Till Lindemann ...

... ist, schaut man genau hin, eine Lindenfrau. Versenkt man sich wiederholt in ihren Anblick, erkennt man ihren weiblichen Charakter deutlich am Wurzelwerk, das die Erde umklammert und nicht wieder loslässt, ein Leben lang. Auch die klagenden germanischen Lieder, die immerfort im Rauschen ihrer Blätter hörbar werden, sind Ausdruck ihres femininen Charakters, genauso wie ihre vegetative Vermehrung: durch Stockausschlag und Wurzelbrut. Vor allem junge Leute verehren in der Lindenfrau Freya, die germanische Göttin der Liebe und des Glücks. Das Gerücht, Lindemann sei männlich, lässt sich allerdings, wie die letzten Jahre gezeigt haben, nicht so schnell ausräumen und wird von ihr selbst sehr bewusst immer wieder in Umlauf gebracht.

Das fraulich weiche Holz der Linde ist jedenfalls gekennzeichnet durch seine geringe Dauerhaftigkeit gegenüber Witterungseinflüssen. Daher wird es bevorzugt im Innenbereich als gutes Schnitzholz eingesetzt. Unter anderem hat Till Riemenschneider im Mittelalter seine Werke aus Lindenholz hergestellt. Von ihm entlehnte die sich in Lindemann verbergende Lindenfrau wohl auch den Vornamen, bei dem sie gerufen werden will. Vielleicht schämt sie sich inzwischen auch für ihre Vergangenheit, als sie nämlich vor 2.000 Jahren als „Gerichtslinde" bekannt war, unter der die germanischen Gerichtsversammlungen abgehalten wurden. Anders als unter der als männlich verschrienen Stieleiche fielen die Urteile unter der Linde meist „linde", also milde aus. Und dann ist da noch - sehr passend - der Wilhelm Müller:

Ich musst auch heute wandern
Vorbei in tiefer Nacht,
Da hab ich noch im Dunkel
Die Augen zugemacht.

Oft wird mir die Frage gestellt, warum die als Till Lindemann bekannte Lindenfrau sich nicht zu ihrem Sexus bekennt: dazu, dass sie nämlich eine Bäuerin ist und kein Bauer. Ich glaube, sie tut es nicht, um ihren weichen Kern nicht preiszugeben. Lieber hüllt sie sich in eine grobschlächtige, gleichsam vor Männlichkeit strotzende Gestalt. Doch schon dieser Erklärungsansatz ist reine Spekulation. Und ich sehe ihn/sie leider nur sehr sporadisch, als dass ich den Mut und die Entschlusskraft aufbringen könnte, ihm/ihr solche Fragen direkt zu stellen. Und weiter gehts bis ans Ende der Nacht:

Ramm Steine In Die Welt Verspritzend
Lindemanns Messer im Kopf

schleimschwer * brennts dir in den Augen * blattfarben * Spritzer von Spucke * sprich und sprich erzähl faß dich * kurz * Viper rote * Biest du * beiß dir ins Fleisch * wo * alles bleibt * wo * alles treibt * ich beginn * aufatme von vorn * Sporn * noch einmal * keinmal * steigen * in den Fluß * deine Blicke * unberedt * Fluß der von dir geht * fort * gehen muß * Fluß der sich anschleicht an mich * außer sich * bringt Federn * fängt Feuer * alles im Flug * Lot * mich in den Fängen * dich in den Engen * wutrot * alles bleibt * wo * in mir * wo * in dir * den Laut stoß * in die Höhle des Mundes * Hasenhundes * ausgehöhlte * hohle Worte * blasen sich auf * drohen * Wächter des Erdigen * des engelgefüllten Wagen * mein Wage hab ich * vollgelade * voll mit ihnen allen * Schleim auf der Linse * grinse * Lippen rissige * Worte bissige * such ich * dich suchend * weglos in mir * wo die Leere * Herzhöhle aufwartet * wo du * vergnügst dich * verhaßte Sehnsucht * geliebte Liebesflucht * sonnsternige * verläßt meine Augen * Lärm und Putztücher * die mir drohwinken * am Hals hast du sie * über der Schulter * als wär ich dir zur Linken * zu Lasten * als du zu mir kamst * beginn von vorn * denk dran * die Treppe * des Apfels Kern * ich ging kam herein * trat auf meinen Schein * Schatten * der dir in die Füße schnitt * dich fand * im Zorn im Angesicht * es strömte * nur so * Linien in denen ich las * und zurechtbog * Schrift * DEIN HINVERLANGEN * am langen Arm mich * mit meinem heimlichen Hang * Flucht * Sucht * verlier diese Spur * aus dem Blick die Stadt * die Stelle * Helle * den Ort * wo wir uns fertig gemacht * ausgelacht * abgeschlacht * die Ackerblume * Krume * der Platz * das Feld * das weite * mit tausend Ohren * Horen * aus dem Sinn * drum lad ich * alle meine Tage * die Fasern deiner Haut * die Falschheit meiner Waage * aus stell ich mich * schaff an immer an * Tag für Tag * Abend für Abend * schaff an * mein Gesicht mit dem Ausdruck darin * ganz schön * hab ich zugelegt * mich zu dir * das Nasse zum Trocknen * die Schere zur Pinzette * ins Bette die Schwere * den Spiegel zur Ehre * Seele ins Wort * Scherz beiseite * die Wahrheit * einzig gewahrt * diesen Unsinnsort * ich häng * an dir wie am Tropf * und durchtrenn den Schlauch * und feiere die Welt * ein Feuerwehrmann * ein allzu weiser Erdenheld * das Ende seh ich * bekämpf und lösch es mit Wasser und Schwert mit Feuer und Herd Messer Gabel Schere Licht * beschwer mich nicht * mit Speichel und Schleim und Rotz und Sporen und Quecksilberporen * ich werd und werd * nie wieder * Grad Celsius * nie wieder erreich ich den Punkt * neunhundert Jahre muss ich nun warten * bleib * die Viper * braucht Leib alle Zeit * häuten * will sich auch etwas in mir * ein Elendsgarten * leg mich * nicht auf die Seele dir * verlaß die Befehle * Laut der Kehle .....

© Asteris Kutulas

 



AUTOBIOGRAFISCHER TEXT EINES PUBERTIERENDEN JUGENDLICHEN
(1978 oder 1979 geschrieben und 30 Jahre später Till Lindemann gewidmet)


Alles, was ich vorher erlebte, war Vorspiel, Einleitung, das Präludium meines Ich. Die Geschichten und Erlebnisse waren längst nicht mehr bewusste Vergangenheit, sondern schon eingekerbt und geprägt; tief ins Gesicht, ins Verhalten. Wie wenn ich schlafen ging und den Traum mit unwahrscheinlicher Intensität lebte, aufwachte, ein anderer Mensch war und nicht wusste warum. Das Bewusste in meinem Leben kam mit der Erfahrung, kam mit dem Alter, kam mit dem Bewusstsein meiner Umgebung. Die Grundlagen aber, die Voraussetzungen waren schon gelegt, als ich aus der Unwissenheit kam und mir bewusst wurde, dass es auch anders hätte kommen können.

Als ich geboren wurde, war ich Millionen Jahre alt. Dieses Alter ermöglichte es mir schnell, meine reine Umwelt rein zu begreifen, und mit einem naiven Idealbild der Menschen wurde ich vom Leben mitgerissen und aufgesogen, ohne dass es mich fragte, ob denn ich schon List und Verschlagenheit, Hinterhältigkeit und Gier, Neid und Wortgewandtheit kannte. Auf keinen Fall sollte man sich diese Eigenschaften zu Eigen machen. Wenn man jedoch nicht weiß, dass sie existent sind, wird man die bittere Erfahrung der Niedergeschlagenheit und des Aufgebens machen.

