Dresden (vor und kurz nach der Wende)



Eine Wand, errichtet auf offener Straße in Dresden, ist etwas anderes als eine Wand, errichtet in Berlin, anderes als ein verhüllter Reichstag und anderes als ein Spiegel in China. Das ganze Ausmaß erkennbar vielleicht vom Mond. Eine Wand zwischen der ehemaligen Mokka-Stube und dem ehemaligen Hotel Newa mit seiner berühmten Diskothek, wo die erlesene Fraktion der Dresdner Szene mit Wodka-Cola zechte. Das geschah zumeist nach Mitternacht.

Nachmittags saß man, Kaffee trinkend, mit den Libanesen, die an der TU oder an der Kunsthochschule studierten, in der benachbarten Eis-Bar und musterte die vorbeidefilierenden jungen Mädels. Mit den Jahren verschwanden allerdings – wie durch ein Wunder – die „Libanesen“, die Jolana-Elektrobässe aus den Schaufenstern des Musikgeschäfts, die selbstverloren dreinschauenden Mädchen und die rührigen Abschnittsbevollmächtigten von der Prager Straße. Verschwunden auch das, worauf sie Obacht gaben: selbstgenähte Umhängetaschen, Beutel mit Makrameeknüpfeinsatz oder einem Stück Gobelin mit Motiv des melancholisch röhrenden Hirschen. In letzter Zeit tauchen sie nur noch schemenhaft in der Nähe des Herrenausstatters auf, verstohlen Richtung Intershopeingang blickend oder eilig Kreise um das Rundkino drehend. Die Jagd ist beendet. Der Große Garten leitet den Kaltluftstrom Richtung Hygiene-Museum. Die Gläserne Frau hat ihre Akte verspeist. Das Paradies der Kaffeesachsen steht nun allen offen.

© Asteris & Ina Kutulas, 1991



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JUGEND IN SACHSEN
Erinnerungen an meine Dresdner Zeit, aufgeschrieben 1979

Der Umzug von Bukarest nach Dresden stellte für mich, als ich acht Jahre alt war, seltsamerweise nichts Besonderes dar ... alles war neu, aufregend und spannend. Die neue Stadt, in die wir umzogen, erschien mir schön. Es war natürlich schwer, die eigenartige, etwas gefühllose Mentalität der Deutschen zu verstehen, dafür aber war es umso lehrreicher, ihre kühle Rationalität und ihren Hang zur peinlichen Ordnung und zur detaillierten Planung sämtlicher Lebensbereiche kennen zu lernen. Nützlichkeit, Hand in Hand mit Gefühllosigkeit, Vertrautheit mit Unpersönlichkeit.

Vor allem gefielen mir in der neuen Stadt die Spaziergänge mit meinem Vater zur Elbe, wo wir uns ins Gras legten und die Schiffe beobachteten. Das andere Ufer kam mir sehr nah vor, daher wunderte ich mich sehr, dass der Stein, den ich warf, nicht einmal bis zur Hälfte des Flusses gelangte. An sonnigen Tagen, die mir die Haare durcheinander wirbelten und der Geruch des Wassers erfrischend mich belebte, fühlte ich mich unaufhörlich wachsen. Wachsen in einer unschuldigen Naivität und der kindlichen Sorglosigkeit. Ich erinnere eines gewissen Übermuts: Ich fühlte mich stark genug, meine Sinne waren so wach, es mit dem Fluss aufzunehmen, es mit allen Flüssen und Meeren aufzunehmen, mit allen gleichzeitig, denn sie wollen nichts anderes als sich fügen: dem Drang der Schwere; immer dem Mittelpunkt zu.

Ich habe durch meine Umwelt in Dresden zur Kunst gefunden. In der Schule, vor allem an der Kreuzschule, lernte ich, Kunst zu verstehen, durch meine Freunde kam ich in Kontakt mit ihr. Ein Kunstwerk wird aus vielen Skizzen geschaffen. Diese zu erkennen und ihren Platz im Ganzen zu begreifen, muss man erst erlernen. Das schien mir aber damals das Wichtigste im Leben: mit offenen Augen durch die Welt gehen. Und ich hatte eine sehr romantische Weltsicht. Die Blume gewinnt erst ihren Reiz durch den Tautropfen, der sie befeuchtet, ein Musikstück durch die zweite Stimme einer Oboe, ein Bild durch die Gestaltung der Hände. „Galileo Galilei“ im Berliner Ensemble, die Akropolis in Athen, e-moll-Violinkonzert von F.M. Bartholdy, Oedipus im antiken Theater von Epidaurus, „Impressum“ von Hermann Kant oder Genuss, Optimismus, Freude, Kraft, Abwechslung, Nachdenken, Wege ... Kunst schien nicht mehr ohne mich denkbar.

