Stasi, nonkonform

Im Mai 1988 kam es in meiner Pankower Wohnung zu einer Begegnung der dritten Art, als zwei Stasileute bei mir auftauchten, die Frank Lanzendörfer, der gerade bei mir zu Besuch war, augenzwinkernd grüßten: "Ach, Herr Lanzendörfer, Guten Tag!" Woraufhin ich verdutzt fragte: "Sie kennen sich?" Der jüngere erwiderte: "Kennen, ist gut gesagt! Was, Herr Lanzendörfer! Ich dachte, Sie sind schon längst weg!" Er spielte damit auf einen längst von Lanzendörfer zurückgezogenen Ausreiseantrag an. Die beiden Stasileute wurden unsicher, wie immer, wenn ihnen die konspirative Grundlage genommen war: Ich schwieg, da ich nichts von ihnen wollte, Lanzendörfer saß stumm kippelnd auf einem Stuhl, diese Stummheit dem Raum regelrecht aufzwingend. Nach etwa fünf Minuten einer immer unerträglicheren Stille standen die beiden Stasileute auf und gingen fort.

Ich erinnere mich, wie dieselben zwei Literaturbeauftragten der Stasi (Hasi und Nasi, wie Ina sie genannt hat) Anfang 1989 zu mir nach Eggersdorf kamen, in den Händen triumphierend die untergründlerische Zeitschrift "Liane" haltend, und mich fragten: "Haben Sie das schon gelesen?", so als wären sie auf ihrem täglichen Nachhauseweg bei mir auf einen Kaffee vorbeigekommen, mit der neusten Zeitungsnachricht in petto. Gemeint war ein Artikel des Herausgebers von "Liane" Michael Thulin (alias Klaus Michael), der gegen das Konzept der damals von mir herausgegeben Zeitschrift BIZARRE STÄDTE mit Schlagworten argumentierte, die einige führende Repräsentanten aus der Szene vorgaben, unter anderem:

- Jede Öffentlichkeit über 100 Personen ist suspekt.
- Das Politische in der Kunst ist zu verurteilen, es geht nur um Ästhetik.
- Die Aufklärung ist tot, es lebe der Strukturalismus.

Das war die Verkehrung der Werte – das Staatserhaltende, versteckt in der Widerstandsgeste –, und die beiden Stasi-Leute hatten gut Lachen. Im Grunde genommen lehnte auch der "Liane"-Autor (im polemischen Überschwang) das ab, was das DDR-System mit der Zeit abgeschafft hatte: Öffentlichkeit, politische Diskussion, Aufklärung im philosophischen – kantschen – Sinne. Jene aus der Prenzlauer-Berg-Szene, die solche "moralischen Prämissen" aufstellten (wie z.B. Sascha Anderson und Rainer Schedlinski), taten es aus gutem Grunde, denn sie arbeiteten für die Stasi. Mit den konkreten BIZARREN STÄDTEN, in denen es darum ging, die eigene Kreativität auszuleben, hatte das wahrlich wenig zu tun. Aber schon das war in der DDR unerwünscht, und ich kenne viele Leute, die, da sie danach lebten, kaputtgespielt wurden. Das beliebteste, einfachste und effektivste Mittel war, durchsickern zu lassen, dass der und der für die Stasi arbeite. Es gab kaum einen Autor, über den nicht ein anderer mir zugeflüstert hätte, ich solle mich vor ihm vorsehen – so konnte man weder arbeiten noch leben. Also fassten wir den "historischen Beschluss", unsere Projekte durchzuziehen und die Stasi-Gerüchteküche gänzlich zu ignorieren. Wir dachten uns, das ist genau das, was die Stasi nicht will, und falls wirklich Leute von denen unter uns sind – was stört es uns... Dieser Beschluss war wie ein Befreiungsschlag: Wir konnten von nun an arbeiten (und teilweise genießen).

