Wand, Mauer, Ausblick



Kung-Fu-Meistern wird nachgesagt, sie könnten - wie Gespenster - durch Wände gehn. Unsichtbar, lautlos auftauchen und verschwinden. Die Idee eines Wand-Künstlers ähnelt jenem Schritt des Kung-Fu-Meisters. Das, was er außen an der Wand nicht langgehn will, kürzt er ab durch seinen Geist. Eine Wand ist auch nur 'ne Geisterbahn. Ultra. Japan, China, Dresden, Moskau – die Wand, vorausge- und überdacht, ein Schwebendes, ein Schwebezustand, Trennelement, in dem sich Geister vereinen und wandeln. Das die Wahnvorstellung nährt, der Mauerfall sei ein Wandfall gewesen, man sei jetzt hinter dem Paravent, in einem imaginären Raum, wo alles seine zwei Seiten hat. Eine Wand wäre dafür sichtbarer Ausdruck. Keinen „Rücken" gibt's da, sondern: was man nur nicht sieht. Es sei denn, man säße obenauf.

Anders wenn man steht, mit dem Rücken zur Wand, Schatten im Nacken. Und wieder anders mit dem Gesicht zur Wand. Die Wände haben Ohren. Die Wände sprechen von Nischenkulturen. Von Bildern, Nägeln und Löchern. Von Räumen davor und dahinter und inwändigen Räumen. Steck deine Nase in fremde Angelegenheiten. Geh mit dem Kopf durch die Wand. Und das Ringlein, das muss wandern ...

Eine Wand ist wandelndes Gespenst. Etwas geht um zwischen den Kontinenten, wendet und verkehrt, verkehrt sich, wandelt sich. Verkehrte Welt. Der Mann im Mond weiß bestens bescheid. Weil er nicht Wand-Zeitung liest. Weil er immerzu beschäftigt ist mit seiner besseren Hälfte. Der Mond im Mann im Mond aber mag ab und zu aufgehn. Rechnung, gekritzelt an Wand. Schau oder wände dich ab. Vom Handlanger zum Wandlanger. Meine Wange schmiegte ich, erst wurde sie Wande, dann Bande.

Eine Wand ist große Versuchung, Squash zu spieln, den Mond mit einem Ball zu verwechseln, Anwürfe, Spiegel-Ei, Loch. Sein ganzes Leben kann man dagegen fahrn. Eine Wand ist ein dingfest gemachtes Stück Kosmos und die Erde ein ferner Planet.

Eine Wand, errichtet auf offener Straße in Dresden, ist etwas anderes als eine Wand, errichtet in Berlin, anderes als ein verhüllter Reichstag und anderes als ein Spiegel in China. Das ganze Ausmaß erkennbar vielleicht vom Mond. Eine Wand zwischen der ehemaligen Mokka-Stube und dem ehemaligen Hotel Newa mit seiner berühmten Diskothek, wo die erlesene Fraktion der Dresdner Szene mit Wodka-Cola zechte. Das geschah zumeist nach Mitternacht.

Nachmittags saß man, Kaffee trinkend, mit den Libanesen, die an der TU oder an der Kunsthochschule studierten, in der benachbarten Eis-Bar und musterte die vorbeidefilierenden jungen Mädels. Mit den Jahren verschwanden allerdings – wie durch ein Wunder – die „Libanesen“, die Jolana-Elektrobässe aus den Schaufenstern des Musikgeschäfts, die selbstverloren dreinschauenden Mädchen und die rührigen Abschnittsbevollmächtigten von der Prager Straße. Verschwunden auch das, worauf sie Obacht gaben: selbstgenähte Umhängetaschen, Beutel mit Makrameeknüpfeinsatz oder einem Stück Gobelin mit Motiv des melancholisch röhrenden Hirschen. In letzter Zeit tauchen sie nur noch schemenhaft in der Nähe des Herrenausstatters auf, verstohlen Richtung Intershopeingang blickend oder eilig Kreise um das Rundkino drehend. Die Jagd ist beendet. Der Große Garten leitet den Kaltluftstrom Richtung Hygiene-Museum. Die Gläserne Frau hat ihre Akte verspeist. Das Paradies der Kaffeesachsen steht nun allen offen.

© Ina & Asteris Kutulas, 1991

 

 

 

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