Hans Marquardt, Verleger & Freund guten Käses

Reise nach Griechenland mit Hans und Barbara


13.10.1984, Athen
Mit Hans und Barbara auf der Akropolis, einer belagerten Hohen Burg; schon Trümmerhaufen oder erst im Evakuierungszustand? Man wartet vergeblich auf Momente, in denen sich “ehrfürchtiges Erschauern” einstellt. Anschließend mit den beiden Ritsos besucht. Hans sprach von der entblößenden Helligkeit des griechischen Lichts. “Das ist richtig”, erwiderte Ritsos, “und für die spezifischen – klimatischen und landschaftlichen – Bedingungen, unter denen in Griechenland Kunst entsteht, ist das sehr wichtig. Wir dürfen nicht vergessen, daß immer nur aus Antinomien heraus große Kunstwerke entstehen. Aus dieser lichtüberfluteten Mittelmeerlandschaft mit ihrer stechenden Helle erwuchs die psychologisch düstre Welt der Tragödie. Die Griechen haben eine impulsive, widersprüchliche Mentalität. Um diese zu kompensieren, wenigstens ein geistiges Gleichgewicht herzustellen, entwickelten sie in der Antike das vernunftgemäße Denken (orthos logos): Ein Offenlegen der Abgründe des menschlichen Geistes durch das überall eindringende und das alles durchdringende griechische Licht, ein oft gelungener Versuch, die Gegensätze auszugleichen, ein immer tieferes Erfassen der sich offenbarenden Antinomien. Auch die Liebe basiert auf diesem Prinzip, das Platon als erster beschrieb: Nicht von Anfang an existiert, sondern nach einer Reihe von Berührungen und geschlechtlichen Vereinigungen, am Ende einer Kette von Liebesbeziehungen, entsteht Diotima als Inkarnation der liebens-würdigen Frau. Bei Shakespeare finden wir dasselbe: Julia ist nicht die erste Liebesbeziehung von Romeo, sondern steht am Schluß vieler Liebschaften.”
Und auf seine eigene Beziehung zu Licht und Dunkelheit befragt: “Ich selbst bin so: brauche Licht, viel Licht überall, und auch beim Lieben. Ich bin ein Mensch des Sehens, nicht so sehr des Hörens. Darum liebe ich offene Fenster. Dunkelheit oder Halbdunkel mag ich nicht. Mein Gehör ist eigentlich nur für eins wirklich geschult: für Musik ...”
Zum Abschied gab uns Ritsos den Rat, unbedingt Delfi zu besuchen. Dann verstünden wir seine Worte besser.


15.10.1984, Athen
Heute mit Hans und Barbara von Delfi nach Athen zurückgekehrt. Ich erzählte Ritsos am Telefon, daß wir dort spontan beschlossen hätten, ein Buch über den antiken Ort Delfi zu machen. Ritsos' Antwort: “Wenn ihr nach Mykene fahrt, beschließt ihr, über Mykene ein Buch zu schreiben, und das gleiche wird euch auf Kreta und an jedem Ort in Griechenland widerfahren.”


17.10.1984, Nafplion
Wir wohnen im Grande Bretagne, einem alten, schäbigen Hotel am Meer. Gegenüber der Kai. Es ist windig. Wir sind durch Argolis gefahren, karge Landschaft, nur vereinzelt Vegetation, Olivenbäume, Pinien, Sträucher. Schafherden, die hinter den zahlreichen Hügeln verschwinden. Wenig Wasser hier. Ich muss an die Filme von Cacojannis denken. Elektra zum Beispiel. Schwarzbetuchte Frauen auf staubigen Feldern, kaum vorstellbar, dass sie fruchtbar sind. Die Felder nicht und nicht die Frauen mit Gesichtern wie in Holz geschnitzt. Das Murmeln des Chores, apokryphe Formeln, die verlöschen, als murmelte die Erde selbst. „Viel Unheil hat für Griechenland und für dein Haus/ die Schwester deiner Mutter, Helena, gestiftet!“, und ein wenig später finde ich beim Durchblättern des Buchs, als wäre er nicht von dieser Welt, den Satz: “Im Hafen von Nauplia hörte ich einen, der von Troja gekommen.”

