Peter, Dresden, Musik, Literatur

(Peter habe ich viel und elementares zu verdanken. Von ihm lernte ich, daß man Literatur auch als "Weltanschauung" leben kann. Peter weihte mich ein in die "Geheimnisse" des Übersetzens, und er lehrte mich jene Ausdauer und Disziplin, ohne die ein Über-Setzer unmöglich auskommt. Sein Haus auf dem Fliederberg in Dresden war für viele Jahre eine Art Refugium für mich. Peter öffnete mir aber auch die Tür zur jüdischen Musik und in gewisser Weise auch zur Klassik. Mit ihm und "wegen" ihm entstanden auch meine ersten Essays zu Theodorakis und Ritsos - einen davon aus dem Jahre 1983 veröffentliche ich weiter unten, genauso wie ein von Peter und mir gemeinsam übersetztes Interview von Mikis Theodorakis, das im Reclam-Band mit Theodorakis-Schriften 1984 erschien. A.K.)


JANNIS RITSOS UND MIKIS THEODORAKIS
Für Peter

Die 7. Sinfonie ist das fünfte und vorläufig letzte Ergebnis einer fruchtbaren Beziehung, die für Theodorakis 1940 begann. Damals las er erstmals Ritsos’ Poeme „Frühlingssinfonie“ und „Marsch des Ozeans“. Daß Theodorakis mehr als 40 Jahre später diese Textgrundlage für seine siebente Sinfonie benutzte, zeugt von der Tiefe und vielleicht a priori von der Notwendigkeit jener Beziehung: „Ich entdeckte Ritsos’ Poesie in meiner Jugend, wie viele meiner Generation sie damals entdeckten. Er gehörte mit seinen Werken zu meinen Lehrern, zu den wenigen Vorbildern. Und ich bin sehr glücklich, daß ich nach so vielen Jahren in meiner 7. Sinfonie Ritsos’ Texte aus jener Zeit verwenden konnte, die meine Jugend prägten. Die Entfernungen zwischen uns und die parallel verlaufende Entwicklung waren für uns kein Hindernis, um nicht trotzdem aufgrund einer gemeinsamen Sensibilität verbunden sein zu können, und immer, wenn wir einander begegneten, hatte ich den Eindruck, daß unsere übereinstimmenden Gedanken, die sich im "Epitaph", in "Griechentum", den "Kleinen Liedern", den "Vierteln der Welt" und schließlich in der 7. Sinfonie finden, letztendlich einem einzigen Menschen gehören, der sich mit zwei Sprachen ausdrückt, in der der Musik und in der der Poesie.“

