A.R.Penck und die Schließung
der Dresdner „Lücke“

Ein Gespräch von Asteris Kutulas mit Wolfgang Opitz, 1989


A.K.: Wie hast du Ralf Winkler kennengelernt und wie ist es zur Gründung der "Lücke" gekommen? Du warst damals Lehrer?

W.O.: Ich war Lehrer-Student und ziemlich jungfräulich. Ich hatte die Idee, Schmalfilm, damals noch Normal 8, einzusetzen, um ein Stück Realität festzuhalten. Dieser Hobby-Film wurde in dieser Zeit nur als Familienfilm eingesetzt: Kinder, Urlaub usw.
Die Idee kam von mir. Ralf kannte ich dadurch, daß wir in relativer räumlicher Nähe aufgewachsen sind, in Dresden-Naußlitz, am Stadtrand von Dresden West. Es gab vorher kaum persönliche Begegnungen. Ralf war fünf Jahre älter als ich, fiel durch seinen persönlichen Habitus aus dem Rahmen, pseudobürgerlich, Hut, Mantel mit Fischgratmuster, alles Sachen, die er geschenkt annehmen mußte. Er war eine Berühmtheit im Wohnviertel. Ich hatte einen normalen Beruf gelernt, Elektromonteur, mir ein Rennrad gekauft und machte auf Radsport. Habe nur ein Jahr im Beruf gearbeitet. Das Studium ab 1964 als Kunsterzieher war für mich eine mögliche Variante. Für ein Studium an der Kunsthochschule fand ich mich berechtigterweise nicht geeignet. Ralf riet mir lange Zeit ab, Maler zu werden.
1968 unterbreitete ich Ralf meine Vorstellungen. Der fand Film sehr gut, brachte natürlich sofort seine eigenen Vorschläge ein. Es wurde ein Film über Dresden, eine Art Topografie der Stadt. Also nicht die scheinbar repräsentativen Zonen in der Innenstadt wie im offiziellen Film, deren Einstellungen noch frisiert werden mußten. Wir konzentrierten uns auf die verschiedenen Außenbezirke, die alle ihre eigene Atmosphäre hatten und nach der Zerstörung Dresdens die eigentlichen Lebenszentren darstellten. Wir stellten die Substanz dar. Es war kein Wohlfühlen in Zerfall und Abbruchzonen, wie es zuletzt im DDR-Schmalfilm präsent war. Der zweite Film war ein Wanderfilm. Wir sind also von Dresden nach Thüringen gelaufen mit dem Rucksack und haben dabei einige Strecken mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt: über Karl Marx Stadt, Altenburg, Naumburg, Freiburg, Weimar. Endpunkt war Erfurt. Und da es ein Film von unendlicher Länge geworden wäre, ist Ralf eine Technik eingefallen, die wir für uns erstmals einführten. Wir rafften viele Szenen, indem der Auslöser an der Kamera fortlaufend betätigt wurde, an-aus-an-aus. Das wirkt wie schneller gedreht, wie manchmal im Slapstick, und ergibt eine andere Dynamik. Vergleiche mit anderen Schmalfilmen waren nicht möglich, da es keine gab. Der Westen sah in unseren Filmen eine Ost-Variante der Pop-Art-Filme von Andy Warhol. Wir waren verblüfft.
In der Zeit von 1969 bis 1980 produzierten wir ca. 24 Filme. Der größte Teil davon waren Konzeptfilme in der Verbindung mit Ralfs Kunst, also Manipulationen im Atelier. Später filmten wir auch die einzelnen Phasen bei der Entstehung der Lücke-Bilder ab.
Daneben haben wir die Tradition der Wanderfilme weiterverfolgt, jetzt etwa eine bestimmte Route in der Umgebung Dresdens unter ein bestimmtes Thema gestellt, zum Beispiel "Reise nach China", der Weg zum Schloß Pillnitz; "Wild West", der Weg durch den Rabenauer Grund; "Military", der Weg nach Königsbrück – Truppenübungsplatz schon bei den sächsischen Königen.

A.K.: Und ihr habt immer zu zweit gearbeitet oder kamen noch andere Leute dazu?

W.O.: Wir haben viele Filme zu zweit gemacht. Beim Abfilmen der Gruppenbilder waren wir zu viert. Beim Filmen mit szenischen Abläufen haben noch Freunde, Freundinnen als Darsteller mitgemacht.

