Auf der Suche nach der Ent-Wirklichung ...

... beim Lesen von Nietzsche, Hegel, Schopenhauer und anderen


24.4.81
Kulturkritik Nietzsches – Aktualität heute: Bedingungen / Bedürfnisse für Lebensphilosophie v.a. BRD, Westberlin, Italien, getragen durch viele konservative Denker, aber auch Beeinflussung von Humanisten, z.B. Thomas Mann, Hermann Hesse (Der Steppenwolf), Nikos Kazantzakis, Albert Schweizer bis hin zu sozialistischen Intellektuellen (Maxim Gorki & Lunatscharski). Und alle interessierte vor allem eins: die Umwertung des bürgerlichen Wertesystems
Beschäftigung mit Faust-Problem
„Auf den Spuren Zarathustras“ (siehe Marx und Nietzsche)
- jugoslawische Philosophie
- Marxisten in Frankreich, BRD, Italien
politische Note / durch deutsche Geschichte: Versuch, den Faschismus aus gesellschaftspolitischen Beziehungen herauszutrennen u.a. durch psychologische Deutungen (Jaspers, Marcuse, Heidegger, Finck)

Friedrich Nietzsche
Lange Freundschaft mit Richard Wagner. Professor für Philologie in Basel. Ab 1890 geistig umnachtet. 1900 gestorben (an Syphilis).
- erster Philosoph, der das liberale Bürgertum angreift und kritisiert
- Verzicht auf ein System, aber innerer Zusammenhang seiner Konzeption: „Umwertung aller Werte“. Nietzsches Zeitdeutung: Nihilismus, Dekadenz
- seine Zeit und ihre Ideen/ die geistige Kultur: nihilistisch! (Wirklichkeit gleich Leben)
- Losungen der Französischen Revolution nicht verwirklicht / auch nicht möglich / da Brüderlichkeit, Gleichheit etc. für Nietzsche durch Christentum geprägte falsche Werte darstellen / daraus entspringt die Notwendigkeit, neue Werte zu schaffen („Der Antichrist“)
- Umwertung: Rückgriff auf Sokrates / Beginn des Nihilismus / man muß aktiver Nihilist sein! (z.B. Schopenhauer) / nicht positiver Nihilist!
drei Kasten:
1. die Geistigen / herrschen
2. die Muskelstarken
3. die Mittelmäßigen
zu 3. alle Arbeitenden (weiter Begriff) / Grundlagen für Ausnahmen in der Gesellschaft (auch Kunstproduzenten)
- aus erster Kaste rekrutieren sich die Übermenschen
- Polemik gegen Rousseaus Staatsvertrag
Thomas Mann: 1947 / Ästhetizismus Nietzsches (50 Jahre vorher schon bei Franz Mehring)
- Bezugspunkt für Umwertung aller Werte: das Leben, das Dasein / schon bei Schopenhauer, aber Willen zum Leben bejahen bzw. verneinen ... gegen Willen zum Leben: Wille zur Macht (z.B. durch Kunst und Wissenschaft), siehe: Götzendämmerung (Ausbeutung wird ins Leben hineinversetzt / Natürlichkeit)
- Lebensphilosophischer Pragmatismus (Elite aus erster Kaste)
- alle Erkenntnisse, auch künstlerische vom subjektivistischen Standpunkt: „Es gibt viele Wahrheiten, also keine.“
- Kritik: immer Kritik am geistigen Zustand
- nach I. Weltkrieg wurde Nietzsches Philosophie akademiefähig an deutschen Unis
- vorher war seine Philosophie verpönt, da sie kein System anbot, sondern „biblisch“ (Dilthey) vorging, quasi ein Philosophieren in Aphorismen
- französische Strukturalisten erkennen tendenziell nur drei Denker an: Freud, Marx, Nietzsche
- Darwinismus: Erhaltung der Gattung (Naturwissenschaft), dagegen Nietzsche: Heraushebung des Einzelnen / aber gesellschaftliche Interpretation: Sozialdarwinismus!
- Kampf ums Dasein / ist nicht zu übertragen in den Kampf innerhalb der Gesellschaft 3 große politische Vorbilder für Nietzsche: Cesare Borgia, Napoleon, Bismarck (Idol des Aktivismus) / gegen Antisemitismus
/ für ein einiges Europa (Dostojewski sehr oft von Nietzsche zitiert)


