Michalis Katsaros & Mikis Theodorakis

Interview zur Sadduzäer-Passion

Asteris Kutulas: Eine der wichtigsten Ebenen in deinen Kompositionen ist stets die dichterische Vorlage, die viele Funktionen erfüllt, besonders aber diese: Kommunikation mit dem Publikum zu ermöglichen. Nun scheint mir aber dieses Prinzip in der Sadduzäer-Passion durchbrochen zu sein, denn der alles beherrschende Text in seiner Verschlüsselung trägt diesmal kaum zur Verständlichkeit des Werks bei.

Mikis Theodorakis: Dieses Werk folgt einer eigenen Intention und hat eine eigene Geschichte. Das Poem von Michalis Katsaros erschien 1951. Als ich es ein Jahr später in Athen las, war ich tief erschüttert, obwohl ich mit einigen Aussagen des Gedichts nicht übereinstimmte. Ich akzeptierte das Absurde, verwarf aber das Logische darin. Ich wollte in jenen Jahren selbst nicht zugeben, wie groß der Riß in uns war, in unserer Generation. Es war die Zeit, da wir geschlagen aus den Verbannungslagern entlassen wurden, und wir konnten uns unsere Niederlage nicht eingestehen. Viele von uns beschönigten die Lage und sahen Möglichkeiten, wo es keine gab, während Katsaros als erster, und vor dem XX. Parteitag, den Mut hatte, Wahrheiten zu sagen, die für jene Zeit äußerst bitter waren.

Kutulas: Du warst damals mit Katsaros befreundet?

Theodorakis: Als ich 1952 nach Athen kam, traf ich Katsaros in einem Café, wo linke Intellektuelle verkehrten. Damals hatte ich keine Wohnung, denn ich war aus Kreta mit 300 Drachmen, einem Anzug und einem Mantel gekommen und besaß sonst nichts. Mit diesem Geld konnte man höchstens zehn Tage auskommen, wenn man keine Wohnung hatte. Athen war für mich eine einsame Stadt. Alle meine Freunde, Genossen, Kameraden waren noch in Konzentrationslagern, in Gefängnissen, manche lebten halblegal oder noch in den Bergen, andere waren in die sozialistischen Staaten gegangen, und sehr viele waren umgekommen.
Die noch Verbliebenen suchten einander, und so hörte ich, daß auf der Solonos-Straße ein kleines Café sei, wo linke Intellektuelle verkehrten. Ich ging dorthin und traf einige alte Bekannte, darunter auch Katsaros.

Kutulas: Du kamst aus Makronisos. Wie wurdest du aufgenommen?

Theodorakis: Die Informationen über Makronisos waren noch spärlich und widersprüchlich. Ich gehörte zu den ersten, die nun berichteten, was man auf Makronisos erlebt und gesehen hatte. Meine Zuhörer begriffen erst durch mich die Ungeheuerlichkeiten, zumal ich noch von dieser Zeit krank und gezeichnet war.
Nach dieser langen Unterhaltung fragten sie mich, wo ich wohne, und Katsaros lud mich ein, bei ihm zu wohnen. Er lebte im Haus seiner Schwester, die ihm die Kellerwohnung gegeben hatte. Diese Räume dienten früher als Kohlelager, hatten keine Tapeten an der Wand und nur ein Fenster. In diesem Zimmer mit Mäusen und Wanzen zu leben, war schlimmer als im Gefängnis. Außer den zwei Liegen stand dort nur noch ein kleines Regal mit Büchern.
Wir unterhielten uns oft über die Gedichte derSadduzäer-Passion und die anderen Gedichte, die er schrieb. Ich kannte fast alle diese Gedichte auswendig, und daher wurzelte diese Dichtung tief in meinem Innern. Seit jener Zeit hatte ich vor, diese Texte zu vertonen, ein Oratorium zu schreiben. Aber die Schwierigkeit bestand einerseits im Text selbst, der inhaltlich wie formal sehr kompliziert ist. Andererseits hing das mit dem Klima meiner Musik in den sechziger Jahren zusammen, die mehr zur Volksmusik tendierte.

Kutulas: Du meinst, Katsaros’ Dichtung ist nicht mit Volkstümlichkeit zu vereinbaren?

Theodorakis: Das Volkstümliche wird bei Katsaros zum Universellen. Das bedeutet: Das Volkstümlich zerbirst zu Tausenden kleiner Splitter, die sich im Universum zerstreuen. Katsaros’ Erfahrung ist zwar eine griechische, aber gleichzeitig auch eine allgemein menschliche und darum überall in der Welt von Interesse.
So mußte auch meine Musik ein anderes Stadium erreichen, in dem die vilkstümlichen Elemente explodieren und ich eine mehr persönliche Handschrift erringen würde.

Kutulas: Wann beschäftigest du dich erneut mit diesem Stoff?