A.K.: Film war eure erste gemeinschaftliche Produktion. Wie kam es zum gemeinschaftlichen Malen?

W.O.: Ralfs Standart-Theorie beinhaltet, daß jeder in der Lage ist, durch Training seinen Standart herzustellen. Um das in der Praxis zu überprüfen, hatte er Skizzenbücher und kleine Kartonstapel bereit; überall, wo es möglich war, am Tisch in der Gaststätte, im Freundeskreis wurde gleich einem Gesellschaftsspiel gezeichnet, manchmal die Karte in Sektoren getrennt, manchmal das gesamte Format als Gemeinschaftswerk gestaltet.

A.K.: Die Gruppe Lücke wurde im Mai 1971 gegründet. Den Namen "Lücke" hattest du vorgeschlagen. Blieb Ralf Winkler das Zentrum der Gruppe?

W.O.: Die Frage wurde mir immer wieder gestellt. Schon Anfang der 70er Jahre, Georg Baselitz kam zu Besuch, kaufte Bilder von uns. Und seine heimliche Frage, an mich gerichtet: welcher Anteil von Ralf sei.

A.K.: Gut. Das ist aber noch keine Antwort.

W.O.: Ich weiß. Es ist ganz klar, daß Ralfs Standarttheorie eine Voraussetzung für unser Gruppenkonzept bildete. Also, das ist eindeutig. Er hatte auch die größten Erfahrungen von uns allen. Aber ebenso ist klar, daß jeder von uns in der Lage sein mußte, seine eigene Welt in das Konzept einzubringen. Jeder mußte also in der Lage sein, auf der einen Seite genug Widerstand aufzubringen, auf der anderen Seite durch Konstruktivität Widerstand herauszufordern.
Ralf, 1939 geboren, ich 1944, und ich hatte Bekannte, die wiederum 5 Jahre jünger waren, Harald Gallasch und Steffen Kuhnert, die ich mit Ralf bekannt gemacht habe. Sie waren beide auch Autodidakten, kamen aus der Beat-Generation, waren Mitglieder des Rolling-Stones-Clubs in Dresden-Leutewitz, berühmt, lange Haare, mit der ganzen Sehnsucht der Blumenkinder, mit dem Herzen und der Farbe dieses Konzepts hatten sie sehnsuchtsvolle Bilder gemalt. So will ich's mal nennen. Sie brachten ihre eigene Welt mit hinein.
Ich selbst stand in der Mitte, altersmäßig und von der Haltung her, mit dem Potential des Ausgleichs und allen Dilemmas des Kompromisses. Im Gegensatz zu ihnen war ich praktisch veranlagt, aber ich glaube, dadurch kam es zum Arbeiten. Kuhnert ist auch ein eher analytischer Typ, mit der Tendenz zur Perfektion: die Suche nach dem eigenen System, welches unantastbar macht. Das konnte nicht gut gehen. Aber er setzte Ralf Widerstand entgegen, der für theoretische Auseinandersetzung notwendig war. Das war, ich will mal sagen, von ihm unbeabsichtigt, für mich persönlich von großer Bedeutung. Es war für mich der Anstoß für die eigene theoretische Auseinandersetzung, wie ich sie heute nicht mehr führe.
Im Rückblick kann man sagen, dass es glückliche Umstände waren. Alle brachten eigene, unterschiedliche Erfahrungen ein. Ralfs Ziel war Raumerweiterung, und wir waren durch eigene bildnerische Produktion noch nicht zu fixiert und konnten seine Theorie offen aufnehmen. Es zeigte sich, daß andere Leute, die weiter waren als wir, die drei jüngeren, Eberhard Busch, Hartmut Bonk u.a. sich mehrmals an Gemeinschaftsbildern beteiligt hatten und es auch als anregend empfanden, aber so viel Kraft über mehrere Jahre hineinzulegen, dazu waren sie nicht bereit.

A.K.: War das denn abzusehen, daß es über mehrere Jahre gehen wird? Wann und wie kam es konkret zum ersten gemeinsamen Bild?