19.5.81
Lese Biografie Schopenhauers von Dr. O. F. Damm (Reclam jun. Leipzig, 1912)
„Sehen und Erfahren ist so nützlich als Lesen und Lernen ...“ (177)
interessante Begegnungen Schopenhauers:
- Zacharias Werner / Jugend
- Auseinandersetzung mit Goethe bezüglich der Farbenlehre
- Hegel / Uni Berlin
- Begegnungen auch mit Brockhaus, Ludwig Tieck, Chamisso, Alexander von Humboldt, Elisabeth Ney
- Berührung mit Richard Wagner
- seine Mutter: Johanna Schopenhauer (Autorin, Salon...)
- seine Lieblingslektüre: „Wilhelm Meister“ von Goethe, „Don Quichote“ von Cervantes, „Die Verlobte“ von Manzoni, „Tristram Skandy“ von Lawrence Stern, alles mögliche von Swift, Fielding, Rousseau („Emile“), Voltaire, Victor Hugo, Dumas, Sue
- beeinflußt ihn stark: Kant, Buddha und Platon

Schopenhauers Einteilung d. Menschen:
- 5/6 von Natur aus Pech gehabt
- 1/6 vorzügliche Menschen (die im Alter zu Misanthropen werden)
„Ehe ist Krieg und Mangel“ – fast alle echten Philosophen seien ledig geblieben. (103)
„Schon in früher Jugend habe ich an mir bemerkt, daß, während ich alle Anderen nach äußeren Gütern streben sah, ich mich nicht darauf zu richten hätte, weil ich einen Schatz in mir trug, der unendlich mehr Werth hatte als alle äußeren Güter, und daß es nur darauf ankäme, diesen Schatz zu heben, wozu geistige Ausbildung und volle Muße, mithin Unabhängigkeit die ersten Bedingungen wären ... meine Sorgfalt auf die Erhaltung meiner selbst und meiner Freiheit zu richten, nicht auf irgendein äußeres Gut.“ (201) Diese Aussage könnte ungefähr so von mir stammen...
- zu Schopenhauer in den letzten Tagen gelesen: Theodor Schwarz „Sein, Mensch und Gesellschaft“ mit zwei Arbeiten über Schopenhauer und Nietzsche, Frankfurt/M. 1973, sowie Walter Wolf, Kritik der Vernunft, Weimar 1947
- Schopenhauers Werke literarisch verwertet durch Wilhelm Raabe in „Abu Telfan“, „Die Leute aus dem Walde“, „Schnüdder....“ und besonders „Stopfkucken“, „Ein Frühling“; Schopenhauer als handelnde Person in „Eulenpfingsten“.
- beschäftige mich auch mit Marx’ „Zur Judenfrage“; in Verbindung mit „Die entfremdete Arbeit“ (Ökonomisch-philosophische Manuskripte) komme ich langsam dem Phänomen der Entfremdung bei
- und noch was viel Wesentlicheres – im Passus über Menschenrechte wird der Egoismus in denselben gezeigt! / hier ist es zu fassen, das Problem des Nicht-freien-Reiseverkehrs der Bürger der DDR, zum Reisen ist „Freiheit“ notwendig und wo nimmt man die her?! - Schopenhauer hörte während des Studiums Vorlesungen bei Fichte & Schleiermacher, kam in Weimar in Berührung mit Wieland
- wichtig für das Erfassen seiner Philosophie:
1. Band „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (Anhang: „Kriterien der Kantischen Philosophie“) sowie 2. Band „Parerga u. Paralipomena“(siehe auch Kapitel „Über das Sehen u. die Farben“) / „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom unzureichenden Grunde“