Jannis Ritsos verbrachte seine Kindheit in einem „ärmlichen Hause, wo alle gestorben sind“, wie er später in der „Frühlingssinfonie“ schrieb. Das war dem am 1. Mai 1909 geborenen Dichter nicht in die Wiege gelegt. Viel Ackerland und zahlreiche Weingärten auf seiner Geburtsinsel Monemvasia im Nordwesten der Pelopones und auf dem umliegenden Festland gehörten seinem Vater, der einer reichen Adelsfamilie entstammte. Dennoch brachten die Auswirkungen der Agrarreform und des ersten Weltkrieges sowie die Spielsucht des Vaters den finanziellen Ruin der Familie. Dem Jungen, er schon mit acht Jahren, angeregt durch seine humanistisch gebildete Mutter, Gedichte schrieb, Klavier spielte und malte, berührte das damals kaum. Umso mehr musste ihn der Tod der Mutter 1921 treffen, nur drei Monte nach dem Tod des Bruders. Im Sommer des gleichen Jahres wurden er und seine Schwester Lula in das Gymnasium von Jithion aufgenommen, das sie 1925 beendeten, um anschließend in Athen nach Arbeit zu suchen. Ritsos arbeitete in den nächsten Jahren als Sekretär, Kalligraph, Regisseur und Schauspieler in verschiedenen Büros und Theatern. Dann befiel ihn die Tuberkulose, die ihn zwang, bis 1939 insgesamt sieben Jahre in Sanatorien zu verbringen. 1933 trat er der linken Kulturvereinigung „Protopori“ (Avantgardisten) bei. Seine soziale Zugehörigkeit und sein Streben nach Totalität, nach umfassender Weltsicht bekundete er bereits in den gereimten Gedichten der ersten beiden Bände „Traktor“ (1934) und „Pyramiden“ (1935), in den Gedichten „An Marx“ und „An Christus“ ebenso wie in der „Ode an die Freude“ oder in „Deutschland“, ein Gedicht, das bereits 1933 als Reaktion auf die Bücherverbrennung entstand.
Das gleiche Schicksal erlitt auch Ritsos’ 3. Buch „Epiatfios“ (Epitaph), das der am 4. August 1936 an die Macht gekommene General Metaxas zusammen mit vielen anderen Büchern öffentlich verbrennen ließ. Diese „Trauerklage einer Mutter über ihren ermordeten Sohn“ hatte Ritsos erst im Mai desselben Jahres, inspiriert durch den Tabakarbeiterstreik in Thessaloniki, geschrieben und Bezüge von der Beweinung Christi bis hin zum revolutionären Protest von Gorkis „Mutter“ hergestellt. Im Dezember 1936 erlitt seine Schwester Lula eine psychische Krise und mußte in die Nervenheilanstalt von Daphni eingewiesen werden (wo schon der Vater lag, der dort 1938 starb). Ritsos’ tiefe seelische Zerrüttung fand ihren Ausdruck im „Lied meiner Schwester“ (1937). Ebenso wie in der „Frühlingssinfonie“ (1938) und im „Marsch des Ozeans“ (1940) löste er sich darin vom traditionellen Versemaß und Reim, um allein der inneren Musikalität und Rhythmik der Sprache zu folgen.
Während der faschistischen Okkupation wohnte Ritsos bei Freunden in Athen und wurde zum Chronisten des Widerstandswillens des griechischen Volkes. Diesen, gepaart mit einer substantiellen Verbundenheit zur Heimat, verarbeitete er in „Romiosini“ (Griechentum) und „Herrin der Weingärten“ (beide 1945-1947).
Die auf Churchills persönlichen Befehl exportierte Konterrevolution, die 1947 durch Trumans „vitales Interesse an Griechenland“ Unterstützung bekam, brachte das griechische Volk um die Früchte seines Sieges über die faschistische Okkupation. Ritsos wurde 1948 mit Tausenden anderen festgenommen und auf die Verbannungsinseln Limnos, Makronisos und Agions Efstratios doportiert. Nach seiner Freilassung, die erst 1952 – nach anhaltenden internationalen Protesten, unter anderem von Aragon, Picasso und Neruda – erfolgte, wurde er sofort Mitglied der neu gegründeten linken Einheitsfrontbewegung EDA (für die er bei den Parlamentswahlen 1964 kandidierte). 1956 veröffentlichte er das Monologgedicht „Die Mondscheinsonate“, das ihm die erste öffentliche Anerkennung, den Staatspreis für Lyrik, einbrachte. Im gleichen Jahr erlebte das Poem „Epitafios“ – nach 20 Jahren – seine zweite Auflage. Ritsos besorgte zwei Jahre später eine Auswahl und schickte sie nach Paris an Mikis Theodorakis, der um neugriechische Lyrik aus seiner Heimat gebeten hatte und sie innerhalb weniger Stunden vertonte. Er sandte die Lieder seinem Komponistenfreund Manos Chatsidhakis nch Athen. Dieser wählte Nana Mouskouri als Interpretin und stellte auf Bitte von Theodorakis eigene Arrangements her. 1960 wurde die Schallplatte produziert, aber Theodorakis war unzufrieden, nahm sich den Volkssänger Bithikotsis und den Buzukispieler Manolis Chiotis und stellte ein eigene Version der Epitafios-Lieder vor.
An dieser zweiten Schallplatte entzündete sich ein „kleiner Bürgerkrieg“ (Ritsos) in Griechenland, der unterschiedliche ästhetische Haltungen, in Wirklichkeit aber die sozialen Gegensätze widerspiegelte. Die Lieder in der „plebejischen“ Variante von Theodorakis gelangten in die Tavernen, die „hohe Dichtung“ von Ritsos wurde von den einfachen Menschen gesungen, ja „gefressen“, wie der Dichter später bemerkte ... Aber auch für Theodorakis selbst bedeutete dieser Liederzyklus, mit dem er aus Paris nach Athen zurückkehrte, eine entscheidende Wende in seinem Leben. Mikis Theodorakis, 1925 auf der Insel Chios geboren, beschäftigte sich schon sehr früh mit Musik und schrieb mit 14 Jahren erste Liedkompositionen. In der arkadischen Stadt Tripolis, wohin seine Familie 1939 umzog, entdeckter er mit seinen Freunden, zu denen auch Iorghos Kulukis gehörte, die Gedichte von Ritsos. Hier komponierte er auch das „Lied vom Kapitän Zacharias“, das zu einem Widerstandslied gegen die deutschen Faschisten wurde. Theodorakis nahm in den Reihen der Jugendorganisation EPON am antifaschistischen Widerstandskampf teil, zuerst gegen die Briten, die Amerikaner und ihre griechischen Verbündeten. Gleichzeitig erhielt er Unterricht am Athener Konservatorium. Wie Ritsos und auch Kulukis wurde er in das Vernichtungslager Makronisos deportiert. 1950 entlassen, begann er als Musikkritiker zu arbeiten, bis ihm ein Stipendium 1954 ein Zusatzstudium in Paris ermöglichte (Bigot, Messiaen).
1958 entstanden drei Ballettmusiken (Antigone, Les amants de Teruel, Le feu aus poudres) für Paris und London, die seinen internationalen Ruf begründeten. Nach seiner Rückkehr 1960 nach Griechenland widmete er sich dem Volksliedschaffen und dem politischen Tageskampf, gründete 1962 das Kleine Athener Orchester und übernahm 1963 die Präsidentschaft der Demokratischen Lambrakis-Jugend. Nach dem Putsch der Geheimdienstoffiziere vom 21. April 1967 wurde sogar die private Beschäftigung mit Theodorakis’ Musik unter Strafe gestellt. Der Komponist ging in den Untergrund, wurde aber wie Ritsos inhaftiert und verbannt. Beide Künstler wurden 1970 nach großem internationalem Druck entlassen: Theodorakis reiste nach Frankreich aus, Ritsos durfte sie „frei“ in Griechenland bewegen. Nach dem Machtwechsel 1974 setzten beide ihre künstlerische und politische Tätigkeit in Griechenland fort.

