch-bürgerlicher Herkunft und revolutionärer Gesinnung sich als fruchtbare Quelle für die Produktion eines ganzen Lebens erweist!

2. Sprecher: Ja, diese Antinomie fiel schon damals auf, z.B. im Sommer 1919 dem englischen Korrespondenten an der Front:

Korrespondent: Lukács geht in einer Lederjacke umher, ein ernsthafter kleiner Professor, sehr gebildet und intelligent, liebenswürdig und humorvoll, seine plötzliche Umwandlung amüsiert ihn riesig. Aber auch er kämpft mit, geht mit den Soldaten in die Schlacht.

1. Sprecher: Verblüffend! Aktivismus ist nun nicht mehr Anarchie, es ist verwirklichte Sehnsucht? Wär's nur heute auch möglich – im Zeitalter der Fernziele und Sternenkriege! Aber bedenkt man, was noch folgt in Lukács' Leben, findet der Spruch "Ende gut, alles gut" keine rechte Anwendung!

2. Sprecher: Völlig richtig, jetzt fängt’s erst richtig an – das, was er selbst später als Lebenswerk gelten lassen wird!

1. Sprecher: Und was wird man von unserem Gesagten gelten lassen? ... (zitierend) "Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen"!

2. Sprecher: Resignieren Sie nicht, auch wenn die Zeit danach sein sollte – Rilke schrieb sich heraus aus den Verzweiflungen seiner Zeit. Uns beiden aber wird bleiben: das ernsthafte, oft ausweglose Suchen nach der persönlichen Wahrheit, nach einer unentfremdeten Seinstotalität. Vielleicht ist gerade dieses Suchen die neue Substanz, der neue Widerhall in diesem so abgedroschen klingenden Satz:

Lukács: Die Weltanschauung ist ein tiefes persönliches Erlebnis des einzelnen Menschen, ein höchst charakteristischer Ausdruck seines inneren Wesens, und sie widerspiegelt gleichzeitig bedeutsam die allgemeinen Probleme der Epoche.


© Asteris Kutulas, 1985



Nachtrag

Als Georg Lukács im Januar 1919 ins „zweite Zentralkomitee“ der Kommunistischen Partei Ungarns (nach der Verhaftung der Mitglieder des „ersten Zentralkomitees“ unter Bela Kun) berufen wurde, war er gerade erst seit einem Monat Mitglied der Arbeiterpartei. Der adlige Sohn der reichsten Bankiers Ungarns und einer der bekanntesten bürgerlich-liberalen Philosophen nahm schon drei Monate später den Posten des Volkskommissars für das Schulwesen in der Ungarischen Räterepublik an und beteiligte sich als Politkommissar bei der militärischen Verteidigung der Revolution gegen die Entente.

Der feine Widerspruch, der sich in gewisser Weise als fruchtbare Antinomie erwies, und für die uns bekannte literaturwissenschaftliche Produktion seines ganzen weiteren Lebens reichte, fiel damals schon auf: „Er geht in einer Lederjacke umher, ein ernsthafter kleiner Professor, sehr gebildet und intelligent, liebenswürdig und humorvoll – seine plötzliche Umwandlung amüsiert ihn riesig ... Aber auch er kämpft mit, geht mit den Soldaten in die Schlacht ... ‚Wir stehen im Krieg’, sagte Lukács, als ich wegen der Erschießung von sechs Mann aus jener ersten Kompanie protestierte, die ‚beim ersten Feuer einfach davonliefen’. ‚Im Krieg müssen Deserteure und Verräter erschossen werden. Wenn nicht, gut, dann lassen wir einfach die Tschechen herein, und die Revolution ist vorbei.’“ (LiB,103) Verblüffend sind Worte und Haltung eines Menschen, der bis dahin stets abseits von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und politischen Fragestellungen stand und den nach eigener Aussage nur der Erste Weltkrieg daran gehindert hatte, „ein ‚interessant’-exzentrischer Privatdozent“ in Heidelberg zu werden, also im damaligen Zentrum des süddeutschen Neukantianismus, der – Nietzsche, Freud, Dilthey etc. verinnerlichend –, versuchte, durch Vereinnahmung des Marxismus oder dessen Ablehnung gesellschaftliche Konzepte zu entwickeln, die dem kapitalistischen System eine theoretische Lebensbasis bieten sollten. (Das ist natürlich relativ zu sehen, wenn man die doch divergierenden Anschauungen von Lask, Weber, Windelband, Rickert, George, Gundolf etc. betrachtet.)