11.10.81, Leipzig
Lese Hegels „Die Stellung der Kunst im Verhältnis zur endlichen Wirklichkeit“ in Band 1 seiner Ästhetik und mache für mich interessante Feststellungen, die durchaus in meinem Alltag eine Rolle spielen, ja meinem Alltag eine andere geistige Dimension verleihen, weil sie im gewissen Sinne abstrakte Erklärungen für meine „endliche Wirklichkeit“ hier in Leipzig darstellen:

1) Hegel beschreibt in seiner Ästhetik das Subjekt als das Totale, also nicht allein als das „Innere“, sondern auch als Realisation dieses Inneren im Äußeren. Er erklärt den „Widerspruch“ sowohl dem Begriff nach (das Ganze) als auch seiner Existenz nach (nämlich nur die eine Seite zu sein/Subjektivität): „Erst durch das Aufheben solcher Negation in sich selbst wird sich daher das Leben affirmativ.das leben wird sich affirmativ??? sich weglassen? zitat vergleichen“ Wäre schön, ein Leben, bei dem Inneres und Äußeres in Einklang sind. Harmonie als Sinnstiftung. Hegel-Buddha. Die „kommunistische“ Gesellschaft. Alle Menschen werden Brüder. Letztendlich ist auch der Kommunismus nur ein Glaube.

2) Hegel sieht „Freiheit“ sehr idealistisch als höchste Bestimmung des Geistes. Er betont die geistige Natur des Menschen, die die Zweiheit und Zerrissenheit hervortreibt, in deren Widersprüchlichkeit sich der Geist herumschlägt: „Der Unwissende ist unfrei, denn ihm gegenüber steht eine fremde Welt, ein Drüben und Draußen, von welchem er abhängt, ohne daß er diese fremde Welt für sich selber gemacht hätte und dadurch in ihr als in der seinigen bei sich selber wäre ...“ also: unfrei ... „In der umgekehrten Weise geht die Freiheit im Handeln darauf aus, daß die Vernunft des Willens Wirklichkeit erlange. Die Vernunft verwirklicht der Wille im Staatsleben.“ Sehr revolutionär fürs 19. Jahrhundert, höchst aktuell heute. Sind wir in der ent-wirklichten sozialistischen Gesellschaft zurückgeworfen in die Zeit vor dem Hegelschen Freiheitsverständnis?

3) Der Widerspruch zwischen Privatheit und Öffentlichkeit (die bei Hegel trotzdem als „Abstraktheit“ verstanden wird). Der nicht aufgelöste Gegensatz, obwohl: „Die höchste Wahrheit, die Wahrheit als solche, ist die Auflösung des höchsten Gegensatzes und Widerspruchs.“ Hegel sieht zwar die Aufgabe der Philosophie darin, den Begriff dieser Wahrheit zu fassen, akzeptiert aber immerhin den Umstand, dass in der endlichen Wirklichkeit des Individuums und der unorganisierten Natur (also der Existenz) der Widerspruch zwischen Begriff und Existenz bestehen bleibt. Aber als Verfechter der Teleologie kann er nicht anders und postuliert die „Religion“ als Kitt für diesen Widerspruch, dieser höchsten Einheit. Letztendlich erscheint alles versöhnt, konfliktbereinigt. Die Sehnsucht nach Harmonie besiegt die Dialektik. Und verdrängt die Wirklichkeit. Hegel als Redakteur des „Neuen Deutschland“.


13.10.81, Leipzig
Bin beim Kapitel „Stellung der Kunst im Verhältnis zur Religion und Philosophie“ angelangt. Ich verstehe jeden, der Mitte des letzten Jahrhunderts zum Neuhegelianer wurde. Wäre ich wahrscheinlich auch geworden.

„Kunst“: gehört für Hegel (da sie das „Wahre“ zum Gegenstand hat), genauso wie Religion und Philosophie (die nur verschiedene Formen des Geistes sind), zur absoluten Sphäre des Geistes.