Die Rückkehr Theodorakis’ zu sinfonischen Ausdrucksmitteln seit Beginn der 80er Jahre (2. und 3. Sinfonie 1982, Sadduzäer-Passion 1983) ermöglichte ihm, auch musikalisch jedes romantische Lebensgefühl der „Frühlingssinfonie“ und „Marsch des Ozeans“ zu veräußerlichen, verbunden mit der permanenten Komponente des Widerstands in der „Hinrichtung der Athina“ und jener der tiefen Verehrung Griechenlands, dargestellt durch die „Herrin der Weingärten“. Tatsächlich symbolisiert die „Herrin“ bei Ritsos Griechenland, mit seinen Inseln, dem weiten Ägäischen Meer, den Olivenhainen, mit den Spuren mythologische Daseins, aber auch mit seiner oft geschändeten und geheiligten Erde, mit den Vorfahren, die sie bebauten und beschützten. 1947, als Ritsos die Arbeit an diesem Gedicht beendete, erlebte der 1924 in Nafplion geborene Iorghos Kulukis jene Situation im Gefängnis von Tripolis, die er in seinem Gedicht „Die Hinrichtung der Athina“ festhielt: die Begegnung mit der Lehrerin Athina Beneku. In der „Frühlingssinfonie“ tritt der Mensch als ein „Kind“ auf, das die Welt bestaunt, naiv nach dem Universum greift und die Liebe zum göttlichen Prinzip erhebt. Die teilweise euphorische (nicht optimistische) Stimmung der „Frühlingssinfonie“ entspricht dem Versuch des Ausbrechens aus dem geistigen Klima im Tbc-Sanatorium von Parnitha, in dem das Werk vollendet wurde. Im Gedicht wird sogar das Wissen um alles bisher Erlittene unterdrückt:

Wir existieren.
Die Vergangenheit unwirklich.
Die Zukunft nicht berechenbar.