So fing ich an, während meiner Gymnasialzeit, Bücher zu lesen, ins Theater zu gehen. Wenn mir ein Buch gefiel, las ich es noch einmal, als wollte ich mich vergewissern, ob es noch immer dasselbe war. Außerdem spielte ich gern Fußball und Handball, ging mit meinen Freunden baden, oder wir fuhren im Winter Ski. Mit der Schule hatte ich bis zur 9. Klasse genauso wenige Probleme wie mit allem anderen. Genauso wenig oder viel, der Unterschied besteht nicht in der Relativität. Nur dass ich in dieser Zeit anfing, meine Naivität zu verlieren, denn das Leben ist tatsächlich.

Ich fing auch an, mich mehr mit Politik zu beschäftigen und mein Vater, der noch bis 1975 in Dresden war, half mir, so dass ich begriff das Warum? und das Wieso? und das Gedicht mit den Bergen und den Tälern und Griechenland und die Welt und immer mehr mich … Mein Fehler bestand im Aufgeben und in der Flucht in meine alte, mir bekannte Welt der Freunde, der Bücher, der Musik. Ohne Kampf gab ich auf, denn es war zu viel, und ich dachte, ich hätte keine Zeit, klein anzufangen, um im Allgemeinen etwas zu ändern. Der Enthusiasmus fehlte mir, ohne den die Anteilnahme und die Parteilichkeit nicht vorhanden sind.

Ich bin aufgewachsen und habe gut gelebt und das mit einer seltsamen Selbstverständlichkeit, ohne jeden Tag „danke“ zu sagen, obwohl ich Grund habe, mehr dafür zu tun als nur das, was mir gefällt und mir Spaß macht. Denn dass meine Eltern mich großgezogen haben, die Schule mir Reife gab und die Freunde Selbsterkenntnis, sieht man mir an, genauso wie die Anwandlungen von Unzufriedenheit und Sorge. Ich bin nicht der Weise, dem die Stille antwortet. Ich bin auch keine kafkaeske Gestalt. Die Frage bleibt unbeantwortet.

Die Entwicklung ist widersprüchlich und nicht nacherlebbar. Sie kann sein: nacherlebbar, widerspruchslos, einseitig, negativ, bedeutend, programmgemäß, vielseitig, positiv, radikal, unbedeutend usw. Sie kann schnell, normal oder langsam verlaufen, sie kann eine relative oder hervorragende Bedeutung besitzen, sie kann alles, wenig, viel oder nichts beinhalten. Sie kann stehen bleiben und enden oder immer voranschreiten. Der Kuckuck schreit, und das Schaf miaut, und ich esse den ganzen Tag Kartoffelsuppe mit Nudeln. Und dann hat man immer noch nicht die Ursache; weder den Menschen noch seine Entwicklung.

Vor zwei Jahren, als ich 17 war, mein Vater in Griechenland, ich glaubend, den Sinn des Lebens erkannt zu haben, nicht mehr jung, um mit Illusionen durch den Tag zu gehen, noch nicht alt genug, alle Dinge beim richtigen Namen zu nennen, begann jener Wandel, nicht vom Kindsein zum Erwachsensein, sondern vom Verstehen zum Denken. Mich auf meine Freunde und meine Kenntnisse stützend, keine Kontakte mit Klassenkameraden oder anderen Menschen und Jugendlichen besitzend, hatte ich mir mein egoistisches Leben aufgebaut und war zufrieden...

Dann, auf einmal kommt der Tag, wo es uns bewusst wird. Wo uns das – eigentlich nicht mit Worten Ausdrückbare, in einem, für einen Moment in unserem Gehirn aufflackert, in uns eindringt und uns in Wahrheit so vieles darstellt – bewusst wird, dass man Mensch ist, dass man denken kann, dass man dafür lebt.

