Nafplion, zwischen Antike und T-shirts


17. Oktober

Wir wohnen im Grande Bretagne, einem alten, schäbigen Hotel am Meer. Gegenüber der Kai. Es ist windig. Wir sind durch Argolis gefahren, karge Landschaft, nur vereinzelt Vegetation, Olivenbäume, Pinien, Sträucher. Schafherden, die hinter den zahlreichen Hügeln verschwinden. Wenig Wasser hier. Ich muss an die Filme von Cacojannis denken. Elektra zum Beispiel. Schwarzbetuchte Frauen auf staubigen Feldern, kaum vorstellbar, dass sie fruchtbar sind. Die Felder nicht und nicht die Frauen mit Gesichtern wie in Holz geschnitzt. Das Murmeln des Chores, apokryphe Formeln, die verlöschen, als murmelte die Erde selbst. „Viel Unheil hat für Griechenland und für dein Haus/ die Schwester deiner Mutter, Helena, gestiftet!“, und ein wenig später finde ich beim Durchblättern des Buchs, als wäre er nicht von dieser Welt, den Satz: “Im Hafen von Nauplia hörte ich einen, der von Troja gekommen.”

Der von Troja gekommen. Was dieser Satz damals bedeutete. Aber ich halte nichts von Einfühlung, auch nichts von einfühlender Abstraktion. (Du sprachst immer von unserer melancholischen Erziehung.) Den ganzen Tag gehe ich durch die kleine Stadt. Schau den Händlern zu. Wie sie ihre Waren den ausländischen Touristen feilbieten. „Du nehmen ...“, „Greek fashion ...“, „Ela, Ela, Ela“. Ich sitze in einem Cafe; gegenüber ein winziger Laden, wo Hosen verkauft werden. Der Besitzer, ein Mann um die fünfzig, Halbglatze, blaues Hemd, graugrüne Hose, starrt in die Gegend, zwischen den Fingern den Rosenkranz. Er lehnt an der Tür seiner „Boutique“, wie es verheißungsvoll an den Scheiben klebt. Ich bleibe lange sitzen, döse vor mich hin. Der Mann sieht zu mir herüber, lächelt. Ich beobachte ihn, kein einziger Kunde, am ganzen Tag vielleicht einen Käufer, höchstens zwei. Ich komme zum emphatischen Schluss: Die Energie eines Mannes verpufft in zwei verkauften Hosen. Schöne Vorstellung vom Sinn des Lebens. Ich laufe durch die engen Gassen, lege mich an den Strand, lese zum wiederholten Mal in Büchern aus meinem Reisegepäck. Ich bleibe draußen, zumeist. Das Seh-Raster, das neue, verheddert sich im ideologischen Gestrüpp meines Denkens. Unwichtig, denke ich, und gehe schwimmen. Sich treiben lassen im Meer. Alternativlos in sich ruhn. Was haben sie mir noch zu sagen, die Alten, überlege ich. Die Wellen greifen in mein Haar.


18. Oktober

Auf dem Burgberg wenige Touristen. In der Ferne das Meer bis zum Horizont. Vor uns die argivische Ebene. Über der einsamen Akropolis der Atriden erhebt sich, ewiger Zeuge des zerbröckelnden Gesteins, der Berg des Propheten Ilias. Christlicher Schatten auf heidnischer Kultur. Und zwei graue Esel am Fuße der mykenischen Burg. Terrassenförmig angelegte Felder. Rotes Ackerland auf den abfallenden Hängen ringsum.