Daß Lukács’ Reaktion auf den 1. Weltkrieg im Gegensatz zu jener der Mehrzahl deutscher Intellektueller stand, die den Weltkrieg vorbehaltlos begrüßten und in ihm oft als Freiwillige dienten, zeigte sich in seiner moralisierenden Ablehnung des Kriegs, etwa in einem Brief vom April 1915 an den Freund und Schriftsteller Paul Ernst: „Die Macht der Gebilde scheint in stetigerem Zunehmen zu sein als das wirklich Seiende. Aber – dies ist für mich das Kriegserlebnis – wir dürfen das nicht zugeben. Wir müssen immer wieder betonen, daß das einzige Essentielle doch nur wir sind, unsere SEELE.“ Lukács’ Ablehnung des „Molochs des Militarismus“ (B,358) ist eine absolut theoretische, darum aber auch so elementare: sie behauptet die Autonomie des Individuums, die Autonomie der Seele gegenüber einer Kriege gebärenden Gesellschaft.

Umso verblüffender dann die Wandlung: von diesem quasi pazifistischen Standpunkt hin zu einem, der eine auch gewaltdoktrinäre Teilnahme an der Räterepublik-Regierung für akzeptabel hält. Diese Metamorphose der Gesinnung vollzog sich bei Lukács jedoch nicht radikal, sie war in seinem früheren Denken angelegt: mit vielen ästhetischen und philosophischen Problemen, die ihn schon in seiner Jugend beschäftigt hatten, schlug er sich auch unter den veränderten weltanschaulichen Prämissen noch sein ganzes Leben lang damit herum.

Letztendlich führte die Analyse der „Frage der Gewalt“ in der Geschichte Lukács dazu, Mitglied der Kommunistischen Partei zu werden; immerhin offenbarte diese Analyse, „daß die Theorie in den Köpfen der Menschen nicht genau das Gleiche bedeutet wie die Praxis“ (LiB,83). Das war eine wesentliche Erfahrung, die er auch in seiner Tätigkeit als Volkskommissar für Kultur und Schulwesen machen konnte. In der Zeit der Räterepublik von März bis August 1919 reformierte die Kulturpolitik der Kommunistischen Partei – die von Lukács entscheidend mitgeprägt und teilweise sogar gegen Widerstand durchgesetzt wurde – das kulturelle Leben Ungarns grundlegend. Das musikalische Direktorium leiteten Béla Bartók, Ernö Dohnànyi und Zoltàn Kodàly, im Schriftstellerdirektorium arbeiteten u.a. Babits, Kassak und Dery mit, auf dem Gebiet der bildenden Kunst wurde eine Sozialisierung von Kunstwerken organisiert, sämtliche wichtigen Positionen im Universitätsbetrieb wurden durch führende Repräsentanten der radikalen Lehrer-Gewerkschaftsbewegung neu besetzt.

Ähnlich Lenins Kampf (natürlich aus anderen Positionen heraus) gegen den „destruktiven Proletkult“, bekämpfte auch Lukàcs z.B. Kassaks Streben, „der offizielle Hofdichter des Kommunismus“ zu sein. In der Zeitung Vöros Ujság erschien am 19.4.1919 der Artikel „Zur Aufklärung“, der seine Position klar umreißt: „Das kommunistische Kulturprogramm unterscheidet nur zwischen guter und schlechter Literatur und ist keineswegs bereit, Shakespeare oder Goethe unter der Devise zu verwerfen, daß sie keine sozialistischen Schriftsteller waren. Es ist aber ebenso wenig bereit, unter dem Vorwand des Sozialismus den Dilettantismus auf die Kunst loszulassen ... Das Volkskommissariat für Unterricht will keine offizielle Kunst, aber auch nicht die Diktatur der Parteikunst. Der politische Gesichtspunkt wird noch lange ein selektierender bleiben, kann aber die Richtung der literarischen Produktion nicht vorschreiben. Er soll nur Filter, nicht aber Quelle sein.“ (LiB,98) Voilà, die Geschichte kann beginnen.

© Asteris Kutulas, 1986

 

In meiner Zeit als Student der Germanistik in Leipzig war ich glühender Anhänger von Ingeborg Bachmann, unter anderem wurde ich geprägt durch ihre Hörspiele. Das beflügelte mich, Mitte der achtziger Jahre auch ein Hörspiel zu schreiben, nachdem ich den Sog der Existenzialisten geriet, unter anderem Schopenhauers, Kierkegaards, Nietzsches und des jungen Lukacs’. A.K.

 

 

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