Als ich drei Jahre alt war, brachte mich meine Mutter in den Kindergarten am Rande der Stadt. Es war ein großes, weißes Haus mit einem roten Ziegeldach und einem erholsamen Garten. Das Auffallendste war eine ganz langsam ansteigende Treppe, deren fließende Brüstung an beiden Seiten zur hölzernen Tür führte. Das Haus gehörte früher einem reichen Städter, der jetzt irgendwo in einem anderen Land ohne Namen, weil es nicht seine Heimat ist, lebt. Dieser Mann muss viel Besuch gehabt haben, denn die Treppe ist dermaßen einladend, sie zu besteigen, dass viele Menschen sie noch heute hochlaufen, nur um bis zur Tür zu gelangen und dann umzukehren. Als mich meine Mutter zum erstenmal dorthin brachte, fing ich an zu weinen und zu schreien; ich wollte nicht ohne sie dableiben. Nach einiger Zeit verließ sie mich doch, und ich rannte zum Fenster und sah sie die Treppe langsam hinuntergehen. Die schöne, weiße, einladende Treppe, die mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist. Jetzt weiß ich, dass das ganze Leben so ist: man fängt an, um aufzuhören, man handelt, um zu ruhen, man ruht, um zu handeln und man hört auf, um anzufangen. Und das alles sinnlos oder sinnreich, was nicht gleichzusetzen ist mit Willen und Wissen.

Da mein Vater viel zuhause arbeitete und wenig Zeit hatte, aber viel Ruhe brauchte, ging meine Mutter oft mit mir, als ich sechs, sieben Jahre alt war, ins Ballett. Ich erinnere mich noch eines Stückes. In diesem Ballett wurde das Böse durch einen weltbekannten Tänzer dargestellt, dessen Elastizität mich unwahrscheinlich beeindruckte. Selbst in seinem Todestanz, in dem er zugrunde ging, bewegte er sich so ausdrucksvoll, und sein grüner Anzug glitzerte aufgrund seiner schnellen Bewegungen in so vielen Farben, dass er mir leid tat, und ich war schon bereit, mich gedanklich mit ihm zu identifizieren. War es Unreife, oder war es schon eine Ahnung? War es kindliche Sorglosigkeit, oder war es schon Mut?

Einige Sommer später kaufte meine Mutter schöne, große Äpfel. Ich erinnere mich an einen roten, saftigen Apfel, der so viel Lebensfreude, Frische, Optimismus und Kraft ausstrahlte, dass ich ihn fallenließ und mit dem Fuß zerdrückte. Die Angst, meine Erwartungen durch ein verfaultes Inneres zu enttäuschen, war groß. Größer als der Genuss eines schmackhaften Apfels. Größer noch, als das Leben so zu nehmen, wie es war und meine allgemeine Bitterkeit nicht beachtend, zu lachen, mit den Händen, Augen, Ohren, Nase zuhaltend.

In der ersten Klasse lernte ich sehr gut, bekam aber in Nadelarbeit eine Vier, weil ich meine Nadel vergessen hatte, schloss trotzdem das Schuljahr mit Auszeichnung ab und wurde mit einem anderen Jungen Klassenbester. Ich hatte zwei Freunde, mit dem, der älter war, traf ich mich öfters. Ein Junge in meiner Klasse, der an einer Herzkrankheit litt, machte mich darauf aufmerksam, dass von dem vielen Eiessen ich eines Tages selbst zu einem Huhn mich verwandeln würde. Ich aß nämlich leidenschaftlich gern gekochte Eier, Spiegeleier, jede Sorte von Eiern, Hauptsache, sie waren essbar. Die gesamte Klasse freute sich besonders auf den Sportunterricht, weil der Sportlehrer ständig fehlte, und so spielten wir immer Fußball, und die Mädchen spielten mit ihren Puppen; so war jeder auf seine Art glücklich, und sie verliefen die Tage wie Jahre, und mit jedem Jahr wuchs in mir die Liebe zum Leben. Achja....