Der von Troja gekommen. Was dieser Satz damals bedeutete. Aber ich halte nichts von Einfühlung, auch nichts von einfühlender Abstraktion. (Du sprachst immer von unserer melancholischen Erziehung.) Den ganzen Tag gehe ich durch die kleine Stadt. Schau den Händlern zu. Wie sie ihre Waren den ausländischen Touristen feilbieten. „Du nehmen ...“, „Greek fashion ...“, „Ela, Ela, Ela“. Ich sitze in einem Cafe; gegenüber ein winziger Laden, wo Hosen verkauft werden. Der Besitzer, ein Mann um die fünfzig, Halbglatze, blaues Hemd, graugrüne Hose, starrt in die Gegend, zwischen den Fingern den Rosenkranz. Er lehnt an der Tür seiner „Boutique“, wie es verheißungsvoll an den Scheiben klebt. Ich bleibe lange sitzen, döse vor mich hin. Der Mann sieht zu mir herüber, lächelt. Ich beobachte ihn, kein einziger Kunde, am ganzen Tag vielleicht einen Käufer, höchstens zwei. Ich komme zum emphatischen Schluss: Die Energie eines Mannes verpufft in zwei verkauften Hosen. Schöne Vorstellung vom Sinn des Lebens. Ich laufe durch die engen Gassen, lege mich an den Strand, lese zum wiederholten Mal in Büchern aus meinem Reisegepäck. Ich bleibe draußen, zumeist. Das Seh-Raster, das neue, verheddert sich im ideologischen Gestrüpp meines Denkens. Unwichtig, denke ich, und gehe schwimmen. Sich treiben lassen im Meer. Alternativlos in sich ruhn. Was haben sie mir noch zu sagen, die Alten, überlege ich. Die Wellen greifen in mein Haar.


18.10.1984, Mykene
Auf dem Burgberg wenige Touristen. In der Ferne das Meer bis zum Horizont. Vor uns die argivische Ebene. Über der einsamen Akropolis der Atriden erhebt sich, ewiger Zeuge des zerbröckelnden Gesteins, der Berg des Propheten Ilias. Christlicher Schatten auf heidnischer Kultur. Und zwei graue Esel am Fuße der mykenischen Burg. Terrassenförmig angelegte Felder. Rotes Ackerland auf den abfallenden Hängen ringsum.
Verdorrte Natur. Gegend für Schwarzweißfilm. Ins Negativ sich ätzende Ausdünstungen der entkräfteten Erde. Und ich laufe durch die mykenischen Wehranlagen, auf Wegen, von Gottesfingern in die Erde gekrallt. Spuren von Todeskrämpfen. Über mir der zugedeckte Himmel von Berlin. Auch hier dachte man an ein tausendjähriges Reich, erinnerte ich mich. Kaum Zufall, dass Hans mir zuraunt: Hier, in Mykene, muss ich ständig an Himmler denken. Seltsam, nicht? In Delfi war es anders, man spürte mehr Harmonie. Hier aber ... - Das macht die Landschaft, antworte ich, und diese Riesenquader, aus denen das Schloss gebaut wurde, dieses Tor mit den Löwen, insgesamt sechs Meter hoch, und natürlich der vor unserem inneren Auge ablaufende Film. Ich ging zu den Gräbern. Hier lagen sie bestattet in 16 Fuß Tiefe, bis Schliemann sie fand, die mykenischen Könige und Königinnen. Eine mächtige Dynastie, uns erhalten im Grenzgebiet zwischen zerstörter Wirklichkeit und Dichtung ... und Traum, hättest du gesagt...
Der Machtanspruch Agamemnons/ Die Machtansprüche der anderen achaischen Könige/ Einer Bettgeschichte wegen 1.146 Boote mit 50.000 Mann an Bord/ Troja/ Wirtschaftskrieg/Zufahrt zum Schwarzen Meer/ Zermürbung/ Blockaden/ Seekrieg/ Die Rohstoffarmut Mykenes/ Strategische Positionen/ Manöver/ Verhandlungen/ Erdbeben/ Und alles und jedes ein neuer Anfang eines neuen Endes/ Innere Zwistigkeiten/ Räuberische Überfälle/ Endlose Wanderbewegungen/ Der Untergang Mykenes.

