Erinnerungen an meinen Vater

Herbst 1982. Diese Nachricht, jetzt, vor vierundzwanzig Stunden, beleuchtet alles (im kalten Licht der Vergänglichkeit) ganz anders. Alles, was man gemacht, gedacht, geschrieben, gewollt hat, bekommt eine neue Dimension: die der nüchternen Abrechnung. "Und du bereust alle, alle Tode ..."

Die schamlose Bitterkeit im Mund, beginne ich zu zählen: wie oft ich versäumte, mit ihm zu sprechen, mein Mitleid mit ihm, seine Hilflosigkeit. Bilder tauchen wieder auf, die ich längst vergessen glaubte. Unser Zimmer in Rumänien, die Nacht, in der wir zwei aus dem Fenster blickten; und die Welt war frisch und neu. Die Geburt meines Bruders. Der Gang zur Klinik; wir durften nicht hinauf, meine Mutter zeigte uns vom Fenster aus dieses winzige, lebende, atmende Wesen. Früher noch: schimpfte er uns aus, weil wir uns verspätet hatten. Man wollte mich auf dem Rummel für eine Fernsehaufnahme haben, und meine Mutter, ganz stolz, konnte sich nicht beherrschen und wartete auf meinen Einsatz. Ich glaube aber, schließlich wurde nichts daraus.

Der griechische Klub in Bukarest - ganz schwach in Erinnerung - mit seinem kleinen Garten, wo ich einen Song, ich glaube, von Jovanna, sang. Die Tänze meines Vaters auf Gläsern; einmal, als er nachts nach Hause kam, vollkommen betrunken; seine große Fahrt in die Schweiz, als wir schon in der DDR wohnten; das Zimmer des Krankenhauses, wo sie zu zweit lagen (der dritte war schon tot) nach dem schweren Unfall. Mosaikbilder, viele Mosaikbilder. „Und du bereust alle Tode ..."

Haften geblieben ist die Erinnerung an meinen Vater, 1970, in unserer Dresdner Wohnung, sein Haar, ergraut seit dem Autounfall in Rumänien, nach hinten gekämmt, seine große fliehende Stirn umrandend, die Zigarette in der linken Hand, durch die Zimmer hin- und hergehend, seine Sätze, undeutlich jetzt, verschwommen: Es gibt Verräter, sie haben die Fronten gewechselt, jene, die WIR groß gemacht haben. Eine tiefe Trauer, stimmt das?, in seinen Augen, nicht aber Unglauben, der, so meine ich jetzt, angebrachter gewesen wäre, vielleicht. Der riesige Radioapparat mit dem eingebauten Schallplattenspieler spie krächzende Laute, wir hatten ihn seit zehn Jahren und noch nie die Nadel gewechselt, nur abends, 20 Uhr, wenn BBC Nachrichten in griechischer Sprache brachte, der Fernseher leise gestellt werden musste, schien er sich selbst übertreffen zu wollen, mein Vater, auf dem Sofa sitzend, redete ihm zu, mit der rechten Hand am perlmutternen Knopf drehend, ihn streichelnd, meinte ich oft.

Vaters Alpträume
Parnass, Berg der dort nicht gelebten Kindheit, meiner ungedeuteten Träume Traum, Alp des Vaters, der hier Feinde morden musste. Wer spricht und will was wissen von der Qual, eine Kehle durchzuschneiden, da Kugeln fehlten und die Nähe feindlicher Patrouillen Erschießungen nicht zuließ? Wer von Denunziation und Raub? Hell leuchtet der hellenistische Gedanke von Sikelianos über den Trümmern des Hauses. Davor des Dichters Marmorbüste mit einem verwelkten Lorbeerkranz. Im Sommer des Jahres 1979 stand ich vor ihr und ein Foto blieb. Keine Fotos aber aus dem Jahr 1944, als Griechen meinen Vater festnahmen und ihn folterten. Sein Vater musste zuschauen, und hilflos durch die Jahrzehnte äugend, beobachte ich die Szene. Meinem Gedächtnis die Wurzeln ausreißen, nichts weiter bleibt zu tun. Durch die Stadt hetzen, Dresden. Kopfschmerzen, sinnloses Umherirren. Leere. Welche Beziehung gibt es zwischen einem Zigeunersteak und der Typhuserkrankung meines Vaters im Jahre 1944? Damals war er schon Mitglied der Partei, doch musste ihn der Onkel in seinem Fischerboot nach Athen bringen, zu einem Arzt. Daran denkend, trinke ich in der Speisebar am Dresdner Altmarkt ein Radeberger Bier und wische mit einer Serviette über den Fettfleck auf meiner Hose. Nicht weit von hier, im Hauptbahnhof, erzählte mein Vater vom Partisanenleben, vom verzweifelten Mordberuf – und romantisch bricht sich in meinem Kopf der Weltkampf der Guerillas, Rolf Hochhuth, und das Bolivianische Tagebuch in der Innentasche meiner Jacke. Und dann laufe ich durch Dresden, über die Prager Straße, wo junge Mädchen auf den Strich gehen.


