Übersetzen/Nachdichten

Ich, im rumänischen und später im Dresdner DDR-Exil, bin aufgewachsen mit dem prägenden und sich jedes Jahr wiederholenden Silvesterspruch meiner Eltern: "Und im nächsten Jahr in der Heimat". Der glich einer Beschwörung, einer so nachhaltigen, dass ich mir später, gleichsam wie unter Zwang, Griechenland ins Deutsche übersetzte, als wollte ich meine beiden Heimatländer – oder sind es Vaterländer? - in meinem Innern vereinen. Jener Spruch verwandelte sich nämlich mit der Zeit in eine drohende Gebärde, in eine Chimäre, in ein kauderwelschendes Empfinden: kai perassan meres poles messa sse ligin ora, ke perassan meres poles messa sse ligin ora, oi, oi mana mou, oi, oi, mana mou.

So war Übersetzen für mich immer auch eine Überquerung, bei der es darauf ankam, den Fuß sicher aufs andere Ufer zu setzen. Übersetzen ist stets eine höfliche Angelegenheit - man muss sich negieren oder verschwinden können hinter dem Original oder sich darin verlieren lassen.

Als ich später begann, Bücher herauszugeben und selbst zu verlegen, war dies für mich die Weiterführung meiner übersetzerischen Tätigkeit mit anderen Mitteln - und zugleich die Loslösung von einem permanenten Schuldgefühl gegenüber meiner unbekannten Heimat Griechenland, die meinen deutschen Geist schon längst bewohnte.

Alles, was dann kam, Ritsos, Theodorakis, Seferis, Kavafis und vor allem die inoffizielle Edition "Bizarre Städte" in jenem bizarren Land DDR, war für mich die Behauptung eines lebbaren freien Raumes innerhalb eines vormundschaftlichen Staates, der Sieg meiner Phantasie über einen abgezirkelten und entfremdeten Alltag, ja, in gewisser Weise die Apotheose des Machens um des Machens willen. Ein Raum für vernarrte Individualisten und für das, was man gemeinhin mit "Kunst" umschreibt.

Im Land DDR gab es glücklicherweise viel derlei. Und ich wünschte mir schon damals, dass der Zufall oder die Neugier Leute, die sonst keine Berührung mit Kunst haben, mit solch einer fern-wehmütigen unirdischen Welt wie dieser konfrontieren mögen. Denn in einer Zeit, die keine positive Utopie mehr hervorzubringen vermag, sollte wenigstens das "Schöne und Wahre" erfahrbar bleiben, und sei es nur in Nischen - so wie früher und doch ganz anders. Für einen ausgekochten Pessimisten wie mich - und das meine ich ohne jede Koketterie – hat sich seitdem ohnehin grundlegend nichts an dem Umgang mit diesen Dingen geändert.

Außer dass meine Gedanken inzwischen Wurzeln schlugen in der anderen, der mediterranen Welt. In dieser spielen Phänomene wie "Seele" und "Empfindung", "Meer" und "Licht" eine ganz andere Rolle als im meist kühleren Deutschland, ja, sie sind fürs GERMANISCHE unübersetzbar.

Das Unübersetzbare nicht zu übersetzen, sondern den Text durch die Nase inhalieren und durch den Mund ausatmen – das ist es. Der Text leistet nicht nur keinen Widerstand gegen seine Übersetzung, sondern er ist geradezu eine Hure, bietet sich jedem an, gegen ein kleines oder größeres Entgelt, je nachdem.

Dieses Unübersetzbare wurde zum Problem und konfrontierte mich zunehmend mit einer immer stärker werdenden Erkenntnis: dass das Nach-Dichten dort anfängt, wo die wortgetreue Über-Setzung endet. Faktische Fehlerfreiheit entscheidet für mich nicht über die Qualität einer Nachdichtung.