Zeus, vordem ein launischer Wettergott, avancierte zum Chef auf dem Olymp und zeigte den Menschen, was gehaun und gestochen war/ Die Opferung Iphigeniens durch den eigenen Vater/ Die Ermordung des Vaters durch die eigene Frau/ Die Ermordung der Frau durch den eigenen Sohn/ Endloses Morden in einer Filmkomödie/ Jedes Zeitalter hat sein Troja - und, was viel schlimmer, sein Mykene...
Das "Schlachthaus" löst in mir
Das "Schlachthaus" löst in mir
Das "Schlachthaus" löst in mir/Erschauern nicht aus./Woher wir kommen, dachte ich.


19.10.1984, Nafplion
Heute wieder in Nafplion. Wir stiegen hinauf zur Palamidi-Festung, gerühmt schon von Homer, 999 Treppenstufen. Zu Schutzwällen aus dem Felsen getriebener Stein, sich mächtig über die argolische Bucht erhebendes Monstrum, grau in den Himmel ragend.
Nafplion – in der Neuzeit erst byzantinisch, dann venezianisch und türkisch. Seit 1828 erste griechische Hauptstadt. Das alles im Reiseführer. Nicht im Reiseführer das sogenannte Grab, das dunkle Loch, die Zelle von Kolokotronis. Ein vergilbtes Schild auf dem Innenhof des Schlosses mit dem auf Griechisch geschriebenen Wort „Kolokotronis“. Für Touristen unverständlich, vergebliches Nachschlagen. Für die Griechen eine Symbolfigur, General der Befreiungskriege 1821 bis 1829 gegen die Türken, von der Partei der Großgrundbesitzer und später dem Königshof ausgeschaltet, eingelocht wegen demokratischer Gesinnung. Der Beginn des Bürgerkriegs: die verdrängte Geschichte des modernen Griechen und die alte Tradition des Verdrängens, angefangen bei Homer.
Ideologische Waschungen. Zu nah, wahrscheinlich, fünf Jahrhunderte nur, war Homer dem Geschehen in Argolis, da ausgeplündert wurde die üppige Kultur des minoischen Matriarchats durch die neuen Kalkulierer, die mykenischen Könige. (Fünf Jahrhunderte nur. Da sollten wir froh sein, wandest du ein, betontest das wir.) Die Macht ging von Kreta auf Mykene über, und goldne Masken bedeckten von da an die Gesichter der toten mykenischen Könige. Goldne Totenmasken. Bei Homer also nichts darüber: Artemis, die große weibliche Naturgottheit, Iphigenie, die Geburts- und Fruchtbarkeitsgöttin, Helena, die verderbenbringende Todesgöttin. Alles in Vergessenheit geraten, wie der Mantel im bekannten Gedicht von Ritsos? Im Bewußtsein der Alten im klassischen Griechenland hatte die unbewußte Umwertung stattgefunden. (Ich höre dich schon lachen, alles Asche aus deinem Gehirn, hälst du mir vor.) Nur die Widersprüche ungetilgt. Das mütterliche, frauliche Element, beispielsweise der Artemis, wich zurück unter dem Einfluß der Apolloreligion. Verschwand fast völlig mit den Jahrhunderten. Neben den jugendlichen Apollo trat die jungfräuliche Artemis, die die Ehe haßt (ja,ja, der Zynismus der Ideologie, fuhrst du mir zwischen die Gedanken, das Gegenteil von dem behaupten, was einem nicht nützt, bis es verwandelt ist und in den eignen Kram paßt), "Opferschlächterin" heißt Artemis bei Homer, doch der Ursprung dieser Deutung ist unbekannt, denn Artemis wurde als Beschützerin der Jugend und der Frauen, ja, als Entbindungsgöttin verehrt. Bezeichnend auch, daß Artemis bei Homer als Schwester des Apollo erscheint und daß doch die Seite ihres Wesens, welche im Epos am deutlichsten hervortritt, die der Todesgöttin der alten Naturreligion ist.
Von hier oben sieht man weit hinaus aufs Meer, der Blick - an sich - ist kein andrer geworden. (Ich weiß, das stimmt nicht.) Nur die Wünsche haben sich geändert. Ich hoffe nicht auf die Rückkehr aus Troja. Und nach Ithaka möchte ich nicht reisen. O, antike Trostlosigkeit. Meine Generation depressiv; auch wir betrogen, auf andre Weise, sagst du immer wieder. Tröpfchenweise aus uns herausgepreßte Hoffnung. Die Bedeutung eines Wassertropfens für den Verdurstenden in der Wüste. Tropfen auf den heißen Stein. Tropfendes Etwas in einem Film nach Edgar Allan Poe. Das Epigramm von Simonides fällt mir ein. „Als dürftig erweist sich die Macht der Sterblichen,/ als fruchtlos ihre Sorgen: In kurzer Frist nur Mühsal auf Mühsal!/ Unentrinnbar, unterschiedslos bedroht sie der Tod“. Obwohl ich das nicht meine. Mühsal auf Mühsal, Tropfen um Tropfen.