W.O.: Es war abzusehen, jedenfalls nach der offiziellen Gründung. Da muß ich noch mal auf ein Stück Vorgeschichte eingehen: Wir hatten unsere eigenen Standartbilder gemalt, meist kleinere Formate auf Pappe; Frank Maasdorf kam hinzu, der danach studierte und Plastiker wurde. Im Frühjahr 1971 stellten wir solche Arbeiten im Atelier von Frank Maasdorf aus. Wir erfanden für uns den Untergrund: Die Räume in abgewohnten Gebäuden, unsere Bilder und die Art der Präsentation, das war Untergrund.
Wie es nun zum ersten großen Gemeinschaftsbild gekommen ist? Das hört sich jetzt an, als sei es für ein Filmdrehbuch erdacht. Ich wollte mein erstes großes Bild malen. Hatte Nessel gekauft, aufgespannt, grundiert. Mische die Farben an und bin ziemlich aufgeregt. Da kommt Ralf, sagt: "Was, du willst 'n Bild malen? Wir malen heute unser erstes Gemeinschaftsbild". Ich war anfangs ein bißchen traurig, weil ich 'ne Vorstellung von meinem Bild hatte. Und so malten wir das erste Bild, das im Katalog als Lücke Nr. 1 mit dem Titel "Energetik" angeführt ist. Die nächsten Bilder malten wir zu viert, manchmal zu fünft, noch mit traditionellen Künstler-Ölfarben.

A.K.: Wie waren die ersten Reaktionen darauf?

W.O.: Unsere persönlichen Freunde waren befangen, aber Ralf hatte Mitarbeiter vom Kupferstichkabinett und befreundete Künstler eingeladen, von denen Toleranz zu erhoffen war. Für uns war's natürlich spannend. Ob jemand zur ersten Ausstellung kommt, es interessant genug findet, um zu kommen. Oder ob die Staatssicherheit den Laden vorher dicht macht und nicht nur Erkundigungen einholt. Aber die Publikumsresonanz war - gemessen an den Räumlichkeiten - einfach toll. Herr Friedrich vom Kupferstichkabinett, heute ein Kenner und Sammler moderner Kunst, gestand ganz ehrlich, daß er unser Anliegen nicht - also einfach vom Schauen her - erfassen könne und bat uns um einen Zugang durch verbale Erläuterung.
Es gab auch kritische Anfragen, weil dieses Konzept die Frage stellte: "Was ist noch Kunst?" Hat Kunst mit Können, mit sogenannter künstlerischer Meisterschaft zu tun? Und diese Frage ist ja laut Standartkonzeption aufgehoben. Es geht also nicht mehr um feine Couleur, auch nicht um den subjektiven Kraftausbruch von Expressionismus und Nachexpressionismus. Für uns ist das Expressive, Direkte nur Teil unseres Seins und Lebensgefühls. Es ging um die Überprüfungsmöglichkeiten unseres Standes durch Vergleich innerhalb der eigenen Werkreihe und den Vergleich zu den anderen im Vergleich zu der Raumsituation, die uns umgibt. Inwieweit wir zu dem, was uns umgibt, eine Alternative stellen können. Qualität ist das, was sich durch die Praxis bestätigt.

A.K.: Es war ja - vom theoretischen Ansatz her - eine Aufhebung von Kunst im bürgerlichen Sinne. Wie bei Beuys auch.

W.O.: Ja, das war uns bewußt, daß das eine Aufhebung bedeutet und daß es natürlich dadurch auch Widerspruch hervorruft.

A.K.: Ist es z.B. einfacher, so zu malen als zum Beispiel einen Akt? So oder ähnlich lauten doch die Fragen ...

W.O.: Nach meiner Meinung ist es nicht schwerer und nicht leichter, abstrakt zu malen oder gegenständlich. Der Vorwurf von den Normalverbrauchern, denen also, die sich kaum mit Bildender Kunst konfrontieren, ist wirklich standardisiert: "Das bringt mein Kind auch!" Und dazu sage ich meist: "Das ist 'ne gute Äußerung." Wenn wir das Unvoreingenommene und Unbestechliche des Kindes als Erwachsene wieder in uns erzeugen können, was nur durch Arbeit zu erreichen ist, dann sind wir einen ganzen Schritt weiter, dann fallen unüberprüfte Normen, die unser Leben hemmen.