Mein Kindheit, zerstückelt in Fragmente und einzelne Bilder, ohne Probleme verlaufend, verbrachte ich zwischen einem glücklichen Elternhaus und einer homogenen Gesellschaft. Ob nun das Land ein schönes Land ist, weiß ich nicht, viele Freunde behaupten es, ob es gar en glückliches Land ist, vermag ich nicht zu sagen. Da sind Menschen, da sind Städte und Dörfer, da sind Wälder, Felder und Seen, da ist ein blaues Meer und ein blauer Himmel, ein großes, weißes Haus mit einem Ziegeldach, ein paar Freunde, eine Schule; eine Kindheit, ein Land, da sind Menschen, ja, Menschen ...

Die neue Stadt, in die wir umzogen, erschien mir schön. Es war natürlich schwer, die eigenartige, etwas gefühllose Mentalität der neuen Nachbarn zu verstehen, dafür aber war es umso lehrreicher, ihre kühle Rationalität und ihren Hang zur peinlichen Ordnung und zur detaillierten Planung sämtlicher Lebensbereiche kennen zu lernen. Nützlichkeit, Hand in Hand mit Gefühllosigkeit, Vertrautheit mit Unpersönlichkeit. Vor allem gefielen mir in der neuen Stadt die Spaziergänge mit meinem Vater zum Fluss, wo wir uns ins Gras legten und die Schiffe beobachteten. Das andere Ufer kam mir sehr nah vor, daher wunderte ich mich sehr, dass der Stein, den ich warf, nicht einmal bis zur Hälfte des Flusses gelangte. An sonnigen Tagen, die mir die Haare durcheinander wirbelten und der Geruch des Wassers erfrischend mich belebte, fühlte ich mich unaufhörlich wachsen. Wachsen in einer unschuldigen Naivität und der kindlichen Sorglosigkeit. Ich fühlte mich stark genug, meine Sinne waren so wach, es mit dem Fluss aufzunehmen, es mit allen Flüssen und Meeren aufzunehmen, mit allen gleichzeitig, denn sie wollen nichts anderes als sich fügen: dem Drang der Schwere; immer dem Mittelpunkt zu.

Und wenn ich so nackt vor dem Spiegel stehe, dann weiß ich, dass ich ein Mensch bin. Und dann weiß ich, dass ich denken kann; wie Du, denn wir können uns nicht leisten, nicht zu denken. Wie die Wahrheit nackt ist, so müsste ich sein, und manchmal verstehe ich, dass es nicht so leicht ist, sich auszuziehen und einfach nackt zu sein.

Die Entwicklung ist widersprüchlich und nicht nacherlebbar. Sie kann sein: nacherlebbar, widerspruchslos, einseitig, negativ, bedeutend, programmgemäß, vielseitig, positiv, radikal, unbedeutend usw. Sie kann schnell, normal oder langsam verlaufen, sie kann eine relative oder hervorragende Bedeutung besitzen, sie kann alles, wenig, viel oder nichts beinhalten. Sie kann stehen bleiben und enden oder immer voranschreiten. Der Kuckuck schreit, und das Schaf miaut, und ich esse den ganzen Tag Kartoffelsuppe mit Nudeln. Und dann hat man immer noch nicht die Ursache; weder den Menschen noch seine Entwicklung.

Als ich noch jünger war, mein Vater wegzog, ich glaubend, den Sinn des Lebens erkannt zu haben, nicht mehr sooo jung, um mit Illusionen durch den Tag zu gehen, noch nicht alt genug, alle Dinge beim richtigen Namen zu nennen, begann jener Wandel, nicht vom Kindsein zum Erwachsensein, sondern vom Verstehen zum Denken. Achja ... Mich auf meine Freunde und meine Kenntnisse stützend, keine Kontakte mit Klassenkameraden oder anderen Menschen und Jugendlichen besitzend, hatte ich mir mein egoistisches Leben aufgebaut und war zufrieden... Dann, auf einmal kommt der Tag, wo es uns bewusst wird. Wo uns das – eigentlich nicht mit Worten Ausdrückbare, in einem, für einen Moment in unserem Gehirn aufflackert, in uns eindringt und uns in Wahrheit so vieles darstellt – bewusst wird, dass man MENSCH ist, dass man denken kann, dass man dafür lebt. Achja...

© Gefunden und abgeschrieben von Asteris Kutulas

 

 

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