Das dunkle Verließ von Kolokotronis, ein exotisches, fast antikes Grab, gleich dem von Klytämnestra in Mykene: man geht hinein und wird vom Rätsel umfangen. So wie wir bei Homer zwischen den Zeilen lesen, uns suchen. Süchtiges Dasein im 20.Jahrhundert. Wem kann ich erzählen, werde ich gefragt, daß mich die Ilias langweilt? Mir nicht, denn was spielt das schon für eine Rolle? Wie befangen wir sind. Kolokotronis im Gefängnis verwest. Der holländische Tourist beugt sich neben mir über die Mauer und fotografiert das Meer, das blaue, mit bunten Booten. Hier oben ich - sitze, schreibe und hoffe noch.


20.10.1984, Nafplion
Letzter Tag in Nafplion. Abendstimmung in Mauve und Goldorange. Haben heute mit Hans Marquardt ein Auto gemietet und sind über Land gefahren. Dann durch die Stadt. Noch einmal die kleinen Häuser im neoklassizistischen Stil. Später zur Kanathos-Quelle, wo, nach Pausanias, die Zeus-Gattin Hera jedes Jahr einmal badete, um ihre Jungfräulichkeit wiederzugewinnen. Heute steht um die Quelle ein Nonnenkloster. Hans spricht immer noch von Mykene: „Das ist ein richtig finstrer Ort. Selbst am helllichten Tag. Kyklopische Mauern. Wie sich das schon anhört. Die nackte Gewalt steckt tief in den Grundfesten dieser Architektur."

Einige Tage zuvor in Delfi meine Zwiesprache mit Hans:

Diese Dinge sprechen versuchte ich
ihm beizukommen nur in ihrer... ach was
zu uns jenseits von Traum und zumeist
wenn wir sie am wenigsten erwarten Ich
entsinne mich vor einem Jahr spät
am Nachmittag schon rötlich gefärbt
die Herbstsonne fiel auf östlichen
Phädriadenfelsen warmes mildes Licht
Schatten überall oder wolkenbehangener
Himmel leiser Regen zu Ostern Gott
spurlose Orakelstätte Sie Romantiker
unterbrach er vor dem Apollo-Tempel
die Massen andrängender Touristen Sehen
Sie das verstehe ich: Delfi Zentrum
der Welt Symbol des Gleichgewichts
zwischen chthonischen Kräften der Unterwelt
und den neuen Göttern des Olymp fürs Stemmen
gegen Matriarchalisches Erdkulte
abgewrackter Irrsinn Erleuchtet Hier
die harmonische Mitte ausgleichender
Mittelpunkt Pythia auf ihrem Dreifuß
hockend inspiriert von Unterirdischen
Gebeugt über den dämpfeausspuckenden
Erdspalt stammelt Berauschendes Rausch
Lausch Plausch innerlich ich kicherte
Umständliche Worte Aber der Fortschritt
passen Sie auf Sieben männliche Priester
schreiben nun ihren Worten den Sinn (In
meinem ausgewachsenen Kopf rumorte es
zerfließen Grenzen Unbekannte Kälte
Abstand Ironisierende Schmerzen
du hättest dich gefreut – ausmerzen
mich ausgelacht) Neue Tempel sagte ich
wurden auf alten gebaut und das immer
wieder Ihre Theorie des Gleichgewichts
nichts... Sie nach Nietzsche müßten's
wissen...


21.10.1984, Athen
Gestern bei Odysseas Elytis gewesen. Hans war aufgeregt wie noch nie. Er ähnelte in einigen Augenblicken einem Schüler, das machte ihn mir sympathisch. Dann wieder der bekannte Weltmann mit versierten Manieren. Elytis empfing uns sehr herzlich und sprach mit uns ruhig und ausgelassen. Wir hatten zuvor etwa 5 Minuten betreten vor seiner Tür gestanden, weil es noch nicht um 20.00 Uhr war. Wie zwei kleine Kinder, die sich nicht trauen, ans Lehrerzimmer anzuklopfen und einzutreten. Dann war alles sehr schön. Elytis erzählte: "Man sagt über mich, ich sei sehr schwierig im Umgang. Sehen Sie, das stimmt nicht, ich bin nur sehr vorsichtig. Merke ich, daß ich es mit Menschen zu tun habe, die ihre Arbeit ordentlich machen, dann kann man mit mir alles tun." Und diese Erlaubnis gab er uns de facto. Besprachen mit ihm einen Lyrik-Querschnitt im Taschenbuch und eine bibliophile Ausgabe seiner Collagen.
Seine Wohnung einfach, überhaupt nicht luxuriös. Ein Videogerät auf einem Tisch. Was mich beeindruckte: dieses in-sich-Ruhende seines Wesens. Glaube, er versuchte, unsere Reserviertheit abzubauen. Seine Bescheidenheit verblüffte mich. Überhaupt hatte ich etwas anderes erwartet. Waren sehr zufrieden. Ein wunderschöner Besuch. Elytis meinte, daß er nicht geahnt habe, wie interessant unsere Begegnung sein würde und er sich sonst bessser darauf vorbereitet hätte.
Gestern früh waren wir beim Verlagschef von "Ikaros", Herrn Karidis, und er vermittelte uns diese Begegnung. Ohne ihn hätten wir wahrscheinlich Elytis niemals getroffen. Aber er fand uns so sympathisch, daß wir an die zwei Stunden im Verlag waren und dann auch zu ihm hochstiegen. Er berichtete, daß er Leute aus der ganzen Welt abweist, die über ihn versuchen, an Elytis heranzukommen. „1970 bekam ich einen Anruf vom damaligen Kulturminister. Er wollte mich treffen. Dazu hatte ich überhaupt keine Lust, weil ich von der Junta-Reierung nichts wissen wollte. Doch ich konnte mich nicht weigern und außerdem hatte ich Angst. Er kam also am nächsten Tag und sagte Mir: "Herr Karidis, sie sind der einzige, der Elytis davon überzeugen kann den Griechischen Literaturpreis für dieses Jahr entgegen zu nehmen. Sie müssen mir unbedingt helfen, denn ich habe das schon dem Regierungschef, Herrn Papadopoulos, gesagt und er hat zugestimmt." Daraufhin erwiderte ich ihm sofort, daß es ein großer Fehler war, sich vor einer Absprache zu binden, besonders in diesem Fall, denn Elytis habe prinzipielle Einwände gegen Preise. "Das ist kein politischen Problem", sagte ich ihm, "sondern ein rein prinzipielles. Ich werde es ihm sagen, aber ich möchte sie vor Optimismus warnen, damit sie nicht enttäuscht werden." Als ich am nächsten Tag Elytis zu 1 Million Drachmen – damals sehr viel Geld – gratulieren wollte, wurde ihm ganz übel und nach einigen Tagen verließ er Griechenland und ging nach Frankreich. Er blieb dort drei Jahre, nur um diesen Preis nicht zu bekommen ...“
Elytis hat uns für die bibliophile Ausgabe einen unveröffentlichten Essay über die Collagen-Technik gegeben. Dann erzählte er über das Sappho-Buch, das im November herauskommen soll. Als wir mit ihm, über seine Lizenzen sprechen wollten, winkte er ab und sagte, daß ihm, nachdem er unserer Arbeit als solid und ernst einschätzen könne, die finanzielle Seite nur sekundär interessiere.
Er sagte aber auch etwas sehr bezeichnendes: "Es ist ein reiner Zufall, aber Sie kommen zu einem Zeitpunkt zu mir, da mich zwei Dinge sehr interessieren: einerseits die große Verbreitung meines lyrischen Werks unter vielen Menschen, mein Werk für das Volk also, andererseits genau diese Verschmelzung von Dichtung und bildender Kunst, beispielsweise in bibliophilen Ausgaben. Sie kommen nun zu mir und bieten mir genau das an. Ich kann ihnen sagen, daß ich jahrelang nach so einem Verlag mit solch einem Grundkonzept suchte und ihn nicht fand. Und jetzt kommen sie."