Verdorrte Natur. Gegend für Schwarzweißfilm. Ins Negativ sich ätzende Ausdünstungen der entkräfteten Erde. Und ich laufe durch die mykenischen Wehranlagen, auf Wegen, von Gottesfingern in die Erde gekrallt. Spuren von Todeskrämpfen. Über mir der zugedeckte Himmel von Berlin. Auch hier dachte man an ein tausendjähriges Reich, erinnerte ich mich. Kaum Zufall, dass Hans mir zuraunt: Hier, in Mykene, muss ich ständig an Himmler denken. Seltsam, nicht? In Delfi war es anders, man spürte mehr Harmonie. Hier aber ... - Das macht die Landschaft, antworte ich, und diese Riesenquader, aus denen das Schloss gebaut wurde, dieses Tor mit den Löwen, insgesamt sechs Meter hoch, und natürlich der vor unserem inneren Auge ablaufende Film. Ich ging zu den Gräbern. Hier lagen sie bestattet in 16 Fuß Tiefe, bis Schliemann sie fand, die mykenischen Könige und Königinnen. Eine mächtige Dynastie, uns erhalten im Grenzgebiet zwischen zerstörter Wirklichkeit und Dichtung ... und Traum, hättest du gesagt...

Der Machtanspruch Agamemnons/ Die Machtansprüche der anderen achaischen Könige/ Einer Bettgeschichte wegen 1.146 Boote mit 50.000 Mann an Bord/ Troja/ Wirtschaftskrieg/Zufahrt zum Schwarzen Meer/ Zermürbung/ Blockaden/ Seekrieg/ Die Rohstoffarmut Mykenes/ Strategische Positionen/ Manöver/ Verhandlungen/ Erdbeben/ Und alles und jedes ein neuer Anfang eines neuen Endes/ Innere Zwistigkeiten/ Räuberische Überfälle/ Endlose Wanderbewegungen/ Der Untergang Mykenes.

Zeus, vordem ein launischer Wettergott, avancierte zum Chef auf dem Olymp und zeigte den Menschen, was gehaun und gestochen war/ Die Opferung Iphigeniens durch den eigenen Vater/ Die Ermordung des Vaters durch die eigene Frau/ Die Ermordung der Frau durch den eigenen Sohn/ Endloses Morden in einer Filmkomödie/ Jedes Zeitalter hat sein Troja - und, was viel schlimmer, sein Mykene...
Das "Schlachthaus" löst in mir
Das "Schlachthaus" löst in mir
Das "Schlachthaus" löst in mir/Erschauern nicht aus./Woher wir kommen, dachte ich.


19. Oktober

Heute wieder in Nafplion. Wir stiegen hinauf zur Palamidi-Festung, gerühmt schon von Homer, 999 Treppenstufen. Zu Schutzwällen aus dem Felsen getriebener Stein, sich mächtig über die argolische Bucht erhebendes Monstrum, grau in den Himmel ragend.
Nafplion – in der Neuzeit erst byzantinisch, dann venezianisch und türkisch. Seit 1828 erste griechische Hauptstadt. Das alles im Reiseführer. Nicht im Reiseführer das sogenannte Grab, das dunkle Loch, die Zelle von Kolokotronis. Ein vergilbtes Schild auf dem Innenhof des Schlosses mit dem auf Griechisch geschriebenen Wort „Kolokotronis“. Für Touristen unverständlich, vergebliches Nachschlagen. Für die Griechen eine Symbolfigur, General der Befreiungskriege 1821 bis 1829 gegen die Türken, von der Partei der Großgrundbesitzer und später dem Königshof ausgeschaltet, eingelocht wegen demokratischer Gesinnung. Der Beginn des Bürgerkriegs: die verdrängte Geschichte des modernen Griechen und die alte Tradition des Verdrängens, angefangen bei Homer.

