Ich habe seit Anfang der achtziger Jahre viele Bücher übersetzt, zunächst allein, später auch mit anderen zusammen wie z.B. mit Steffen Mensching, Peter Zacher oder mit Ina. Und obwohl ich schon sehr lange in Deutschland lebe und hier Germanistik und Philosophie studiert habe, überkam mich oft das Gefühl, dass ich Texte zwar sachlich »richtig«, aber in der Sache »unrichtig« übersetzt hatte. Seit Inas Mitarbeit ist dieses Gefühl allmählich in den Hintergrund getreten, weil sie Lösungen findet, die meiner Ratio zwar »falsch«, meinem poetischen Empfinden aber »richtig« erscheinen. Und dann lassen wir das so stehen. Dasselbe passierte auch bei der Zusammenarbeit mit anderen Autoren. Ina geht ganz anders als ich an die Texte heran. Sie ist eine deutsche Autorin, eine deutsche Lyrikerin. Sie hat Verschiedenes veröffentlicht, u.a. zwei Bücher, einen Lyrik- und einen Prosa-Band, dazu viel in Zeitschriften und Anthologien. Das Wichtigste ist aber wohl, dass sie beinah jeden Tag schreibt, meist Tagebuch. Sie sagte mir einmal, dass sie sich das von Seferis angenommen habe: beobachten, notieren, jeden Tag. Ina nennt das „Aufzeichnungen machen". Und während ich viel in der Welt unterwegs bin, hält Ina sich wach für die Dinge in unmittelbarer Nähe, trainiert sie die Tuchfühlung mit dem ganz gewöhnlichen Alltag vor der Haustür. Mit Vorliebe macht sie Nachdichtungen, indem sie am selben Ort den Text wieder und wieder liest, oft mehr als zehnmal, zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten und manchmal gerade erst recht, wenn sie keinen guten Tag hat. Wenn sie merkt, dass sie sich in eine Nachdichtung „einzuwohnen" beginnt, legt sie diese für eine Weile beiseite. Fast hat sie dieselbe Gepflogenheit, etwas abzubrechen, wie ich, der Berlin immer wieder verlässt. Und während ich den Ort verlasse, um zu Texten zu kommen, verlässt Ina den Text, bleibt dem Ort treu. Schwer entschließt sie sich zu Reisen.
Inas Distanz zu meinen Übersetzungen kommt mir sehr entgegen, obwohl sie andererseits Griechisch spricht und den Klang dieser Sprache vernommen hat. Ihre Variationen lösen sich natürlich oft vom Original oder, besser gesagt, von dem, was ich für das Original halte, aber ich muss gestehen, dass ich mit der Zeit immer mehr ihren Vorschlägen folge. Früher war ich restriktiver und klebte auch mehr an der griechischen Vorlage. Dann aber kam der Zeitpunkt, da wir bei der Arbeit uns nicht mehr nur wie Akrobaten auf dem Seil vortasteten, sondern uns von diesem urplötzlich lösten, um einen riskanten Sprung zu wagen, immer verlockt, für etwas Überraschung zu sorgen.
Jedenfalls kann man meine und Inas Arbeit inzwischen nicht mehr auseinander halten. Um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen, will ich am Schluss betonen, dass es uns beiden natürlich immer darum geht, den Sinngehalt des Originaltextes zu bewahren. Wobei wir uns dabei immer zwischen zwei Polen bewegen: der Aussage eines bedeutenden Autors, dass man das Original durch eine Übersetzung niemals besser zu machen versuchen dürfe, und der Aussage einer namhaften Übersetzungswissenschaftlerin, die darauf besteht, Texte so zu übersetzen, dass sie in der Zielsprache, also im Deutschen, am besten „rüberkommen". Manchmal gewannen wir bei diesen Bemühungen den Eindruck, in mehreren Parallelwelten zugleich zu existieren, als Wort-Chirurgen und -Amputierte, -Pathologen, -Anatomen, -Reanimateure und -Geburtshelfer.
Für uns ist es ein großes Glück, mit einigen griechischen Autoren, deren Bücher wir übersetzt haben, gut bekannt bzw. sehr befreundet gewesen zu sein, wie z.B. mit Mikis Theodorakis, Jannis Ritsos oder Odysseas Elytis. Mit ihnen haben wir, meist im Sommer, viele Stunden verbracht, und oft ging es in unseren Gesprächen um Poesie und um konkrete Gedichte, die wir gerade übersetzten. Meist aber, und das ist das Erstaunlichste, haben wir miteinander gescherzt. Und das verlieh diesen Stunden ein helles Funkeln. Deshalb ist mir, wenn ich zurückschaue, als sähe ich nach vorn, als würde ich etwas wahrnehmen, das uns immer und immer wieder erwartet. Das Lachen, das gleich neben der Tür der Tragödie erschallt, unerschrocken, wie jemand, der seinen Fuß in den Spalt schiebt.
© Asteris Kutulas, 2008
(Das Foto mit Ina entstand 1988 in Tübingen, als wir beim Kongress "Kultur des Friedens" zusammen mit Walter Jens, Karola Bloch, Claudia Gehrke, Gottfried Bräunling, Mikis Theodorakis, Tsching Aitmatow, Christa Wolf, Hans-Peter Dürr etc. ein paar unglaublich intensive und unvergessliche Tage verbrachten.)
Meine Bücher
Die Kunst des Nachdichtens