22.10.84, Matala
Knossos: die Sage des Theseus. Vergeblichkeit der Tat Ariadnes. Ankommen Eintreffen und Untergehen. Den Weg weisen (erretten?) und ver-unglück-en.
Evans’ Eingriff in Knossos ist jeden Augenblick spürbar. Der Versuch der Objektivierung hat immer objektivierende Subjektivität zur Voraussetzung. Die Trümmer von Knossos, aber auch sonst die antiken Überbleibsel überall in Griechenland rufen keine besonderen Gefühle in meinem Innern hervor. Stets sind es meine eigene Seele und Gefühlswelt, die meiner Sensibilität jene Schwingung entlocken, die man oft kurzschlüssig auf äußere Erregerquellen zurückführt. Immer sind wir es selbst, die fühlen können oder nicht, die getroffen sind oder kalt bleiben. Der Augenblick - und so vieles andere.


23.10.84, Chania
Das Grab von Kazantzakis auf dem Hügel über der Stadt. Eingemeißelt:

Ich hoffe nichts.
Ich fürchte nichts.
Ich bin frei.

Griechische Taxifahrer erklären auf Englisch, was es mit dem Grab und mit Kazantzakis auf sich hat. Dann fotografieren sie die Touristinnen, die sich mit einer Blume im Haar neben das einfache Grab stellen. Das Grab in seiner verblüffenden Bescheidenheit und Erhabenheit scheint die Frauen zu ignorieren. Der Blick über die Dächer der Stadt hinaus aufs Meer bestätigt das: Wir sind fern vom toten Dichter.
Gestern übernachteten wir noch einmal in Heraklion. Für uns das Schönste an dieser Stadt: der große Platz, von Bäumen überdacht, mit den alten venezianischen Brunnen, mit den vielen Cafés und mit der schönen Atmosphäre - die vielen Menschen, noch spät in der Nacht.