Aber nicht nur die Staatsgewalt in Gestalt zweier Herren der Staatssicherheit – was wir allerdings erwartet hatten – kam auf mich zu, sondern auch Sascha Anderson, der Papst, Mentor und Mäzen der untergründlerischen Prenzlauer-Berg-Szene, der mich aufforderte, meinen „Bizarre-Städte“-Unsinn doch zu lassen.
Ich fand die „Szene“, zu der ich nicht gehörte und nicht gehören wollte, gut, weil es sie gab, weil sie – neben anderen – ein Hort des selbstbestimmten Denkens und Tuns für einige Künstler, Querköpfe und Hochstapler in der DDR war. Ihr Problem – und möglicherweise ihr Daseinsgrund – bestand darin, dass sie von den verkappten Stasileuten Anderson & Rainer Schedlinski in gewisser Weise kontrolliert und von ambitionierten Schreiberlingen beherrscht wurde, die weder die Courage eines Lutz Rathenow oder die literarische Qualität z.B. von Kathrin Schmidt, Gregor Kunz, Kerstin Hensel besaßen, noch die satirische Kraft eines Steffen Mensching oder Hans-Eckart Wenzel – die allesamt vom Gros der „Szene“ niedergemacht bzw. bespöttelt wurden. Glücklicherweise gab es da die – in meiner Wahrnehmung – isoliert dastehenden Leuchttürme Bert Papenfuß-Gorek, Detlef Opitz, Stefan Döring und ihre Texte, die allerdings die „Szene“ nicht gebraucht hätten, sondern auch aus sich heraus hätten schöpfen können, wie es Reinhard Jirgl, Jan Faktor, Frank Lanzendörfer, Johannes Jansen, Eberhard Häfner u.a. getan hatten, die sich dem arrogant-schwimmeligen Szene-Dunstkreis sukzessive entzogen, oder andere wie Uwe Kolbe oder Durs Grünbein, die gar nicht erst in diesen hineingerieten.

Ich schreibe all das, weil sich die Bizarren Städte - für uns damals seltsamerweise - nicht nur im Fadenkreuz staatlicher Ermittlungen, sondern auch im Fadenkreuz der „Szene-Regierung“ befanden, denn Anderson & Schedlinski agierten wie deren Premier- und Propaganda-Minister – dabei nicht nur die politischen, sondern auch und vor allem die geschäftlichen und bilateralen Beziehungen zum Westen regelnd. Diese beiden mal farbschillernderen, mal blasseren Oberhäupter hatten die geistige und teilweise auch faktische Regentschaft über das Erscheinen einiger „Untergrund“-Publikationen in Prenzlauer Berg und anderswo inne und wähnten sich kompetent genug, festlegen zu dürfen, wer in dieser Szene salonfähig war und wer nicht, waren also ebenfalls kleinbürgerlich, wenn auch mit abgetretenen Kelimteppichen und Ledersesseln, khakifarben von Alterspatina, in den Arbeitsräumen und/oder bekleidet mit einer ewigen beuys-kreuz- und -flecken-dekorierten Weste.

Trotz dieser doppelten „Restriktion“, die unsere Arbeit ständig begleitete, will ich nicht behaupten, dass die Bizarren Städte in gesellschaftlicher oder kultureller Hinsicht „wichtig“ waren, aber sie veränderten immerhin in konstruktiver Weise die persönlichen Produktions- und Dialog-Bedingungen einiger Leute, die sich mit Kunst und Literatur beschäftigten, und wurden damit zu einem selbstbewussten Ausdruck unserer „transzendentalen Obdachlosigkeit“ in diesem seltsamen Niemands-Land DDR. Immerhin veröffentlichten wir einige Texte, die sonst keine Chance auf Publikation hatten, wie z.B. Annett Gröschners „Maria im Schnee“, Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee IV“, Matthias „Baader“ Holsts Gedichte oder Frank Lanzendörfers Foto-Text-Collage „Garuna, ich bin“, um nur einige zu nennen. Wir haben aber auch mit unseren Schwerpunkt-Heften Maßstäbe gesetzt und – im Rückblick betrachtet – einige bis dahin anderswo nicht behandelte Themen aufgearbeitet, wie z.B. über das Wirken der Malergruppe „Lücke“ um A.R.Penck und Wolfgang Opitz Anfang der siebziger Jahre oder über die Umweltzerstörung in der DDR, u.a. in dem programmatischen Text von Jurij Koch „Die Schmerzen der auslaufenden Art“. Wer sich zudem unsere beiden Dresden-Editionen anschaut, erhält einen guten Einblick in die „alternative“ Dresdner Literatur- und Malerszene um 1988-89.