A.K.: Arno Holz schrieb in seinem Essay "Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze": Kunst ist gleich Wirklichkeit minus X. Und er hat das erklärt anhand dieser Zeichnung, in der ein Kind einen Soldaten als Strichmännchen darstellt. Als würde das Kind statt Soldat "Suldat" schreiben. Und er erklärt: Das ist dann Kunst. Und wenn Kunst minus X gleich Wirklichkeit ist und das X immer kleiner wird, was anzustreben ist, dann ist Kunst gleich Wirklichkeit. Und das meinte ... im Wesen die naturalistische Theorie...

W.O.: Hm, das gibt mir zu denken... ist mir unbekannt.

A.K.: Ging das vielleicht in diese Richtung? Aufhebung, sagen wir mal: des Kunstwerts X.

W.O.: Ja, stimme ich zu.

A.K.: Und für Holz stand die Frage, ob das Strichmännchen eines Kindes – also diese „Wirklichkeit“ – als Kunst anzusehen ist.

W.O.: Das bestätigt unseren Gedankenansatz der „Lücke“: Nur, die in der Kinderzeichnung geschaffene Wirklichkeit anzuerkennen ... okay, ist richtig. Probleme treten auf, wenn man die Funktion überdenkt. Das Kind ist in seinem System befangen. Unser Ziel lautete, durch unsere Arbeit den Raum in seinen Relationen zu bestimmen und neue Räume zu erzeugen. Das schließt ein, daß man in der Analyse aus dem eigenen System heraustreten muß, um die Relationen zu anderen Systemen herstellen zu können. Das ist der Punkt; hier kommt man mit der Kinderzeichnung nicht weiter. Die Qualität des visuellen Systems in der Kinderzeichnung ist für den erwachsenen Macher von Bedeutung. Nur durch Training kann er da herankommen. Aber es wird und muß ein anderes System sein, weil es bewußt erzeugt ist und nur dadurch abrufbar zur Verfügung steht. Lücke konzentrierte sich auf die Analyse und Erzeugung von Ordnungsprinzipien. Auch hier stand die Frage: Wo beginnt Kunst, wo hört sie auf? Ich erinnere mich an eine Episode. Das war in Meißen. Vor den Schaufensterauslagen eines Privatgeschäfts für Eisenwaren blieben wir wie gebannt stehen. Die Werkzeuge bildeten in ihrer Anordnung ein überzeugendes visuelles System, jeder Gegenstand hatte eine räumlich logische Beziehung zum anderen und zum Ganzen. Der Mann, der das gemacht hat, wird anonym bleiben.
Bilder sind nicht mehr und nicht weniger als Modelle für Organisationsprinzipien. Wichtiger sind Organisationsprinzipien in der Realität. Das betrifft ja alle Menschen und prägt sie. Wenn wir an den Gemeinschaftsbildern arbeiteten, dann ging es vorrangig um den bildkünstlerischen Lösungsversuch, aber unser Umfeldbewußtsein war stets präsent, in den Gesprächen während der Aktion und in der Auswertung beim Betrachten. Film war ja für uns eine bewußte Ergänzung des Malprogramms. Hier konnte man mit Raumordnungsprinzipien in der dreidimensionalen Realität arbeiten.
Nun zu den Gemeinschaftsbildern. Die erste Serie der Lücke-Bilder war noch stark von unserer Erfahrung mit dem Standart-Training geprägt. Mit Standart hatten wir uns so etwas wie ein Vokabular oder Werkzeug geschaffen. Ein Vokabular, um uns gegenseitig zu verständigen, einen Dialog zu führen mittels einer visuellen Sprache. In dieser Phase setzten wir die Zeichen, Symbole, Raster noch relativ isoliert, additiv auf die Fläche. Deshalb auch unsere Bewunderung für Schaufensterauslagen und ähnliches. Das Problem der Bildlösung, der künstlerischen Qualität, ist bei aller Reduktion nicht aufgehoben. Das merkten wir bald; wir mußten ganz schön arbeiten.

A.K.: Kommen wir noch einmal zu dieser ersten Serie ...