Theodorakis: Als ich beschloß, mich wieder ausschließlich mit Volkssinfonik zu beschäftigen: 1967. Wäre nicht die Diktatur gekommen, hätte ich dieses Werk schon damals komponiert. Ich hatte alle Entwürfe fertig, die dann mit den anderen Sachen verlorengingen, als ich mein Haus verließ, um unterzutauchen.
Die nächsten Skizzen zu dem Werk stammen aus Zatuna (1969). Doch auch die verlor ich, als man mich ins Militärgefängnis Oropos brachte. In meinem Pariser Exil konnte ich das Buch nicht auftreiben, außerdem war die Zeit mit politischen Aktivitäten angefüllt. Es gab wenig Raum für Zurückgezogenheit und Konzentration, und daß ich die Achtzehn kleinen Lieder , die Balladen und den Canto General komponierte, wundert mich selbst.
1974 kehrte ich nach Griechenland zurück, aber die Situation war schlimmer als in der Zeit des Widerstands. Politisch-ideologische Faktoren vermischten sich mit psychologischen, und die Anteilnahme der Massen wechselte ständig zwischen Bewunderung und Verdammung. Hinzu kam, daß meine Musik vorher völlig verboten war, jetzt aber ständig gespielt wurde. Unter diesen Umständen konnte ich mich kaum sammeln. Um meinen Weg zu finden, brauchte ich Jahre. Diese Ereignisse - meine Rückkehr nach Griechenland 1960, der faschistische Putsch 1967 und der Machtwechsel und meine erneute Rückkehr 1974 - wiesen mir langsam den neuen Weg, den ich mit der Zweiten und der Dritten Sinfonie begann und mit der Sadduzäer-Passion fortsetzte. Denn jetzt fühlte ich mich in deder Hinsicht, geistig wie technisch, in der Lage, diesen Text zu bewältigen und solch ein Werk zu schreiben.

Kutulas: Bestimmte der inhaltlich Aspekt die stilistischen und formellen Unterschiede von Dritter Sinfonie und Sadduzäer-Passion?

Theodorakis: Außer dem III. haben die Sätze der Sinfonie eine ausgeprägt einheitliche Struktur. Der III. Satz faßt die Ereignisse auf einer anderen Ebene zusammen. Der Gang der Geschichte wird darin unterbrochen, um sie mit ihrer Passion durch die byzantinische Sicht aufzuheben und zu verallgemeinern. In den übrigen Sätzen wiederholen sich Themen, wechseln einander ab, und die Musik folgt hier natürlich der Struktur des Gedichts. Zu Beginn die Darstellung der "sternklaren Nacht", einer unendlichen Ruhe, die aber alle Schreie schon in sich birgt. Im II. Satz tritt die Mutter selbst auf, und ich versuche ihren Seelenzustand deutlich zu machen. Im III. Satz ist es die Mutter, die singt. Der andersgeartete Charakter dieses Satzes hängt also mit dieser Subjektivität zusammen. Der IV. Satz bringt endlich die Erlösung mit dem Auszug des Chores.
Natürlich muß ich, wenn ich Texte vertone, der Struktur der Dichtung folgen. In der Sadduzäer-Passion folge ich nicht der Reihenfolge der Gedichte, die Katsaros vorgibt. Ich traf eine eigene Auswahl und Anordnung, um dem Werk eine innere Einheit und Entwicklung zu geben, die meiner musikalischen Intention entsprechen, ohne dadurch die dichterische Aussage zu verfälschen. Der Text mußte bearbeitet werden, um dem Musikwerk, wie in einer Oper, die dramatische Entwicklung zu garantieren.

Kutulas: Läßt sich diese inhaltliche Entwicklung der beiden Werke auch auf die Musik übertragen?

Theodorakis: Die Sadduzäer-Passion ist technisch ausgereifter als die Dritte Sinfonie. Aber selbst in der Sadduzäer-Passion habe ich nur einen Bruchteil der vorhandenen orchestralen Möglichkeiten ausgeschöpft, aber ich denke, daß der Weg einer technisch immer ausgereifteren Musik der richtige für mich ist. Man muß nur der Versuchung widerstehen, technische Perfektion als Selbstzweck zu betreiben. Es ist relativ einfach, ein technisches Feuerwerk zu veranstalten. Weit schwieriger jedoch ist das, was mich interessiert, daß nämlich die musikalischen Leuchtkugeln kleine lebendige Organismen sind, eine Seele besitzen. Sie dürfen nicht aus Farben bestehen, die nur intellektuell bestimmt werden können. Ich will in meinem Werk ganz aufgehen, mit meinen Wurzeln und meinem Blut.
In der Sadduzäer-Passion bin ich meinem Ziel am nächsten gekommen, ohne die Beziehung zu mir selbst, meinen Wurzeln und Traditionen einzubüßen. Erreiche ich das, ist auch der Kontakt mit den Hörern gewährleistet: was mich bewegt, wird auch die anderen bewegen.

© Asteris Kutulas, Februar 1983

 

 

 

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