Übersetzen besaß für mich stets eine lebensphilosophische Dimension, es war nie Ehrgeiz... Und so ist es nur zu natürlich, dass ich den Autor gesucht habe, um mich von seiner Persönlichkeit einnehmen, begeistern zu lassen – in gewisser Weise war er für mich wichtiger als der Text. Bevor ich übersetzte, traf ich immer den Autor, und wenn mich diese Begegnung elektrisierte und sich eine Beziehung aufgebaut hatte, übersetzte ich. Also nur, wenn ich ein Gefühl hatte, als würde ich zu einem Rock’n’ Roll-Konzert gehen... Wenn mich der Autor nicht „anmachte“, ließ ich’s bleiben. Ich traf u.a. Jannis Ritsos, Mikis Theodorakis, Odysseas Elytis, Maro Seferiadi, Dionissis Karatzas, Frau Engonopoulos. Das waren sehr inspirierende Treffen, und es entstanden inspirierende Bücher.

Irgendwann musste ich auch einsehen, dass das alte Vorurteil – dass Übersetzer und Lektoren verhinderte Autoren seien – irgendwie stimmte. Das trifft in gewisser Weise tatsächlich auf mich zu. Viel lieber als Übersetzer wäre ich Autor, aber mir fehlt die Phantasie oder mein Talent reicht nicht aus. Andererseits bin ich aber auch zu „wissend“, um etwas Schlechtes zu schreiben – so blieb ich im „literarischen Mittelmaß“ stecken und versuchte, gut zu übersetzen. Und jetzt, nach über 30 Jahren Übersetzungsarbeit und nach mehr als 30 übersetzten Büchern weiß ich eins: dass mich das „Übersetzen“ nicht interessiert.

© Asteris Kutulas

 

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Sehr geehrter Herr S.,

der Hanser Verlag hat mir Ihren Brief hierher nach Athen geschickt, obwohl ich seit einem Jahr wieder in Berlin lebe. Ich habe die Post erst jetzt bekommen, da ich gerade für ein paar Tage in Athen bin. Und ich beantworte sie gern, weil Ihr Brief immerhin eine Reaktion auf eine langjährige Arbeit von uns darstellt.