24.10.84, Chania
Das Museum von Heraklion: eindrucksvolle Geschichte eines sich zivilisierenden barbarischen Volkes. Chania: Pension Theresa. Barbara ging aufs Damen-WC, als ein junges Mädchen gerade eine Spülung machte.
Pension Meltemi: Unterschlupf für Haschischraucher. Gestern Nacht begegnete ich zufällig Janni. Wir stießen auf ein Mädchen im Rausch, das sich allein nicht mehr auf den Beinen halten konnte. „In den Diskotheken ziehen sie sich nach Mitternacht aus. In den Gassen entblößen betrunkene Touristinnen ständig ihre Brüste.“

Die Welt: ein Puzzlespiel.

Heute beim Baden. Hans sagte: „Sieht man die Steine im Wasser, glaubt man, es mit Jungfrauen zu tun zu haben, nimmt man sie heraus, hält man alte Huren in der Hand.“
Ich überlegte: Das Wasser bedeckt sie, und unter diesem Schutz zeigen sie ihre wahre Seele, strahlen. Wird ihnen der natürliche Schutz (Umwelt) entzogen, verbergen sie ihre Persönlichkeit im gleißenden Sonnenlicht durch unscheinbare, nicht auffällige Erscheinung, Blässe. Auf einmal sind sie alle gleich.

Jannis: aus Sities (Kreta). Kommunist, Schauspieler, zwei Kinder, seit zwei Jahren geschieden. 1949, im letzten Jahr des Bürgerkriegs, musste jeden Tag ein Spiel gespielt werden: Koukoudia (im kretischen Dialekt: Kopfwunde). Spiel wird zur Ideologie. Mit spitzen Steinen aufeinander schießen. Steine wie Rasiermesser. Lehrer war Schiedsrichter.

Phaistos: authentischer, weil ohne Deutung, als Knossos. Hof für Stierspiele. Hans: „Die bekanntesten Stierkämpfer Spaniens wurden gefragt, ob die minoische Überlieferung stimmen könnte, und sie halten das für ausgeschlossen.“

Heraklionmuseum: Eines der eindrucksvollsten Stücke: drei Menschen, die einen Stier bei den Hörnern packen. Die symbolische Gestaltung ist verblüffend, die Menschen so klein, ihre Körper umschlingen die Hörner. Hans hat viele Fragen...


26.10.1984, Athen
Die Zeichnungen, die uns Ritsos heute für unsere Ausgabe gab, entstanden zu verschiedenen Zeiten. Die meisten aber während eines Krankenhausaufenthaltes 1975. Wir schilderten ihm unsere letzten Eindrücke von Griechenland. Sprachen auch über die antiken Überbleibsel in der griechischen Landschaft. Hans schwärmte von Delfi, von Delfi im Abendlicht, dieser einzigartigen Symbiose von Bauwerk, Landschaft und Licht. Daraufhin Ritsos: “Ich bin ein absolut visueller Mensch. Man kann sicher viele archäologische, historische und soziologische Bücher lesen, aber entscheidend ist, eine kleine Säule in einer bestimmten – ihr zugehörigen – Landschaft zu sehen. Was natürlich die Sensibilität des Betrachters voraussetzt.”

© Asteris Kutulas

 

Ich hatte das Glück, mit Hans und Barbara befreundet gewesen zu sein – und eine wunderbare Reise durch Griechenland mit ihnen gemacht zu haben. Die verlegerische Frucht dieser Reise war unter anderem das von Hans Marquardt herausgegebene bibliophile Buch:

Jannis Ritsos. Das ungeheure Meisterwerk, Herausgegeben von Hans Marquardt, Übertragen, mit Nachwort, Anmerkungen und einem Interview von Asteris Kutulas; Reclam-Verlag, Leipzig 1988 und Büchergilde Gutenberg, Frankf./M. 1988

Hans, ich erinnere mich und trinke ein Ouzo auf dich… Barbara & Suse, passt auf euch auf, wo immer auf dieser Welt ihr auch sein mögt.

 

 

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