W.O.: Diese ersten Bilder waren wichtig, sozusagen der positiv verlaufene Versuch. Wir hatten damit überprüft, daß es möglich ist, Bildlösungen zu finden, die von allen Beteiligten akzeptiert werden, und daß die Spannung und die Fähigkeit der einzelnen Beteiligten dazu ausreichen. Die Gründung der Künstlergemeinschaft war dann ein von uns organisierter, fast offizieller Akt. Wir mieteten uns das Filmtheater im „Haus der Presse“ für drei Tage. Das kostete 100 Mark pro Tag. Dort malten wir einige Formate, stellten sie auf, rollten Papierbahnen aus. Auch darauf arbeiteten wir gemeinschaftlich oder jeder für sich, es gab keinen Zwang.
Die ganze Aktion wurde von uns gefilmt. Vom erhöhten Regieraum aus konnten wir das Ergebnis überschauen, ein reicher Ertrag für diese kurze Zeit. Mit einem Glas Sekt für jeden erklärten wir unsere Bilderproduktionsgemeinschaft für gegründet. Wir beschlossen außerdem, daß jeder seine Ziele und Vorstellungen betreffs der Gruppe in einem kleinen Manifest schriftlich fixiert. Der Name „Lücke“ war schon vorher von mir in die Diskussion eingebracht worden. Er enthält die Anspielung auf die Dresdner "Brücke" und auf unsere Raumerfahrung, das Vakuum in Fragen einer neuen Visualität.

A.K.: Die Stand Art Lücke?

W.O.: Stand Art Lücke. Vielleicht so. Wir fanden die Bezeichnung Lücke-TPT. Die drei Buchstaben bedeuten team-psychologische-techno-strategische Malerei. Team ist klar, das Psychologische als Malgrund und Antrieb unserer Existenz auch. Ja, das ist es.
Die Gedanken im Manifest, die Hauptgedanken: Die Arbeit am Raum stand im Mittelpunkt. Wir vereinbarten, uns mittels der von uns erzeugten Signale über unsere eigene Raumsituation zu verständigen und zu einer gemeinsamen Beurteilung des Raumes zu gelangen. Besonders eingeprägt hat sich mir die neue Bewertung des Geldes. Der traditionelle Maßstab Geld sollte für uns in seiner Bedeutung zurücktreten. An seine Stelle wurde die Qualität des von uns erzeugten Raumes gesetzt. In diesem Raum wird Information zu Wert.

A.K.: Information statt Geld?

W.O.: Ja, Geld und alles, was dranhängt: Aufstieg, Anerkennung, Status als Künstler, dessen Wert allein am finanziellen Erfolg gemessen wird. Denn da beginnt es ja, daß man den eigenen Raum zumacht, der Umgang mit dem anderen von taktischen Erwägungen bestimmt wird. Die im Manifest formulierten Ziele waren kaum zu erreichen, scheiterten an unserer eigenen Unzulänglichkeit: Auch wenn diese Ziele Utopie blieben, der Impuls hatte für uns positive Wirkung. Die über einen Zeitraum von 5 Jahren entstandenen Gemeinschaftsbilder sind für mich der Beweis. Ich habe mehrmals die Erfahrung gemacht, daß es nicht ausreicht, wenn ein paar Künstler sich entschließen, gemeinschaftlich Bilder herzustellen. Die sogenannte künstlerische Qualität ist nicht so ausschließlich entscheidend. Wichtiger sind Haltungen.

A.K.: Kannst du die anderen Punkte etwas genauer erläutern?