Die tiefe Sehnsucht nach Humanisierung der Welt spricht sich auch im „Marsch des Ozeans“ aus. Das Sein in der Natur, die Weite des Meeres, der Atem der Freiheit werden ausgelebt. In diesem psychischen Raum wird jede Zerbrechlichkeit aufgehoben, und das Individuum vermag sich seiner Herkunft und Identität zu versichern. Diese Atmosphäre entspricht vollkommen der Forderung nach einer „neuen Romantik“ von Theodorakis und weist auf die Basis seiner gemeinsamen Sensibilität mit Ritsos: „Ich glaube, es sind bei Ritsos und mir die gemeinsamen Erlebnisse, gemeinsamen Grundlagen, gleichen Wurzeln, eine ähnliche Sensibilität, was sich mit zwei Worten benennen läßt: Menschenliebe und Griechenlandverehrung. Wir sind beide Menschenverehrer, sehen im Mittelpunkt unseres Lebens den Menschen, und andererseits sehen wir Griechenland als die natürliche Umwelt unserer Entwicklung. Der Griechenlandbegriff ist der aus der Zeit der Renaissance, er ist allerdings immer im Zusammenhang mit der Geografie des Landes zu verstehen, mit der Inselsituation, der Sonne, der Farbe Blau, mit den Traditionen, die von der Antike bis in die Gegenwart lebendig geblieben sind. „Griechenland“ ist in gewisser Weise über die Jahrtausende zu einem Synonym für Humanismus geworden. So verschmelzen diese beiden Begriffe miteinander: der des Humanismus und der der Griechenlandanbetung. Genau aus diesem Grund kreuzten sich Ritsos’ und meine parallel verlaufenden Wege.“ (M.Theodorakis)

© Asteris Kutulas

 

INTERVIEW ZUR DEMOTISCHEN UND SINFONISCHEN MUSIK
von Halka Vogt & Asteris Kutulas mit Mikis Theodorakis

Halka Vogt: Meine erste Frage bezieht sich auf die Einflüsse demotischer und byzantinischer Traditionen in Ihrem Werk. In der Frühlingssinfonie verwenden Sie an einer Stelle im I.Satz das Lied In diesem Sommer aus Ihrem klassischen Liedzyklus Der Kreis. Ist dieser Liedzyklus ein Schlüsselwerk der Verbindung demotisch-byzantinischer Tradition mit westeuropäischen musikalischen Techniken, vor allem in der Klavierbegleitung?