„Geist“: innerhalb der Gegenständlichkeit im endlichen Geiste die Erinnerung vom Wesen aller Dinge: „das Endliche in seiner Wirklichkeit sich ergreifend und somit selber wesentlich und absolut.“

„Kunst“: unmittelbares, also sinnliches Wissen in Gestalt des Objektiven.
„Kunst“: Darstellung der Wahrheit, ohne durchs sinnliche Medium hindurch den „Begriff“ erfaßbar zu machen.
„Kunst“: als Element der Vorstellung, als unmittelbare Selbstbefriedigung des absoluten „Geistes“.

Spannend der Gedanke des „über sich selbst hinausweisen“, wie also der „Geist“ sich von der verobjektivierten Form löst und in seine Innerlichkeit flieht. Und wahrscheinlich stimmt das folgende immer für „unsrige Zeit“: ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. Er lechzt nach Neuem. Die Langeweile hat ihn in ihren Fängen, das Staunen hat aufgehört.
Dann kommt eine ziemlich genaue Beschreibung der DDR-Befindlichkeit: Hegel konstatiert, dass in den „gegenwärtigen prosaischen Zuständen“ der „Kreis für ideale Gestaltungen nur sehr begrenzter Art“ ist. Der Grund: den gegenwärtigen Idealen „fehlt es an tieferem Gehalt“. Oh, ihr Verkünder der neuen Gesellschaft, haltet still ... Gelder, Preise, Manifeste, Freiheiten, verdorrt der Lorbeerzweig, ranzig das Olivenöl, Kinder des Schlamms und der faltigen Erde, verwandelt in zahlbare Münze ... Jede Zeit hat ihren Stalin (Odysseas Elytis, dafür dank ich dir). Was wußte Hegel, und was weiß ich?
Wichtig ist nach Hegel die subjektive Seite der Gesinnung. Denn der objektive Inhalt ist durch feste Verhältnisse vorgegeben. Also sollte man sein eigentliches Interesse auf die innere Subjektivität und Moralität richten: „Jeder Einzelne gehört doch, wie er sich wenden und drehen möge, einer herrschenden Ordnung der Gesellschaft an und erscheint nicht als die selbständige, totale und zugleich individuelle lebendige Gestalt dieser Gesellschaft selber, sondern nur als ein beschränkter Geist derselben.“ Ja, leider. Denn das Interesse und der Gehalt seiner Zwecke und Tätigkeit „ist unendlich partikulär“... Ja, ja.


19.10.81, Leipzig
Habe gesucht: das berühmte Zitat „Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit“. Udo Tietz sagte mir, dass dies so nicht stimme. Ich solle doch in Fichtes „Wissenschaftslehre“ nach dem Originalzitat schauen. Bin in dessen „Zweiter Einleitung“ (10. Abschnitt) fündig geworden: „Was in einem vernünftigen Wesen als Anlage liegt, liegt in allen.“ Auf Wirksamkeit der Vernunft „gründet sich die Möglichkeit alles Bewußten“. Und dann kommt er, ganz anders gemeint, viel tiefgründiger und apokrypher, der Satz: „Zur Einsicht in die Notwendigkeit ist Freiheit notwendig“. Und weiter: „Wenn dieses Vermögen der Freiheit nicht schon da ist und geübt ist, kann die Wissenschaftslehre nichts mit dem Menschen anfangen.“ Ach, sind das schöne Sätze, Sauerstoff für mich, der ich bereits 1975 auf dem Kreuzschule-Gymnasium konfrontiert wurde mit dem Rosa-Luxemburg-Satz: „Freiheit bedeutet die Freiheit der Andersdenkenden“. Und wieder weiter bei Fichte: das sind Kenntnisse, „die wir nur aus uns selbst, zufolge einer vorher erlangten Freiheit schöpfen können.“
Wie schön diese Menschen dachten, damals Ende des 18., Anfang des 19.Jahrhunderts, kurz nach der Französischen Revolution. Der Atem einer neuen Zeit: „Bildung des ganzen Menschen von seiner frühesten Jugend an; dies ist der einzige Weg zur Verbreitung der Philosophie“. Fichte, alter Junge, laß wieder die Fenster verdunkeln, laß wieder die Menschheit in sich gehen, zu sich selbst kommen, die WAHRHEIT sehen, begreifen. Denn, das „philosophische Genie“ ist jenes, „das sich in der allgemeinen Erschlaffung dennoch zu einem großen Gedanken erhebt“.
Für Fichte ist die „Wissenschaftslehre“ ein System des „transzendentalen Idealismus“. Daraus ergibt sich konsequenterweise die Ablehnung aller „Systeme“. Allerdings kann in jedem „Einzelnen“ die Philosophie einen Impuls auslösen, sich ihren „Zweck und Umkreis“ zu eigen zu machen! Wie unterschiedlich zum heutigen das damalige Verständnis von „Philosophie“. Philosophie als Wissenschaft – „wenn auch etwa jener Eine sie gar nicht außer sich darzustellen wüßte“ ...