W.O.: Ich möchte noch etwas zum organisatorischen Ablauf sagen. Ich glaube, das erhellt einiges. Die zwei Zimmer meines Ateliers in der Hechtstraße - Atelier ist hochgestapelt -, die zwei Zimmer in einem alten Nebengebäude also wurden das Lücke-Atelier. Hier fanden auch Ausstellungen statt, unter dem Namen "Lücke Frequentor". Wir trafen uns einmal in der Woche, montags, da hatte ich unterrichtsfrei. Der Montag war ein guter Tag für solche Aktionen. In der Regel trafen wir uns 9.00 Uhr und unternahmen etwas gemeinsam, Atelierbesuche bei Freunden, Ausstellungen, gingen ins Freiluftbad, organisierten Material, machten Filme. Zwischen 17.00 und 18.00 Uhr begann die Bildproduktion im Atelier. Das in der vorangegangenen Woche gemalte Bild wurde aufgestellt und ausgewertet, denn nachdem wir uns auf PVC-Farben umgestellt hatten, wurden alle Bilder auf dem Fußboden liegend gemalt. Natürlich lagen die Bilder auf dem Fußboden. Es gab Bilder, auf denen wir das Format in Sektoren aufteilten, jeder Teilnehmer suchte sich ein Feld aus, dessen Begrenzung er einzuhalten hatte. Meist wurde aber auf der gesamten Fläche gemeinsam agiert. Nur die Reihenfolge, wer wann seinen Zug hat, war abgesprochen. Beim Malen selbst war alles erlaubt, es gab kein Einspruchsrecht. Wenn es einem gefiel, konnte er die gesamte, mühsam aufgebaute Fläche wieder zustreichen. Alle Bilder wurden am gleichen Abend fertiggestellt. Das Bild war dann fertig, wenn auch der letzte nichts mehr daran machen wollte. Wenn man richtig überlegt, ist es einleuchtend, ein ur-demokratisches Prinzip. Das bedeutet unausgesprochen, jeder hat sich mit dem Ergebnis zu identifizieren. Ist er nicht einverstanden, muß er eben etwas machen.
Die Schlußfolgerung für die Gesellschaft wäre nicht auszudenken. Man kann sich nicht mehr verstecken und die Verantwortung abwälzen. Dem Gemeckere und dem Frust ist der Boden entzogen. In der Darstellung des organisatorischen Ablaufs sind noch einige Aspekte enthalten, deren Konsequenz höchstwahrscheinlich erst durch ein paar Erläuterungen deutlich wird. Dadurch, daß wir den Tag meist zusammen verlebten, wurden Relationen unter uns geschaffen; der Tag erhielt seine Farbe, enthielt seine Themen, war unmittelbare Vorbereitung auf das zu malende Bild. Dazu kam, daß wir uns das in der letzten Woche entstandene Bild erst einmal richtig anschauen konnten. Die PVC-Farben waren getrocknet; das ist ein anderer Eindruck, als wenn es naß glänzend auf dem Fußboden liegt. Die Konsequenz des Ganzen ist, daß es keiner thematischen Absprache darüber bedurfte, was wir am jeweiligen Tag malen würden.
Nach der ersten Phase, den ersten Bildserien, ich will sie mal „Phase der Selbstbehauptung und Erprobung“ nennen, wurden auch die Möglichkeiten der Befreiung durch Aggression vor Ort erprobt. Das heißt: Wenn einem etwas nicht gefiel, hatte er also alles übermalt oder die Farben büchsenweise drübergegossen, möglichst vom erhöhten Standort aus, damit es auch richtig Effekt hatte. Und der Effekt war, daß es auf der einen Seite zwar ein psychologisches Abreagieren gab, auf der anderen Seite aber auch ermittelt wurde: was bringt eigentlich diese Expressivität? Die bringt nämlich nicht so sehr viel. Die bringt nicht so sehr viel der Bildlösung näher. Nun war ja das Bild an diesem Abend fertigzustellen. Aus Gründen der Ökonomie wurde bald auf solche Aggression verzichtet.

A.K.: Das war also die zweite Phase, die "aggressive"?

W.O.: Ja, das Aggressive war die zweite Phase. In dieser Serie gibt es Bildlösungen - um in der Kunstgeschichte 'ne Orientierung zu geben -, die als informelle Malerei bezeichnet werden können. Auf solchen Bildern waren die Farben manchmal so dick aufgetragen, daß sie sich nach kurzer Zeit in Schollen und Rissen vom Malgrund abhoben. In den beiden letzten Jahren, wo gegenseitiges Verstehen durch unsere Arbeit erzeugt worden war, gab es Bilder, die in relativ kurzer Zeit zur Lösung gebracht wurden.

A.K.: In dieser Phase konntet ihr also ein gegenseitiges Verständnis aufbauen?