© Asteris Kutulas

... wird fortgesetzt ......

 

Für Thomas Haufe, kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis ...


.usf 1,2,3
flüchtige anmerkung zu einem dresdner projekt

thomas haufe spricht ruhig und leise. so sind auch seine editionen. sie haben, trotz ihrer exklusivität, keinen elitären, aristokratischen charakter, was nicht sehr einfach zu bewerkstelligen ist. immerhin gerät neuerdings sogar das elitäre in den verdacht der etablierung, der – auch: ungewollten – angepaßtheit. nein, haufes bisherige drei hefte mit dem bezeichnenden titel .usf offenbaren eher das konzept eines handwerkers, ja, ich würde sagen, sie haben etwas vom zünftigen büchermachen einer anderen zeit. noch periodikum, schon künstlerbuch – das ist der grat, auf dem sie produziert werden; bekanntlich läßt es sich auf einem grat nicht gut leben. das kommt haufe zugute und seiner edition auch. sie gibt sich nicht verbissen experimentell, sondern plebejisch höflich, was nicht schlecht ist, bedenkt man, daß den experimenteuren allerorten die puste ausgeht. oder schlägt uns nur der wind so ins gesicht, daß wir kaum luft holen können? wie dem auch sei, das experiment findet hier im verborgenen statt, hintergründig und elementar und auf vielen ebenen. gestaltung, grafische umsetzung und illustration (im besten wortsinn), verflechtung und künstlerische qualität von grafik und text – worüber hier nicht gesprochen werden kann – sind wichtig, doch wichtiger ist, daß es .usf als idee gibt, als freien raum, als ein autonomes "innovationszentrum" neben so vielen anderen in dresden. zudem: sind es wirklich so viele?
"das land hustet", schreibt haufe, "aber der himmel bleibt zu". das erinnerte mich an eine eigene – jahre zurückliegende – entdeckung: der himmel ist immer noch geteilt, aber die hoffnung fiel in die spalte zwischen den hälften. gemeint ist fast dasselbe; und mir fällt auf, daß solch pessimistische (oder: desillusionierte?) grundhaltung zum büchermachen verführt hat – und nicht nur in unseren beiden fällen. der zugedeckte himmel über uns drängt offensichtlich darauf, in uns geöffnet zu werden. vielleicht muß man wirklich die "selva oscura", den "dunklen wald" dantes durchschreiten, kraft schöpfen, das wirkliche blau sehen, wieder buchstabieren:

und.undsoweiter.undsofort

ohne den letzten punkt zu setzen, und ohne einem andern, wenn er es tut, den kopf abzureißen: ein schwieriges unterfangen. das könnte auch heißen: in der regel weiß man, was kommt, zumal in diesen trostlosen zeiten, aber dann kommt es (manchmal) anders. für dieses "manchmal" sorgt unbestritten auch .usf, beziehungsweise was sich darin phantasmagorisch tummelt: else gabriels rote äpfel auf grünem hintergrund, andreas hegewalds gebändigt ungebändigte strichfiguren, steffen fischers gekonnt anarchische flugversuche, micha brendels versteckte greul vor dem zahnarzt – wenn diese interpretation gestattet ist – und nicht zuletzt gudrun trendafilovs nachdenkliche und zugleich metamodern angehauchte variationen, die dem 3.band ihren eigenwilligen stempel aufdrücken.
der organisator dieses "manchmal" muß also nicht nur die unterschiedlichen künstler – maler, grafiker, fotografen und autoren – zusammenbringen, sondern auch zwischen ihnen vermitteln, was beizeiten weitaus schwieriger ist. doch thomas haufe besitzt, wie gesagt, ein ruhiges gemüt; das hat ihm bei seiner vermittlung sicherlich geholfen, und nicht nur dabei. also wünschen wir ihm und seinen heften weiterhin diese ruhe, die im innern bewegung verspricht, mehr als wir vielleicht zu hoffen wagen.

eggersdorf süd, 7.10.1989
(anläßlich der buchpremiere von .usf 3 am 12.10.89 in dresden.)
© asteris kutulas

 

 

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