© Asteris Kutulas, Dresden 1979 (kurz nach der Abi-Prüfung)

 

.usf 1,2,3
flüchtige anmerkung zu einem dresdner projekt

thomas haufe spricht ruhig und leise. so sind auch seine editionen. sie haben, trotz ihrer exklusivität, keinen elitären, aristokratischen charakter, was nicht sehr einfach zu bewerkstelligen ist. immerhin gerät neuerdings sogar das elitäre in den verdacht der etablierung, der – auch: ungewollten – angepaßtheit. nein, haufes bisherige drei hefte mit dem bezeichnenden titel .usf offenbaren eher das konzept eines handwerkers, ja, ich würde sagen, sie haben etwas vom zünftigen büchermachen einer anderen zeit. noch periodikum, schon künstlerbuch – das ist der grat, auf dem sie produziert werden; bekanntlich läßt es sich auf einem grat nicht gut leben. das kommt haufe zugute und seiner edition auch. sie gibt sich nicht verbissen experimentell, sondern plebejisch höflich, was nicht schlecht ist, bedenkt man, daß den experimenteuren allerorten die puste ausgeht. oder schlägt uns nur der wind so ins gesicht, daß wir kaum luft holen können? wie dem auch sei, das experiment findet hier im verborgenen statt, hintergründig und elementar und auf vielen ebenen. gestaltung, grafische umsetzung und illustration (im besten wortsinn), verflechtung und künstlerische qualität von grafik und text – worüber hier nicht gesprochen werden kann – sind wichtig, doch wichtiger ist, daß es .usf als idee gibt, als freien raum, als ein autonomes "innovationszentrum" neben so vielen anderen in dresden. zudem: sind es wirklich so viele?
"das land hustet", schreibt haufe, "aber der himmel bleibt zu". das erinnerte mich an eine eigene – jahre zurückliegende – entdeckung: der himmel ist immer noch geteilt, aber die hoffnung fiel in die spalte zwischen den hälften. gemeint ist fast dasselbe; und mir fällt auf, daß solch pessimistische (oder: desillusionierte?) grundhaltung zum büchermachen verführt hat – und nicht nur in unseren beiden fällen. der zugedeckte himmel über uns drängt offensichtlich darauf, in uns geöffnet zu werden. vielleicht muß man wirklich die "selva oscura", den "dunklen wald" dantes durchschreiten, kraft schöpfen, das wirkliche blau sehen, wieder buchstabieren:

und.undsoweiter.undsofort

ohne den letzten punkt zu setzen, und ohne einem andern, wenn er es tut, den kopf abzureißen: ein schwieriges unterfangen. das könnte auch heißen: in der regel weiß man, was kommt, zumal in diesen trostlosen zeiten, aber dann kommt es (manchmal) anders. für dieses "manchmal" sorgt unbestritten auch .usf, beziehungsweise was sich darin phantasmagorisch tummelt: else gabriels rote äpfel auf grünem hintergrund, andreas hegewalds gebändigt ungebändigte strichfiguren, steffen fischers gekonnt anarchische flugversuche, micha brendels versteckte greul vor dem zahnarzt – wenn diese interpretation gestattet ist – und nicht zuletzt gudrun trendafilovs nachdenkliche und zugleich metamodern angehauchte variationen, die dem 3.band ihren eigenwilligen stempel aufdrücken.
der organisator dieses "manchmal" muß also nicht nur die unterschiedlichen künstler – maler, grafiker, fotografen und autoren – zusammenbringen, sondern auch zwischen ihnen vermitteln, was beizeiten weitaus schwieriger ist. doch thomas haufe besitzt, wie gesagt, ein ruhiges gemüt; das hat ihm bei seiner vermittlung sicherlich geholfen, und nicht nur dabei. also wünschen wir ihm und seinen heften weiterhin diese ruhe, die im innern bewegung verspricht, mehr als wir vielleicht zu hoffen wagen.

asteris kutulas, 7.10.1989
(anläßlich der buchpremiere von .usf 3 am 12.10.89 in dresden.)

 

 

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