W.O.: Ich glaube, daß das dann die letzte und dritte Phase gewesen ist, nach unserer Armeezeit von 1974 bis 1976. Jeder wußte vom anderen oder konnte die Mittel des anderen einschätzen und hat aus Überlegung der Ökonomie den anderen Freiraum gelassen. Ich mache jetzt das, wo ich mir sicher bin, das andere lasse ich offen, ich brauch' nicht die Omni-Potenz, jetzt genial sein zu müssen, um mit einer Aktion die Bildlösung unbedingt herbeizuführen. Es war ja immer noch unser Ziel, die individuell gegensätzlichen Strukturen durch Integration zur Lösung zu führen und nicht Lösung durch individuelle Prägung des Gesamten. Es hatte sich natürlich was eingeschliffen, so etwas wie ein Gemeinschaftsstil. Der war viel malerischer als in den ersten Bildern; also der malerische Aspekt trat wieder deutlicher hervor und wurde als Qualitätssprung so belassen. Bei den Bildern der letzten beiden Jahre ist für den Außenstehenden kaum noch zu erkennen, wer was gemacht hat.
Und damit ist von der inneren Logik her das Ende des Gruppenkonzepts benannt. Daß die Auflösung durch äußere Elemente noch beschleunigt wurde, ist auch klar. Wir sind also in den Jahren 1973 bis 1975 alle, obwohl wir generationsmäßig zehn Jahre auseinander liegen, zur NVA eingezogen worden. Das war 'ne Art Überprüfung, ein Test, wie weit wir's ernst meinten. Wehrdienstverweigerung stand zur Diskussion, und es traten die ersten ernsthaften Differenzen wegen dieses Themas auf. Am Ende haben alle vier Gruppenmitglieder den NVA-Dienst absolviert. Das bedeutete, daß wir mehr als drei Jahre nie alle Mitglieder zusammenhatten. Das ist auch ein Grund dafür, daß eine ganze Serie von Bildern nur von zwei Akteuren, von Ralf Winkler und Wolfgang Opitz - weil wir den längeren Zeitraum Zivilpersonen waren - erstellt wurde. Wie ich später erfahren habe, war das eine geplante Maßnahme. Nun ja, eigentlich hätte es das Konzept nicht beeinträchtigen dürfen, wenn nicht die Widersprüche in der Gruppe selbst gewesen wären. Das Ergebnis war folgendes: als Steffen Kuhnert und Harald Gallasch von der Armee zurückkamen, also nach 1 1/2 Jahren, hatte sich bei ihnen soviel aufgestaut, daß für sie das individuelle Werk als wichtiger angesehen wurde, die Erfahrung durch Gruppenbilder, wie man große Formate bewältigt, mußte nun im eigenen Werk erprobt und bestätigt werden. Und jetzt zeigte sich auch, daß bei aller Übereinstimmung in den theoretischen Konzepten auch grundlegende Differenzen bestanden in der Frage: Was soll mit den Produkten der Gruppe geschehen?

A.K.: Wie ist es 1976 zur Auflösung gekommen?

W.O.: Alle vier Beteiligten waren sich einig, daß wir die Gruppe auflösen. Es war auch organisatorisch schwierig geworden, alle vier regelmäßig zusammenzubekommen. Kuhnert lebte in Berlin, später in Rostock.

A.K.: Ihr habt die Bilder auch ausgestellt?

W.O.: 1973 machten wir im gleichen Filmatelier, in dem wir unsere Gruppe gegründet hatten, unsere erste Ausstellung. Sie diente uns selbst zur Überschau, und wir nutzten die Gelegenheit, um es durch Film dokumentieren zu können. Wir verzichteten bewußt darauf, ein größeres Publikum einzuladen, nur einzelne Personen, die in der Szene etwas zu entscheiden hatten. Es war die einzige Ausstellung in der Zeit, als alle Gruppenmitglieder noch in der DDR lebten. Also als wir uns bewußt als Untergrund bezeichneten und Untergrund-Ausstellungen machten. Später haben wir uns mit einzelnen Bildern an Konzept-Ausstellungen beteiligt, so 1981 im Leonardi-Museum Dresden.