Mikis Theodorakis: Das ist richtig. Denn bis zu dem Zeitpunkt, da ich 1954 nach Paris ging, hatte ich die griechische demotische Musik nicht analysieren können. Aber ich erlebte sie ständig, sie lebte in mir. Zum erstenmal studierte ich das Material der demotischen Musik, als ich in Paris war. Ich studierte die wichtigsten Anthologien mit demotischen Liedern und analysierte die Tropen der demotischen Musik, also die Tonleitern. Ich versuchte, dieses Material nach einem eigenen Prinzip zu ordnen, das heißt neue Harmonien zu finden, die den Ansprüchen der Forschung und des modernen Hörers genügten.
Die erste Frucht dieser Auseinandersetzung war Der Kreis. Dabei handelte es sich um verschiedene Varianten der Harmonisierung dieses Materials. Auch die Erste Suite, die später ein Teil der Zweiten Sinfonie wurde, beruht auf den Tropen der demotischen Musik. Im zweiten, langsamen Teil der Ersten Suite verwende ich zum erstenmal die Reihe Schönbergs und versuche auf individuelle Art und Weise Reihen zu entwickeln und sie zugleich mit einem demotischen Thema zu verschmelzen. Das kam also zusammen. Die harmonischen Entwicklungen, die als Ergebnis meiner Analyse der demotischen Musik entstanden waren, führten mich zu Akkorden und Dissonanzen, die der seriellen Harmonik sehr verwandt sind. Die Erste Suite ist der Zweiten Sinfonie einverleibt worden. Die Zweite Suite dagegen, um zu einem anderen Beispiel zu kommen, existiert nicht mehr in ihrer ursprünglichen Gestalt. Viele ihrer Motive und andere Elemente benutzte ich zum Beispiel in der Siebenten Sinfonie. Im Finale dieser Zweiten Suite gab es wiederum die Verschmelzung eines demotischen Motivs - wenn der Chor den Varnalis-Text singt: "Du gehst wieder fort, mein Sohn, im Frühling" - mit dodekaphonischen Elementen.
Diese Experimente machte ich in Paris, wo ich zum erstenmal in meinem Leben die Möglichkeit hatte, Musik unter wissenschaftlichen Aspekten zu untersuchen. Dort hatte ich Ruhe. Die Zeit zwischen 1954 und 1960 war eine Zeit der intensiven Forschung und Analyse.
Die byzantinische Musik analysierte ich später, als ich in Zatuna war. Das geschah mit Hilfe des Dorfpfarrers, der mich auch das Notenlesen byzantinischer Musik lehrte, denn sie besitzt eine spezifische Notation. Die byzantinischen Elemente wertete ich allerdings nicht wissenschaftlich für meine Musik aus, sondern ließ sie einfach emotional einfließen. In Oropos versuchte ich dann, die wissenschaftliche Auswertung der laizistischen Musik vorzunehmen, also dasselbe zu tun, was ich mit der demotischen Musik in Paris getan hatte. Ich wollte ein im Wesen harmonisches System finden, das ausgereifter als das der Volkskomponisten sein sollte. Doch erst vor wenigen Monaten habe ich diese Arbeit durchführen können; da analysierte ich die sogenannten "Straßen". Im antiken Griechenland gab es Tropen, sie werden in byzantinischer Zeit übernommen und Echoi genannt, und in der laizistischen Musik erscheinen sie als "Straßen". Diese tragen türkische Namen, zum Beispiel Sabah, Kiurdi, Niaved. Hier kann man gut die Beobachtung machen, wie die Türken und Araber die byzantinische Musik aufnahmen, verinnerlichten, ihr türkische Bezeichnungen gaben, bis wir griechische Komponisten die byzantinische Tradition über die türkischen "Straßen" erneut rezipierten. Die "Straßen" der laizistischen Musik - zwischen ihr und der Rebetiko-Musik besteht ein großer Unterschied - haben ihren Ursprung in der byzantinischen Musik und besitzen einen vollkommen eigenständigen harmonischen Kosmos.

Asteris Kutulas: Und in welcher Beziehung zur byzantinischen steht die demotische Musik?

