Agamemnon, Iphigenie & ich

Der Machtanspruch Agamemnons/ Die Machtansprüche der anderen achaischen Könige/ Einer Bettgeschichte wegen 1.146 Boote mit 50.000 Mann an Bord/ Troja/ Wirtschaftskrieg/Zufahrt zum Schwarzen Meer/ Zermürbung/ Blockaden/ Seekrieg/ Die Rohstoffarmut Mykenes/ Strategische Positionen/ Manöver/ Verhandlungen/ Erdbeben/ Und alles und jedes ein neuer Anfang eines neuen Endes/ Innere Zwistigkeiten/ Räuberische Überfälle/ Endlose Wanderbewegungen/ Der Untergang Mykenes.

Zeus, vordem ein launischer Wettergott, avancierte zum Chef auf dem Olymp und zeigte den Menschen, was gehaun und gestochen war/ Die Opferung Iphigeniens durch den eigenen Vater/ Die Ermordung des Vaters durch die eigene Frau/ Die Ermordung der Frau durch den eigenen Sohn/ Endloses Morden in einer Filmkomödie/ Jedes Zeitalter hat sein Troja - und, was viel schlimmer, sein Mykene...
Das "Schlachthaus" löst in mir
Das "Schlachthaus" löst in mir
Das "Schlachthaus" löst in mir/Erschauern nicht aus./Woher wir kommen, dachte ich.


In den Mythen spielten die Götter Schicksal, Ächtende und Retter. Was konnte Iphigenie "für die ganze Geschichte"? Sie wurde erlöst mit der Chance auf Rückkehr. Zuvor aber sprach sie mit sich allein. Besser als einsam unter Blinden. Sie wurde immer vor Wahnsinn bewahrt, einmal, als sie den Menschen genommen, einmal, indem sie zu ihnen zurückkehrte. Revival. Gehen und kommen, unabänderlich. Daß die Einsamen ihr Publikum suchen und jeder im andern das Andere, sich selbst. So muß Iphigenie ihre und die Geschichte aller als fatalistisches Ausgeliefertsein an fremde Mächte empfinden, die eigene als ent-fremdete Geschichte. Denn schon immer fielen Menschen auf Geschichten herein, wenn sie deren Bilder nicht zu deuten, wenn sie das Märchen nicht als Fiktion zu erkennen wußten, die Maske nicht als Maske begriffen. Ob es der Dumme, der Neu- oder Wißbegierige ist, die sich verführen lassen, ist Dreierlei.
Das Rot – das Rot, mit dem Klytämnestra die Lippen färbte, das Blut, das verspricht und verlangt, immer die Liebe im Tod und Tod in der Liebe, das Rot, mit dem später die Tochter Iphigenie ihre Wangen (oder Lippen?) färbte, sich selbst in Trance zu versetzen, in den Traum, die Illusion, zeitweilige Wirklichkeit, das Rot, auf das Agamemnon die Füße setzte, das ihm so tief ward – er meinte, darin zu versinken –, ein Alp dieser Tod. Doch vermochte Agamemnon von seinem bisherigen Selbst als erfolgreicher Feldherr abzusehen, als er dem Tod ins Auge sah, diesen voraussehend, als er sich selbst das erste Mal entdeckte, wiederentdeckte, nachdem er die Maske, den Helm, abgenommen. Agamemnon müde, geläutert. Agamemnon nackt im Bad. Zu spät. Und Klytämnestra entwürdigt, beherrscht, selbstbeherrscht – zu spät. Alltägliche Psychogramme des 20. Jahrhunderts. Das Schicksal trinkt immer zweimal vom Blut; der eine Schluck sauer, der andere süß, und nie weiß man, welcher der tiefere ist.
Nie kann man wissen, meint man. Nie weiß der Mensch. An dieser Stelle die Frage: Was alles? bedeutet erneut das Unabwendbare des Unabwendbaren, da jede Antwort wieder eine Frage provoziert, Schmiermittel im Getriebe, das unaufhörliche Wechselspiel zwischen Zufall und Notwendigkeit. Iphigenie blieb notwendig allein, da sie zufällig erkrankte und Pickel bekam und deshalb gemieden wurde. Patroklos kam zufällig im Kampf ums Leben, notwendig, damit Achill wieder in die Schlacht zog. Iphigenies Tod schien notwendig, damit Wind aufkam, der Wind, notwendig ausgeblieben auf Artemis' Geheiß hin, die notwendig zornig war, weil Agamemnon in ihrem Wald eine Ricke erlegt hatte (weshalb Iphigenie später notwendig die Maske einer schönen Ricke zur Karnevalszeit bekommt). Zufällig hatte Agamemnon ein wenig Zeit, sie sich zu vertreiben, und zufällig war es eine Ricke der Artemis; in diesem Wald aber notwendig eine der Artemis, denn ein Jedes war dort das ihre. Diese Zufälle – wer weiß, kennt das ewige Für und Wider. Der Nackte. Der Einsamste. Ist allein und kommt nicht weiter.