20.10.81, Leipzig
„Gegenwart“: gebrochenes Verhältnis zu diversen Punkten der Vergangenheit: kann man auch mit „Geschichtsbewußtsein“ umschreiben. Irgendwie muß ich an Ritsos dabei denken.

B: Da war ein Haus mit einem roten Dach. Eine schöne, einladende Treppe führte zur Tür.
(A tritt auf, sucht etwas auf dem Boden in der rechten Ecke der Bühne)
B: Es war eine schöne Tür, mit goldenem Griff; die Nachbildung eines Löwenkopfes. Aber genau erinnern kann ich mich nicht. Nein ... wartet! Da fällt mir etwas ein: Hinter der Tür begann das Meer. Das wußte ich nicht. Begonnen hatte alles am Montag. Montag früh. Aber ich wollte euch von der Tür erzählen:
A: (richtet sich auf) Verdammt, ich kanns nicht finden!
B: Verzeiht, ich muß diesem Menschen helfen (zu A) Gehst du jetzt? (zum Publikum) Er ist doch einer? (wird nachdenklich) Er ist doch einer?! (blickt etwas erschrocken) Ich bin am Ende nicht hingefallen? Nein, nein, weiß von nichts! Warum sollte dieser von Dresden gehört haben? ... Was soll das jetzt? Wie komme ich darauf? (Abwehrend) Ich wollte diesem Menschen helfen.
A: Wo ist es nur?


7.4.82, Leipzig
Seminar bei Claus Träger. Unter anderem ging es um Nietzsche.
Mir fiel auf, daß die Väter der sogenannten Lebensphilosophie – Schopenhauer, Kirkegaard, Nietzsche – alle an etwas krankten. Aber in genialischer Weise. Und ein gestörtes Verhältnis zu Frauen hatten, vor allem zum „sexuellen Leben“. Im Privaten große zwischenmenschliche Probleme.

Bei Nietzsche keine Poetisierung der Wirklichkeit, sondern ihm geht es um „Geschichte“, konkret: um den Einzelnen. Das heißt dann „Lebensphilosophie“. Alles geht auf „Ethik“ zurück. Stefan Zweig schreibt, daß Nietzsche im eigentlichen Sinne kein Philosoph ist. Ich weiß zwar nicht genau, was „im eigentlichen Sinne“ meint, aber irgendwie scheint mir diese Aussage richtig zu sein. Das Problem „Mann ist Mann“ gibt es seit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft (Philosophie). Es geht um den wesentlichen Punkt der Souveränität des Menschen. Nach Hegels Geschichtsauffassung fangen die „Existenzprobleme“ da an, wo das Subjekt verschwindet, wobei andererseits die Vereinzelung des Individuums gewertet wird als neue zwischenmenschliche „Qualität“.