Theodorakis: Die antike, byzantinsche, demotische und laizistische Musik beruhen auf den gleichen Tonarten. So entspricht die erste dorische Leiter dem ersten plagalen Echo usw. Wir haben es mit einer viermaligen Metamorphose zu tun. Dabei spielte die Türkei eine Mittlerrolle Die byzantinischen Echoi existierten als Tropen in der westlichen Musik - die Modi der modalen Musik. Die große Revolution in Europa, die durch Bach besiegelt wurde, war der Übergang vom modalen zum tonalen System. In Griechenland hingegen markiert erst das laizistische Lied diesen Übergang vom Modalen zum Tonalen. Vamvakaris und Tsitsanis stützten sich in ihren Liedern auf das modale wie auf das tonale System. Wir, die Griechen von heute, hatten in der Nachfolge von Vamvakaris ein tiefes Bedürfnis nach tonaler Musik. Darum ist auch mein Volksliedschaffen ausgesprochen tonal. In Zentraleuropa verlief diese Entwicklung ähnlich, wobei die Europäer immer noch fast ausschließlich tonale Musik hören. Das war über einen längeren Zeitraum notwendig, um die Phase der Atonalität zu erreichen. Das sind akustische Notwendigkeiten.
Meine Musik ist sehr stark von modalen Elementen beeinflußt worden, wobei ich das Modale ganz spontan der demotischen Musik entnahm, ohne das Modale der türkischen "Straßen" zu kennen. Das verwendete ich erst in meinen zuletzt komponierten Liedern, zum Beispiel im Zyklus Kariotakis, nachdem ich es vor etwa vier Monaten wissenschaftlich analysierte. Der Unterschied nämlich ist gewaltig. Die neuen harmonischen Horizonte, die durch die "Straßen " der laizistischen Musik eröffnet werden, sind sehr groß. Eine Ursache für die erneute Hinwendung zum Rebetiko in Griechenland liegt sicher auch im Zauber des Modalen begründet, den die "Straßen" in sich bergen.
Um zu Ihrer Frage zurückzukommen: Ich meine, daß jeder Komponist, der an der Peripherie angesiedelt ist, vor einer komplizierten Situation steht, da die Tradition Zentraleuropas, zum Beispiel der deutschen Musik, wie ein Alp wirkt, und die Ausnahmen, zumal die bedeutenden, die ihr widerstehen konnten, sind an den Fingern abzuzählen. Sogar ein Tschaikowski war ein deutscher Komponist. Verdi - nun ja, die Italiener waren Italiener. Jene Komponisten, die einen eigenständigen Weg beschreiten konnten, wie Mussorgski und Strawinsky, stützen sich stets auf das Kompositionssystem der westlichen Musik. Andere solche Systeme wären die indische oder chinesiche Musik. Es bleibt ein großes Problem, wie aus der Musik, die von der Peripherie kommt, sinfonische Musik entstehen kann. Gehen wir zum Beispiel heute davon aus, daß uns die Tradition dieser Musik hundert Einheiten als Ausgangsmaterial bietet, dann ist davon nicht ein Tausendstel sinfonisch verarbeitet worden. Das ist nicht nur ein Materialproblem. Jeder Komponist nämlich, der sich der Sinfonik zuwendet, wird sehr schnell von der starken westeuropäischen Musiktradition aufgesogen. Er wird zu einem europäischen Komponisten - mehr oder weniger gut. Das eigentliche Problem aber ist, daß die westeuropäische Musik in Kuba, Argentinien, Nikaragua, Ägypten keine Rolle spielt. Da existiert keine solche Tradition. Es ist möglich, daß sich die Bourgeoisie Nikaraguas oder Griechenlands für diese Musik interessiert. Mein Problem indessen war schon immer folgendes: Ich wollte als Grieche griechische Musik schaffen. Und wollte versuchen, die Konstruktionen und Strukturen der westlichen Musik, ihre Harmonik und Kontrapunktik zu hellenisieren. Die Hellenisierung hatte als Adressaten nicht die Bourgeoisie, die ohnehin europäisiert ist, sondern die Sensibilität des heutigen Griechen. Obwohl mein sinfonisches Werk in Griechenland einen gewissen Anklang findet, kann ich nicht behaupten, daß es den Griechen innerlich so bewegen kann wie beispielsweise das Lied.

Kutulas: Dabei ist dein "Sinfonie"-Verständis sehr tief in der griechischen Kulturtradition verwurzelt. Das wird auch deutlich, wenn man deine Definition der Sinfonie als "Farbige Wandmalerei" oder als tragische poetische Handlung" in Betracht zieht. Letzteres stellst du ins Zentrum deiner musikalischen Poetik ...