Iphigenie, entrückt, verlassen, nicht anwesend in der Hülle der Statue auf dem Sockel, spricht und verkündet. Einen gewaltigen Krach wolle sie schlagen. Rückkehren. Nicht nur von Tauris. Damit jene endlich sähen. Rückkehr "aus ihrer schönen Anonymität", auf den großen Platz, zurück in die Menge, der einst sie entrissen wurde. Durch die Menge gehen, von einer Einsamkeit zur nächsten, zwingenden. Und zwingend ebenso die Menge, der Korridor, die Widerrede und die winzige Chance auf Trost in einer trostlosen Welt. Die Nicht-Sehenden sehen lassen, um durch sie sich selbst zu erkennen. Obwohl Iphigenie behauptet, sie sähen nicht, verzeiht sie nicht deren Verrat, deren Blindheit oder bewußtes Weg-Sehen, also Sehen, wohin auch immer: Ritsos geht mit sich, dem "Nicht-Helden", wie Agamenon bei Ritsos sich bezeichnet, und den anderen "Nicht-Helden" erbarmungslos ins Gericht: "Ich mußte den Heroismus der anderen preisen, um meine Dankbarkeit darüber, daß ich noch lebte, zu überspielen, ich, der Nicht-Held". "Die anderen" sahen sehr wohl – nur wie durch eine Wand aus Glas, die "ideologische" Brille. Iphigenie dahinter (oder davor) isoliert, allein. Und entrückt. Denn der Einsame droht ver-rückt zu werden. Das einzige Mittel dagegen ist, nach innen zu schauen, "immer tiefer nach innen". Das tun alle drei. Chrysothemis, die "Unscheinbare", die Inkarnation des Nach-innen-Sprechens. Iphigenie, die "Kranke unter Beaufsichtigung Dritter". Agamemnon, der Sieger von Troja, der sich selbst demontiert, ein menschliches Wrack. In allen drei Monologen ist das Schicksal vorausbestimmt, der Fatalismus der Geschichte das Bestimmende. Und bedeutet die Rückkehr der Iphigenie eine Ankunft in einer Welt der Verinnerlichung, in der lauen, trostlosen Einsamkeit des Mythos, so bedeutet die Rückkehr von Agamemnon eine im Tod.

© Asteris & Ina Kutulas

 

Als ich Anfang der achtziger Jahre solcherart in den Bann mythologisierter Weltanschauung geschlagen war, gabs kein Entrinnen mehr. Wie schön, dass ich bei meinem großen Lehrer Jannis Ritsos ein Betätigungsfeld fand, der meinen intellektuellen Drang kanalisierte:

Jannis Ritsos. Agamemnon. Mit Original-Illustrationen des Autors, Herausgegeben und übertragen von Asteris Kutulas; editions phi, Echternach 1990 (1993)

Mein luxemburger Freund Guy Wagner, hatte mich 1982 mit Francis van Maele aus Echternacherbrück zusammengebracht, der nicht nur Verleger und Fotograf, sondern auch ein veritabler Siebdrucker war, mit dem ich einige tolle Buch- und Kunst-Projekte in den achtziger Jahren verwirklichen konnte.
Francis, du stiller Asket, geniesse den irischen Guiness und den irischen Whiskey und lass es dir gut gehen. Hoch lebe die Siebdruck-Kunst. A.K.

 

 

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