22.04.84, Sernikaki (Heimatdorf meines Vaters)
Vergangene Mitternacht, vom Sonnabend zum Sonntag die Auferstehung. Zum erstenmal ereignet sie sich ja bereits um 10.00 Uhr früh und dann noch einmal Mitternacht – für alle, die es erst dann wahrhaben wollen. Waren 23.30 Uhr in der Kirche, in der die Leute dichtgedrängt standen, um 24.00 Uhr wurden alle Lichter gelöscht. Dann kam der Pater mit der Flamme Gottes (Kerze), an der alle anderen Kerzen entzündet wurden. Vor der Kirche Feuerwerk.
Gestern Abend fuhren wir nach Itea zu Nitsa, Jannis, Wassilakis, anschließend zurück ins Dorf. Gespräch mit Jannis über Politik. Überhaupt – Griechenland machte in diesen vier Tagen gewaltige Schritte auf mich zu! Und besonders die Menschen. Aber das hängt irgendwie mit mir zusammen, mit meiner jeweiligen Stimmung.
Heute mit Asterinos und Janoula nach Delfi, nachmittags nach Amfissa und nach Itea (am Strand Steine für Ina gesammelt).
Abends Besuch von Titsa und Familie, Geschichten über meinen Vater:
- 1942 wurde er mit 15 Jahren Mitglied der antifaschistischen EAM-Bewegung, und zwar in deren Jugendorganisation.
- 1943 Festnahme durch griechische Nazikollaborateure, Kerkerhaft und Folter. Gefoltert wurde er vor den Augen seines Vaters von einem Griechen, bis sich ein deutscher Offizier erbarmte und den 15jährigen vor Schlimmerem bewahrte. Der Folterer wurde später während des Bürgerkriegs hingerichtet.
- Im Kerker erkrankte Vater an Typhus. Aus der Krankenstation konnte er mit Hilfe eines Verwandten fliehen, der ihn heimlich in seinem Boot nach Athen brachte ...
Zum ersten Mal sah ich meinen Vater so vor mir, wie er damals war – blutjung.

Die deutschen Besatzer legten die Saat, die später aufging und in den Bürgerkrieg (1946-49) mündete. Wieder zog mein Vater in die Berge als Partisan, diesmal gegen die eigenen Landsleute, die unterstützt wurden von den Briten, später von den Amerikanern.


21.8.84, im Flugzeug nach Athen
Vielleicht jene „Berichte“ meines Vaters, Anfang der 70er Jahre, als er mir 12- oder 13-Jährigem auf dem Dresdner Hauptbahnhof zum letzten Mal ausführliche Geschichten vom Krieg der Partisanen gegen die deutschen Okkupanten erzählte. Wir waren den Weg von unserer Wohnung in der Zöllnerstraße nahe dem Fetscherplatz bis zum Bahnhof gelaufen, die nächtlichen Straßen wie leergefegt, und ich erinnere mich noch genau des heroischen Gefühls, das mich überkam, als wir einfach mitten auf der Fahrbahn nebeneinander her gingen und ich so etwas wie neue Möglichkeiten und sporadische Freiheit zu erahnen glaubte. In der Bahnhofshalle warteten wir auf die Ankunft eines Zuges, der viel Verspätung hatte, wir spazierten auf dem Bahnsteig auf und ab und Vater erzählte von lustigen und traurigen, ja schrecklichen Begebenheiten, was mich jetzt im Nachhinein wundert. An eine erinnere ich mich noch genau, da war die Rede von einem Überraschungsangriff der Deutschen auf eine Proviantkolonne der Partisanen, die sich in einem Wald verstecken mussten. Der Wald wurde von den deutschen Soldaten abgeriegelt, die in den nächsten Tagen darangingen, ihn mit Flammenwerfern niederzubrennen. Von dem Gehörten grub sich mir tief ins Gedächtnis, was das Leben der Partisanen in diesen Stunden am meisten bestimmte: Das eine war der Hunger, das andere die menschlichen Beziehungen.

Die Erinnerung: Als mein Vater starb, empfand ich keinen "Schmerz". Allein ein anderes Licht fiel auf alles, was mich umgab. Auch der Schmerz der Mutter, der ratlose Ausdruck in meines Bruders Gesicht, nein, wirklich keine Leere darin, eher Verwunderung und Unmut, vermochten nicht, mich abzulenken von dieser neuen Sicht auf die Dinge. Eine eigentümliche Transparenz hatte sich über die Häuser, Mauern, über die sanften Berge im flimmernden Mittagsschein gelegt, ja selbst über die Gesichter der Verwandten, Fratzen, Grimassen, die zu den Trauerlichkeiten gekommen waren, gelegt. Aber auch das Begräbnis und alles, was davor passierte, nahm ich nicht mehr wahr. Nur in der Magengegend noch eine gewisse Übelkeit, die jahrelang anhielt...

© Asteris Kutulas

 

 

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