Theodorakis: Ja, weil, allgemein gesagt, die individuelle menschliche Tragödie sich in der Musik finden muß. Denn das, was bleibt, sind Klänge. Das ist die große Falle der Musik: Sie garantiert uns ideale Mittel und Möglichkeiten, mit denen wir ideale Resultate schaffen können. Denken wir nur an die hervorragenden Interpreten, die es heute gibt. Das ist eine große Versuchung. Man kann so wunderbare Konstruktionen machen, die wunderbar klingen. Sogar die menschliche Stimme wird bis zum äußersten strapaziert, sie wird als Instrument eingesetzt, im Streben, sich von der Tradition zu lösen. Ein guter Sänger kann eben alles machen, er kann seine Stimme in übermenschlicher Weise einsetzen, sie bis zur Karikatur deformieren. Im Gegensatz zu früher, da die Tendenz existierte, die Instrumente zu vermenschlichen, ist es jetzt üblich, die menschlichen Stimmen zu instrumentalisieren. Der Mensch wird wie ein Instrument verwendet, ja die Überorganisation allgemein führt uns weg vom Menschen. Wenn uns aber der Komponist in seinem Werk nichts erzählt, kein individuelles menschliches Abenteuer, kein Drama, keine erlebte Betroffenheit, keine Vision, dann bleibt die Musik ohne Seele. Diese Sache aber, im Werk das individuelle Element einzubringen, ist äußerst kompliziert, weil sie in vielen Fällen auf Kosten der Technik geht. Das Ideale wäre, die eigenen Passionen durch adäquate Klangkonstruktionen ausgleichen, das heißt ausdrücken zu können. Das eigentliche Werk wäre eben dieses: das Gleichgewicht zwischen Intuition und Konstruktion herzustellen.

Vogt: Um konkret zu werden. Mir ist aufgefallen, daß Sie im III. Satz der Siebenten Sinfonie die Tetrachordtechnik wieder anwenden, und zwar in der Weise, daß immer über drei Takte hinweg Zwölftonzyklen hergestellt werden. Haben Sie vor, in Ihrem weiteren sinfonischen Schaffen diese Tetrachordstruktur auszubauen und zu Zwölftonzyklen zu erweitern?

Theodorakis: Die Tetrachorde verwendete ich als Kompositionsprinzip im Finale der Dritten Sinfonie sowie im III. Satz der Siebenten Sinfonie . Ich habe jedoch die großen Möglichkeiten, die der Tetrachord bietet, noch nicht ausschöpfen können. Doch das hängt mit meiner eigenen Situation zusammen sowie mit den objektiven Voraussetzungen in Griechenland. Ich werde ständig zwischen sinfonischer und Volksmusik hin- und hergerissen. In Griechenland selbst gibt es keine reale Grundlage, auf der sich langsam ein Publikum entwickeln könnte, das an einem Dialog, einem unmittelbaren Kontakt hinsichtlich der sinfonischen Musik interessiert wäre. Ich versuchte, in diese katastrophale Situation mit meinem Buch Anatomie der Musik einzugreifen, doch das Interesse, das vorhanden war, als es als Folge der Zeitung Rizospastis erschien, ließ bald nach. Die Menschen kamen mit dem Text nicht mehr klar, ihnen fehlten die Voraussetzungen für dessen Verständnis. Vielleicht aber liegt das auch an der Zeit, daß man eben vieles nicht verstehen kann.
Falls ich noch weitere sinfonische Musik schreiben werde, dann möchte ich das Tetrachordsystem weiter ausbauen, weil es gewaltige melodische und harmonische Möglichkeiten bietet.

Vogt: In der Anatomie der Musik sprechen Sie von der Verwandtschaft von Musik und bildender Kunst. Zum Beispiel ist mir da aufgefallen: sinfonische Musik als "Tongemälde". Welche Verbindung sehen Sie zwischen Musik und Malerei, welche Beziehung sehen Sie zwischen bildender Kunst und Ihrer eigenen Musik?