24.10.82, Leipzig
Erstarrt sind Kleobis und Biton, für immer erstarrt, das SCHÖNSTE bekommend, was die Götter haben: den ewigen Schlaf. Nichts mehr sehen müssen, nicht mehr atmen müssen. Militärdiktaturen, Dialekte der Aufklärung, japanische Computer, UNSER VOLK und UNSERE JUGEND, ein buntes Feuerwerk, Schwerhörige, Tapezierer, Kleinwarenhändler, nichtssagende Wörter, aber WÖRTER, vielleicht zusammenhängende Worte, manchmal Sätze, viele Erklärungen und doppelt so viele Missverständnisse, zwei oder mehr Idioten, der Heilige Geist, der, der kam und alles veränderte, fünf Mal am Tag Pythia, Spinoza, Ruhe bewahren und Tee trinken, und natürlich Hegel: „Die gegenwärtige Wirklichkeit ist ein anderes an sich und ein anderes für das Bewußtsein... Die eine ist die Lichtseite, der Gott des Orakels, der, nach seinem natürlichen Moment aus der alles beleuchtenden Sonne entsprungen, alles weiß und offenbart...
Aber die Befehle dieses wahrredenden Gottes und seine Bekanntmachungen dessen, was ist, sind vielmehr trügerisch. Denn dies Wissen ist ein seinem Begriffe unmittelbar das Nichtwissen, weil das Bewußstsein an sich selbst im Handeln dieser Gegensatz ist.“ hegel mußte keineswegs nahe bei Delfi der Sphynx antworten, mußte nicht unschuldig schuldig werden, hätte es auch nicht getan, um den Preis, heute als freudvoller „Hegel-Komplex“ in aller Munde zu sein. Sag mir, wie dein Sex-Benehmen ist, und ich sage dir, wer du bist. Also, ich sprach von Gewohnheit, von archetypischer Erstarrung... Verstummt ist das murmelnde Wasser... Aber auch ohne all das bleibt uns nur das eine: die nackten Steine und unsere Beziehung zu ihnen. Und die Frage: Wozu brauchen wir sie?


25.10.82, Leipzig
Heute früh Verteidigung von Uwes Doktorarbeit. Dr. S., sein Mentor, versteht die Ausmaße seiner Arbeit nicht. Viele Dozenten sind geduckte Geister. Anschließend mit Uwe und Stefan essen gegangen und Wein getrunken. Unterhielten uns über die Kulturkonferenz der FDJ, die gerade in Leipzig stattgefunden hat. Spürbare Reaktionen überall. Allgemeine Unruhe und kritische Distanz, viel Unbehagen und Protest in studentischen Kreisen. Aber auch bei einigen Professoren großes Unverständnis. Man kann nicht Heiner Müller und Volker Braun auf diese plumpe Art kritisieren. Öffentlich anprangern. Und das im Namen von Brecht! Im Namen der „Jugend“! Mein Gott, wie bescheuert und dumm muß man sein. Und dabei reichen die Kritiker den Kritisierten nicht mal bis zum Knie...
Es heißt immer: Keine einfache Zeit. Wirtschaftliche, moralische, außenpolitische Krisen machen Verhärtungen wohl „notwendig“: „Jahre werden kommen, gelb im Flor ... und das Blut der Jugend wird schuldlos altern.“ Denn, obwohl man Brecht zitiert, will man ihn nicht „verstehen“: Man schuf eben KEINE „dialektischen Institutionen, die veränderlich sind“. Alles Worthülsen. Heuchelei.


28.10.82, Leipzig
Die letzten zwei Tage mit Uwe in meiner Wohnung gearbeitet: Rede (für morgen auf der Philosophischen Arbeitstagung) „Drei Modellfälle zum Zusammenhang von Literatur und Philosophie. Skizzierung eines Problemfeldes“ ausgearbeitet. Ich liebe meinen Schopenhauer. Dabei viel in Lukacs’ Vorwort zur „Eigenart des Ästhetischen“ gelesen. Da steht: „Denn die genaue Analyse der Tatsachen wird hier besonders deutlich zeigen, daß die gedankliche Bewußtheit über das im Gebiet des Ästhetischen praktisch Geleistete immer hinter diesem zurückgeblieben ist.“
Heute 45 Minuten-Unterhaltung mit Prof. Werner über Ritsos-Projekte. Trank mit B. einen Gin-Tonic und verknallte mich in sie. Was wird Uwe dazu sagen?
Sah mir anschließend im Casino-Kino Faßbinders „Katzelmacher“ von 1969 an.
Lese nachts weiter bei Lukacs: „Es kommt dabei natürlich auf die Entwicklung der objektiven ästhetischen Tatsachen an, nicht darauf, was ihre Vollstrecker über ihr eigenes Tun gedacht haben. Gerade in der künstlerischen Praxis ist die Divergenz zwischen Tat und Bewußtsein über sie besonders groß.“ Auch sehr interessante Darlegung seiner verwendeten Methode („der Bestimmungen im Gegensatz zu der der Definitionen“). Hinweis auf Lob von Max Weber sehr bezeichnend. Werde morgen Uwe frage, was er davon hält.