Ich möchte Ihnen erst einmal für Ihre Mühe danken, und das meine ich reinen Herzens. Da ich seit fast zwanzig Jahren aus dem Griechischen übersetze, weiß ich, welcher Anstrengung es bedarf, gerade solche Texte wie den von Ihnen kritisierten nach-zudichten und dann auch noch mit dem bereits getätigten Versuch eines Kollegen zu vergleichen. Leider habe ich hier weder das Buch noch das griechische Original. Aber ich will trotzdem auf Ihre Post eingehen, da sich für mich in Ihrem Brief ein grundsätzliches Problem offenbart, das auch mich seit zwanzig Jahren ständig beschäftigt. Ich möchte gleich zu Beginn festhalten, dass ich von allen Kritikpunkten Ihres Schreibens auf Anhieb nur einen einzigen als sachlichen Fehler anerkenne, nämlich dass das im pontischen Dialekt geschriebene ‚Cheras, der Sohn von Janikas’ nach Ihrer Auffassung richtig ‚der Witwe Sohn Janikas’ heißen müsste. Das werde ich in Berlin überprüfen und auch einen Spezialisten befragen. Falls Sie Recht behalten sollten, werden wir es bei einer möglichen Nachauflage verbessern. Dafür meinen Dank.
Alle anderen von Ihnen angemerkten Punkte sind von uns bewusst gewählte deutsche Entsprechungen und bewusst gewählte stilistische Entscheidungen.
Am deutlichsten wird dies bei ‚Polis’, einem Wort, das ich, wie Sie schreiben, in einer Anmerkung erkläre (: Konstantinopel). Und da es natürlich auch in meinem griechischen Verständnis – vielmehr als für Sie – absolut eins ist mit Konstantinopel, habe ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, dieses Wort so zu belassen, wie Kavafis es verwendet, eben als ‚Polis’, natürlich vor allem aus rhythmischen und metrischen Gründen. Dies nun, die sog. nonverbale Struktur des Gedichts, ohne die das Gedicht kein Gedicht wäre, scheint mir der springende Punkt unserer Diskussion zu sein.
Wissen Sie, welche für mich die besten deutschen Kavafis-Nachdichtungen sind? Es sind die von Adolf Endler, des einzigen Kavafis-Nachdichters, der kein Wort Griechisch spricht. Aber er ist eben ein moderner und dazu noch ein guter Dichter und trifft – meiner Meinung nach – haargenau die Grundintention von Kavafis, auch wenn ich ihm von sprachwissenschaftlicher Warte aus gesehen Dutzende von Fehlern nachweisen könnte.
Ein anderes Beispiel. Welche ist die von vielen Gräzisten zumeist kritisierte Sappho-Übersetzung ins Neugriechische? Die eines Dichters namens Odysseas Elytis. Und die hat er nicht als junger Mann, sondern erst im hohen Alter angefertigt. Er wusste also, was er tat. Und dass diese Herangehensweise kein Zufall war, sondern programmatisch, kann man in seinem Nachwort zu einem Buch mit seinen gesammelten Übersetzungen nachlesen.
Ich möchte mich weder mit Endler noch mit Elytis vergleichen, obwohl mir ersterer in gewisser Weise als Orientierung gedient hat. Ich wollte mit diesen zwei Beispielen (die sich beliebig fortsetzen ließen, z.B. mit den diesbezüglichen Äußerungen eines Stefan Hermlin oder Jannis Ritsos, die großartige Nachdichter waren, u.v.a.m.) nur auf den Grat hinweisen, auf dem wir uns bewegen zwischen den Polen der Interlinearübersetzung und der freien Nachdichtung. Wenn sich natürlich solche sachlichen Fehler einschleichen wie der obige, dann sollte man sie berichtigen. Aber das entscheidet für mich nicht über die Qualität einer Nachdichtung.
Wir wollten mit unserer Kavafis-Übertragung in erster Linie gute deutsche Texte schaffen. Die sich auch laut lesen lassen und dabei „schwingen“. So bei Kavafis. Bei uns wird diese ‚Tendenz’ noch dadurch verstärkt, dass Ina eine deutsche Lyrikerin ist (bald erscheint ihr zweites Buch) und sie die von mir einmal übersetzten Texte assimiliert und über Wochen in sich herumträgt. Ohnehin passiert nach deren erster Übertragung das eigentlich Faszinierende: Einmal übersetzt, löst sich der Text vom griechischen Original und beginnt sein eigenständiges deutsches Leben. Ein kleines Wunder, eine Genese.
Dann geschehen diese für Sie offenbar unverständlichen Dinge:
So ist das Wort ‚Slang’ genau das – übrigens auch aus rhythmischen Gründen (wir benötigten an dieser Stelle ein einsilbiges Wort) –, was wir ausdrücken wollten, und zufällig ist dies eine sehr schöne Stelle, an die ich mich sehr genau zu erinnern glaube, weil wir lange gebraucht haben, dort eine Lösung zu finden: ... der Gesang aus Trapezunt mit diesem seltsamen Slang ...
Und dass wir statt ‚und sich das Herz schlug’ etwas antikisierend ‚speiste mit Wut das Herz’ oder so ähnlich dichteten, hängt damit zusammen, dass wir einen klanglichen und stilistischen Kontrast, wie er auch bei Kavafis existiert, zwischen den beiden Ebenen des Gedichts erzeugen wollten. Ich finde das absolut legitim, ja notwendig, und semantisch im ‚grünen Bereich’.