Theodorakis: Ich möchte auf einer andern Ebene den Gegensatz aufbauen. Einerseits die Miniatur-Kunst, repräsentiert etwa durch Webern, der musikalische Medaillons kreierte, herrlichen Schmuck. Auf der andern Seite eine Kunst, die zu ihrer Realisierung Zeit und Raum benötigt. Für das Medaillon braucht man ein Mikroskop, man muß allein in einem Zimmer sitzen und genau beobachten. Die andere Kunst dagegen ist mit der Agora verbunden. Ich bin in einer konkreten historischen Situation aufgewachsen, bin durch meine Epoche und das griechische Volk geprägt worden. Ich stamme von der Agora, ich bin ein Kind der Agora. Ich bin kein Kind einer Epoche, in der die Menschen in sich gehen, sich auf die Familie beschränken, ein Haus bauen oder einen Salon gründen. Ich entstamme einer andern Epoche. Nicht aber der Welt Wiens, der Welt zwischen den Kriegen, in der sich, nach dem Abenteuer des ersten Weltkriegs, die Menschen und besonders die Aristokratie in ihre Innerlichkeit zurückzogen. Je größer ihre Innerlichkeit wurde, desto mehr wurden ihre Werke zu feinen, glänzenden Miniaturen. Ich gehöre zu einem entgegengesetzten Strom. Ich wuchs auf während der Ereignisse von 1939, 1940, 1941, 1944, 1947. Die Geschichten, die ich erzählen kann, sind die einer ganzen Generation. Das ist ein elementares Erlebnis, mit Menschen zusammenzugehen, die man dann in Kriegen verliert. Das Thema der "lebenden Toten" ist sehr ernst, und es hat große Auswirkungen auf das Leben eines Menschen. Vielleicht ist das rational gar nicht faßbar, aber emotional belastet es mich außerordentlich. Einer meiner Freunde sagte einmal: Alle Handlungen von Mikis sind Akte der Verzweiflung, weil er nicht umgekommen ist, als er umkommen mußte ... Ja, das verstehe ich. Natürlich lebte ich nicht in Verzweiflung, es war eher Eifersucht. So, als würde ich die Umgekommenen um ihr Schicksal beneiden. Und das ist die Haltung meiner ganzen Generation, eine Haltung, die ihrem Wesen nach dionysisch ist, denn der Tod bedeutete uns nicht einfach eine Negation. Auch er war in jener Zeit errungen.
Ich komme aus einer Zeit, deren Klänge betäubend waren. Die Klänge meiner Jugend waren die Bombardements, die Demonstrationen, die Schlachten - das ist auch meine Musik. Später auf Makronisos die Schreie von vierhundert oder tausend Menschen, wenn sie gefoltert wurden. Das war eine Welt, die uns erschüttert hat. Dann vor wenigen Jahren die Schreie von gefolterten Frauen im Gebäude der Sicherheitspolizei. Wir sind in eine furchtbare Klangwelt hineingeboren worden. Die Aristokraten haben nie solche Klänge gehört. Das sind keine Kriminalgeschichten, wenn jemand mit solchen Klängen aufwächst, sondern ideologische, ganz elementare Erlebnisse. Woher kommt denn meine Sensibilität für den Klang? Natürlich sind da die Kantaten meiner Mutter, die Lieder meiner Mitgefangenen, doch immer beherrschten diese furchtbaren Klänge mein Leben. Und stellen Sie sich noch als drittes die Musik Beethovens dazu vor!
Das ist das eine. Das andere war unsere Anstrengung, in diesem ganzen Mosaik unsere eigene Schönheit, unsere Ideale zu finden. Es ist eine ganze Geschichte, die ich zu erzählen habe. Ich komponiere nicht einfach so, weil mir die Musik gefällt und ich losschreiben kann, ein Viereck oder eine Miniatur zustande bringe und dann über die Schönheit meiner Linien meditiere. Ich habe das tiefe Bedürfnis, viel zu sagen. Das andere kann ich nicht.
Vielleicht hängt das auch mit meinem Charakter zusammen, mir gefallen einfache, weite Gesten.

Dresden, 1984
© Übersetzung von Asteris Kutulas und Peter Zacher

 

 

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