29.11.82, Leipzig
Gestern mehrere Stunden mit Prof. Bönisch bei ihm zu Hause über „Philosophisches“ debattiert. Da ich mich gerade ausführlich mit Georg Lukàcs beschäftige, habe ich die Gelegenheit genutzt, alles, was mich gerade bewegt, loszuwerden und mit ihm zu diskutieren.

Totalitäts-Begriff. Diltheys Geisteswissenschaft. Die „Philosophischen Hefte“. Stellung des Realismusgedankens in Kunst und Kunsttheorie (und ob dieser überhaupt eine theoretische oder gra praktische Relevanz hat). Das entscheidende Problem in der Romantheorie: Reflexionen über philosophisch-ästhetische Konzeptionen ohne praktischen Zeitbezug. Differenzen zwischen Lukàcs-Hegel-Goldmann. Linker Utopismus. Zeitgeist und marxscher Gedanke der „Verdinglichung“ (des Tauschwert-Charakters). Lucien Goldmanns Homologie- und Spiegelproblem. Vermittlungsproblematik oder ästhetische Wertung / Totalitätsbegriff. „Strukturalismus“: Trennung von Theorie und Methode. (Siehe auch z.B. 3. Kantsche Antinomie.) „Aporie“ der historischen Situation (nur „utopische Lösung“ möglich) – Transzendenz schillert durch, die aporetische Struktur des Denkens. Abstraktion und Einfühlung sind nicht zusammenzubringen ...

Danach war ich fertig und euphorisch. Seltsamer Höhenflug. Knall auf Fall. Und immer wieder die Frage: wozu brauchst du das alles?


5.1.83
Kaiser Diokletian zog sich im Jahre 305 von der Politik zurück und beschäftigte sich bis zu seinem Tode 316 mit der Landwirtschaft. Er starb als ein vergessener Mann. Kaiser Diokletian führte den letzten großen Kampf des schwindenden Götterglaubens gegen die Neue Religion. Seine „janusgesichtigen“ Dekrete interessierten weder das Neue Volk noch die Herrschende Partei. Unterstützung bekam er von den „geschlechtslosen“ Neuplatonikern, die in Geheimniskrämerei und Snobismus ihr Heil suchten und in den „unphilosophischen Christen“ eine entmündigte Masse sahen. – Also lauter Zeichen dekadenter Epochen, sagte er, in denen nichts Großes vollbracht, jedoch das Wenige, das sie vorzuweisen haben, mit dem glorifizierenden Schein des Geheimnisses umgeben wird. – Es nützte nichts. Fast einhundert Jahre später erließ ein Nachfolger von Diokletian, Theodosius der Große, ein Edikt, das alle heidnischen Götterkulte verbot und die private oder öffentliche Ausübung anderer Glaubensformen als die der christlichen Religion unter Strafe stellte. Natürlich, Diokletian hatte keine Chance, die unteren Volksschichten interessierten sich für nichts weiter als für sich. Ihre lähmende passive und defätistische Haltung gegenüber dem Staat und allem Geistigen führte allerdings zu jener berühmten und berauschenden tausendjährigen Konservierung des Status quo. Glücklicherweise gab es ausländische Invasoren, die Byzanz zugrunde richteten. Diokletian aber starb als ein vergessener Mann etwa tausend Jahre vor dem durch die Barbaren herbeigeführten Untergang.

© Asteris Kutulas

 

 

 

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