Für ‚Romania’ habe ich bestimmt nicht ‚Stadt’, sondern wahrscheinlich wieder ‚Polis’ benutzt (bitte lesen Sie noch einmal nach), und das ist für mich die klanglich zwingende Variante, da das zunächst von mir gewählte Wort ‚Griechentum’ metrisch überhaupt nicht passte und ‚Romania’ lang erklärt hätte werden müssen. ‚Polis’ drückt nach meinem Empfinden das Gefühl der Sehnsucht aus, ist Symbol für das untergegangene Reich. Und auch die Klage fokussiert sich darauf. Es ist nicht das von Kavafis benutzte Wort, aber da der Sinn mir gewahrt schien, wollte ich an dieser Schluss-Stelle für den Leser keine erklärungsbedürftigen Rätsel aufgeben. Im übrigen bauen Sie Ihre ganze Theorie von der missverstandenen Pointe auf ein bewusstes Versehen auf, denn im Buch steht sicher nicht ‚Stadt’, wie Sie behaupten, sondern ‚Polis’. Und dieses ‚Versehen’ scheint mir bei Ihnen symptomatisch zu sein.
Was mich an Ihrem Brief ein wenig stört, ist, dass es von vornherein um eine Aburteilung des Buchs bzw. der Nachdichter geht (von der lehrerhaften Attitüde und dem geheuchelten Schluss-Gruß ganz zu schweigen). Es gibt Ihrerseits keine objektive Draufsicht, sondern ein großes Vorurteil, das ich mir nicht erklären kann und bedauerlich finde. Mir ist allgemein in den letzten Jahren aufgefallen, dass in der deutschen Presse als auch ‚intern’, wie z.B. in unserem Fall, die griechische Literatur von vielen Kritikern und zahlreichen Besserwissern (womit nicht Sie gemeint sind, Sie haben immerhin auch übersetzt) nicht literaturkritisch, sondern krümelkackerisch behandelt wird. Und das schadet mit am meisten der Rezeption der griechischen Literatur in Deutschland. Ich bin nicht gegen Präzision, sie ist sogar sehr wichtig, aber ich finde, persönliche Ressentiments und Neid haben nichts in Literaturdebatten zu suchen. Obwohl ich zugeben will, dass sie sich oft daraus speisen.
Sie können mir glauben, ich kenne am besten die Fehler – wenn auch nicht alle –, die sich beizeiten in meine Übersetzungen einschleichen, und immer wieder ärgere ich mich, dass ich sie nicht früher entdeckt habe. Und natürlich korrigiere ich sie, sobald dies möglich ist. Dabei haben diese Texte vier, fünf oder manchmal mehr Überarbeitungen erfahren. (Sieben Jahre brauchten z.B. meine Seferis-Essays, die bei Suhrkamp erschienen sind, drei Jahre die Ritsos-Essays, fünf Jahre die Theodorakis-Autobiografie etc. etc.) Das ist auf der einen Seite gut, sogar sehr gut, nämlich auf der ‚deutschen’, auf der anderen, der ‚griechischen’, kommt es sicherlich zu Distanzierungen, zu Entfremdungstendenzen. Darin liegt eine Gefahr. Aber auch die Herausforderung, die ‚griechische Seite’ nicht aus den Augen zu verlieren. Da haben es die deutschen Kollegen natürlich „einfacher“, die auf der Grundlage einer Interlinearübersetzung tun und lassen können, was sie wollen. Denn das Nach-Dichten fängt dort an, wo die wortgetreue Über-Setzung endet. Wir sollten schließlich bei alledem nicht vergessen, dass es immer um die Entdeckung eines Dichters geht, sobald man z.B. einen Verlaine-Text in die Hand nimmt. Und ich kann bestimmt in verschiedenen phantastischen Nachdichtungen von Verlaines Gedichten etliche sachliche Fehler finden, aber ich werde auch sagen müssen, dass es phantastische – Verlaine ebenbürtige – Nachdichtungen sind.
Ich verlange nicht, dass Sie oder jemand anders dies über unsere Nachdichtungen sagen soll, aber ich wünsche jedem Nachdichter, dass er vor allem nach solchen sprachlich-stilistischen Kriterien beurteilt wird. Und dass wir versuchen sollten, stets auch die Frage zu beantworten: Ist der Geist, die Seele des jeweiligen Gedichts in die Zielsprache herübergerettet worden? Und das vielleicht trotz oder gerade wegen einer gewissen Entfernung vom Original?

Mit meinen Grüßen

Asteris Kutulas

P.S.: An den Diskussionen über die Transkripition des Neugriechischen beteilige ich mich schon lange nicht mehr. Ich habe bereits in einem Nachwort zu einer Übersetzung von 1984 beklagt, dass es keine verbindliche und vereinheitlichende Regel dafür gibt. Diesbezüglich habe ich in den letzten Jahren so viel und so Unterschiedliches gehört, dass ich – genauso wie viele andere Kollegen – eigene Regeln aufgestellt habe. Vgl. Sie z.B. gewisse Texte von Frau Prof. Rosenthal-Kamarinea mit denen von Prof. Hans Eideneier und denen von Horst Möller ... Genauso gibt es in verschiedenen Antike-Lexika verschiedene Schreibweisen für altgriechische Namen. Im großen Pauly stehen oft drei oder vier verschiedene deutsche Schreibweisen für denselben Ort etc. etc. Wenn Sie die Macht hätten, alle auf eine einheitliche Schreibweise einzuschwören, wäre ich der erste, der diese befolgen würde.

 

 

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