Ideologische Waschungen. Zu nah, wahrscheinlich, fünf Jahrhunderte nur, war Homer dem Geschehen in Argolis, da ausgeplündert wurde die üppige Kultur des minoischen Matriarchats durch die neuen Kalkulierer, die mykenischen Könige. (Fünf Jahrhunderte nur. Da sollten wir froh sein, wandest du ein, betontest das wir.) Die Macht ging von Kreta auf Mykene über, und goldne Masken bedeckten von da an die Gesichter der toten mykenischen Könige. Goldne Totenmasken. Bei Homer also nichts darüber: Artemis, die große weibliche Naturgottheit, Iphigenie, die Geburts- und Fruchtbarkeitsgöttin, Helena, die verderbenbringende Todesgöttin. Alles in Vergessenheit geraten, wie der Mantel im bekannten Gedicht von Ritsos? Im Bewußtsein der Alten im klassischen Griechenland hatte die unbewußte Umwertung stattgefunden. (Ich höre dich schon lachen, alles Asche aus deinem Gehirn, hälst du mir vor.) Nur die Widersprüche ungetilgt. Das mütterliche, frauliche Element, beispielsweise der Artemis, wich zurück unter dem Einfluß der Apolloreligion. Verschwand fast völlig mit den Jahrhunderten. Neben den jugendlichen Apollo trat die jungfräuliche Artemis, die die Ehe haßt (ja,ja, der Zynismus der Ideologie, fuhrst du mir zwischen die Gedanken, das Gegenteil von dem behaupten, was einem nicht nützt, bis es verwandelt ist und in den eignen Kram paßt), "Opferschlächterin" heißt Artemis bei Homer, doch der Ursprung dieser Deutung ist unbekannt, denn Artemis wurde als Beschützerin der Jugend und der Frauen, ja, als Entbindungsgöttin verehrt. Bezeichnend auch, daß Artemis bei Homer als Schwester des Apollo erscheint und daß doch die Seite ihres Wesens, welche im Epos am deutlichsten hervortritt, die der Todesgöttin der alten Naturreligion ist.

Von hier oben sieht man weit hinaus aufs Meer, der Blick - an sich - ist kein andrer geworden. (Ich weiß, das stimmt nicht.) Nur die Wünsche haben sich geändert. Ich hoffe nicht auf die Rückkehr aus Troja. Und nach Ithaka möchte ich nicht reisen. O, antike Trostlosigkeit. Meine Generation depressiv; auch wir betrogen, auf andre Weise, sagst du immer wieder. Tröpfchenweise aus uns herausgepreßte Hoffnung. Die Bedeutung eines Wassertropfens für den Verdurstenden in der Wüste. Tropfen auf den heißen Stein. Tropfendes Etwas in einem Film nach Edgar Allan Poe. Das Epigramm von Simonides fällt mir ein. „Als dürftig erweist sich die Macht der Sterblichen,/ als fruchtlos ihre Sorgen: In kurzer Frist nur Mühsal auf Mühsal!/ Unentrinnbar, unterschiedslos bedroht sie der Tod“. Obwohl ich das nicht meine. Mühsal auf Mühsal, Tropfen um Tropfen.

Das dunkle Verließ von Kolokotronis, ein exotisches, fast antikes Grab, gleich dem von Klytämnestra in Mykene: man geht hinein und wird vom Rätsel umfangen. So wie wir bei Homer zwischen den Zeilen lesen, uns suchen. Süchtiges Dasein im 20.Jahrhundert. Wem kann ich erzählen, werde ich gefragt, daß mich die Ilias langweilt? Mir nicht, denn was spielt das schon für eine Rolle? Wie befangen wir sind. Kolokotronis im Gefängnis verwest. Der holländische Tourist beugt sich neben mir über die Mauer und fotografiert das Meer, das blaue, mit bunten Booten. Hier oben ich - sitze, schreibe und hoffe noch.


20. Oktober

Letzter Tag in Nafplion. Sonnenuntergang. Haben heute ein Auto gemietet und sind über Land gefahren. Dann durch die Stadt, noch einmal die kleinen Häuser im neoklassizistischen Stil. Später zur Kanathos-Quelle, wo, nach Pausanias, die Zeus-Gattin Hera jedes Jahr einmal badete, um ihre Jungfräulichkeit wiederzugewinnen. Heute steht um die Quelle ein Nonnenkloster. H. spricht immer noch von Mykene: Das ist ein richtig finstrer Ort. Selbst am hellichten Tag. Kyklopische Mauern. Wie sich das schon anhört. Die nackte Gewalt steckt in der Architektur. - Ich mußte ständig an Orest denken. Da kommt einer nach Haus, bringt seine Mutter um, die er gar nicht kennt, weil sie seinen Vater erschlug, den er erst recht nicht kennt. Ob die Erinnerung verblaßte?, deine ewige Fragerei. Ob Klytämnestra wirklich erbrechen mußte - wie Hauptmann behauptet, oder war das jemand anders? -, als sie ihrem Ehemann Agamemnon mit dem Beil den Kopf spaltete? Ob Orest erbrechen mußte, als er Klytämnestra erdolchte? Mykene, ein ganzes Volk, schuldverstrickt, ängstlich, erbrechen zu müssen. Und der Dichter Seferis, der ganz vorsichtig und voller Wehmut den kleinen marmornen Bären berührte, das Weihgeschenk für Artemis aus dem Heiligtum in Brauron. Welch Gedanke. Und am laufenden Band Griechen mordend, eine Griechin, Iphigenie. Sich verdichtende Bilder -