© Asteris Kutulas, 1989

 

Ralf Winkler
Manifest 1971
(Veröffentlicht in der Zeitschrift Bizarre Städte, Sonderheft 2, Herausgegeben von Asteris Kutulas, Eggersdorf-Süd 1989)

1.Ich denke, daß unsere vornehmste Aufgabe unsere Relation zum Raum ist und zwar hinsichtlich der Kenntnis der Räume, der Beurteilung von Räumen, der Erzeugung von Räumen und der Transformation von Räumen.
Deshalb erachte ich es als notwendig, diese Aufgabe neu zu bestimmen. Es ist klar, daß unser Denken selbst auf den Raum bezogen ist und dieses nach Art der Ziele, die wir haben. So ist die Erde ein Raum, der der Beurteilung heute zugänglich ist, weil das Stadium der Entdeckung und des Kennenlernens im wesentlichen vorbei ist, wenn auch der Einzelne diese Phasen wiederholen muß.
Der geschichtliche Raum ist heute eine Sammlung von Informationen, die uns der Beurteilung zugänglich ist, genauso wie der zeitgeschichtliche Raum, den wir jetzt erleben und auf den wir selbst in stärkerem oder schwächerem Maße Einfluß nehmen.
Ebenso ist der vom Menschen gestaltete Raum zum gegenwärtigen Zeitpunkt einer Beurteilung zugänglich samt seiner Psychologie, deren Grund Genetik ist.
Unsere Existenz ist zweifellos auf das Bewußtsein von der raumgestaltenden Kraft von Signalen bezogen, mit denen wir dem Raum die Form geben, die unsere Existenz verlangt. Wir wissen, daß dieser Satz selbst die Unberechenbarkeit des Schicksals aussagt. Aber wir können auch die Differenz und das Problem beurteilen, die unsere Haltung und Aktion motivieren und Raumerzeuger sind. Unsere Aufgabe kann nur darin bestehen, daß wir dieses Bewußtsein hinsichtlich seines Wertes fixieren und den Raum, den wir erzeugen, selbst als Wort setzen durch dieses neue Bewußtsein.
Das bedeutet, daß wir Einigkeit und Klarheit darüber erlangen, welche Qualität (Struktur und Funktion) der Raum, den wir erzeugen oder erzeugt haben, hat. Diese intelligente Einigung bestimmt selbst die Struktur eines Raumes, der diese Räume ordnet. Diese Einigung zu erzeugen, ist die Funktion dieses Dokuments.

2. Wenn wir dieses wollen, so ist das Vergleichen von Urteilen, das Erzeugen von Urteilen und ein gemeinsames Urteil über diese Struktur von Urteilen notwendig.
Dieses System von Urteilen wird empirisch und pragmatisch und theoretisch die Struktur der Räume erschließen und zu einer Festsetzung gelangen. Dabei ist es ohne weiteres ersichtlich, daß zum Zeitpunkt des Urteils es nur ein Enthalten, eine Trennung (mit Austausch und Ausgleich), ein Nichtenthalten und eine Verbindung gibt, sowie noch andere aus der Mengentheorie bekannte Relationen, die aber alle schon gebrochene Zustände sind. Soweit das Urteil über Relationen reicht, gibt es seelische Vorgänge, die freilegen oder verschließen, spannen oder lösen, schmerzen oder freuen. Indem wir die Seele als Grund sehen, ist das Urteil über Räume ein Freilegen dieses Grundes.

3. Wir wollen Raumordnungen durch klare Bilder, die psychische Entscheidungen ermöglichen. Das bedeutet, daß wir über Urteil hinaus Formen der Relation im Raum fixieren,intensivieren und erfinden als unsere Arbeit im und am Raum.
Das bedeutet auch, daß wir uns über unsere Tätigkeit verständigen können mittels einer speziellen Sprache, die unseren Raum, unsere Raumsituation und unsere Leistung dem anderen signalisieren und daß wir durch diese Signalisation unser Leben in seiner Gestalt entscheiden.

4. Wenn wir uns darüber einigen, daß wir neben dem traditionellen Wertmaßstab Geld einen neuen Wertmaßstab setzen, so wird diese Maßstabsfindung uns instandsetzen, unseren eigenen Raum zu behaupten. Wert ist dann gleich Raum. Raum ist Wert. Wenn wir eine Form erfinden, die dieses signifikant macht, so kann diese Formel einmal den konventionellen Maßstab ablösen, was wir wollen.

5. Unsere Arbeit kann jetzt und in Zukunft nur darin bestehen, die vom Prinzip Abgeleiteten zu Fakten unseres Bewußtseins zu machen, um zu einer gewollten Form zu kommen, deren Raum den Absichten entspricht, über die wir uns in Zukunft einigen können oder zu denen sich jeder einzelne entschließt!

© Ralf Winkler

 

 

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