sie, die entrückte,
wollte ersticken ihren schrei, doch bewegte sich
der mund schneller als die gedanken, der langgezo-
gene laut entlud sich zeitlupenschnell, sie sah
ihn, konnte ihn anfassen, er umschlang sie, er-
drückte sie, quetschte sie aus. ein rinnsal blut
sickerte in den gelben, von der sonne angezündeten
sand. und kein entrinnen dort- oder anderswohin.
sie schüttelte ab die furcht und schritt langsam in
den dunkeln raum, der sie schon seit äonen umgab,
in die marmorne kapelle. nein!, rief sie, er ist
nicht mein bruder, deutlich silbe um silbe. sprang
dann über den heißen bach, der sich weiter unten
ins meer ergoß, ins rote. nein, ich bin nicht ma-
ria, beharrte sie - und wußte: - vergeblich, fiel
dem götzenbild zu füßen (der autor versuchte mit
aller kraft (der arme!) diese assoziationen zu ver-
drängen, es riß ihn tiefer in die kette: es war
wirklich umsonst...)

Wie überall so auch in Nafplion die Touristenläden dicht beieinander. Dieses Jahr auf den meisten T-Shirts no problem!, aber auch Nostalgisches, rosarote Panther und ähnliches. No Problem, sagte er, ich habe keine Probleme, verharre im Embryonalzustand, der Vater drückte mir die Luft ab, in seiner Umarmung... Etwa so. Daneben die Postkarten, alle zusammen, ineinandergreifende Leiber. Postmoderner Abfall, naturalistische Meisterwerke, Nachhilfestunden in Surrealismus. Eine Kreuzung des modernen und antiken Sex, Hermesköpfe - abfotografierte Kopien (du mußtest den ganzen Tag mit Weitwinkel fotografieren, das Normalobjektiv hatte versagt, die Automatik zeigte immer auf rot, permanente Unterbelichtung), hartnäckig behaupteten sich die von Meeresfeuchte glitzernden Brustwarzen, die braungebrannten Frauenschenkel und untergehenden Sonnen (ach, wie schön!, an der Stelle stöhntest du immer), in der Mitte zersägte Pferde, aus einer violetten Wand herausragend, von einer kirschroten Venus beobachtet. Dann die Phalli, von marmornen, gipsernen oder bronzenen Satyrn, kleine oder größere Exemplare, in verschiedenen Farben, Analogien oder die auf den Postkarten; während auf Kreta skandinavische und bundesdeutsche Touristinnen demonstrieren, auf großen, roten Transparenten die Losung vor sich hertragen: „wir sind auch nur frauen“ - das Erste Griechische Fernsehen dreht, die orthodoxe Kirche tadelt, die Hosen der Männer vor den Apparaten spannen sich. aids? no problem!, dieser Zusicherung auf einigen T-Shirts trauen nicht alle Adonisse. (Wo ein Weg ist, ist nicht immer ein Wille, versichertest du. Vergiß nicht das Berufsethos, es leidet zuweilen, hatte ich dir geantwortet.) Dann die bunten Karten - trotz deiner These, daß KODAK Farbe sei, alles andere nur bunt - neben der immer lächelnden Marilyn Monroe, die natürlich in schwarz-weiß, und neben Andy Warhols Leninkopf.

Es ist Abend geworden. Wir ruhen uns aus. Die Sonne ist untergegangen. Der Wein, harzig und kalt, ist gut in dieser Taverne, der Fisch ausgezeichnet.

© Asteris Kutulas, 1984

 

 

 

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