Begegnung mit Jannis Zaruchis

September 1983. Im Gespräch mit Zaruchis. Die Elegie seiner Worte nimmt mich gefangen: „Alle Griechen, wenn sie dem Zustand ihrer Ursprünglichkeit treu bleiben, sind Humanisten. Wenn sie sich von einer fremden Theorie beeinflussen lassen, verlieren sie im selben Maße ihr inneres Gleichgewicht. Kazantzakis wollte den Humanismus überwinden, um zum Nihilismus zu kommen. Ich weiß nicht, ob er es geschafft hat. Wie der Afrikaner von Natur aus dunkel ist, so ist der Grieche Philosoph und Humanist, ohne diese Eigenschaften zwangsläufig ausgebildet zu haben, er hat aber die Voraussetzung dafür, dies zu tun."

Ich befragte Zaruchis zu seinem Bild „Der Heilige Sebastian", diesem pfeildurchbohrten, sich langsam in den Tod windenden Körper. „Der Heilige Sebastian bleibt trotz der Bedrohung ein schöner Mensch, der sich nicht fürchtet. Er steht über dem Tod, er ignoriert die blutigen Pfeile. Das ist der Zweck von Kunst: die Ewigkeit des Menschen zu offenbaren. Denn es gibt andere, die glauben, dass der Mensch eine Schöpfung des Teufels und Gott selbst der Teufel ist. Also verachten sie den Körper, denn wenn er Teufels Werk ist, lohnt es nicht, ihm zu huldigen. Aber für jene, die glauben, dass der Mensch Gottes Sohn ist, hat dessen Körper etwas Göttliches, selbst wenn er leidet. Das symbolisiert auch die Kreuzigung. Die Schönheit und das Leben triumphieren, über den Tod hinaus. Das sind jedoch metaphysische Überlegungen, und wenn ich male, dann denke ich nur an die Organisation der Farben. Die Philosophie entsteht dann daraus, ich entwickle sie nicht vorher. Ich habe kein expressionistisches Bild gemalt, weil das eine andere Aussage bedeutet hätte. Der Heilige Sebastian glaubte an den Schmerz, an das Unglück und daran, dass daraus Kraft zu schöpfen ist. Während die griechische Auffassung darin besteht, dass es kein Unglück gibt, wenn wir fest glauben. Die Geschichte hat doch sehr viel Heilige Sebastiane hervorgebracht. Wir sehen, wie die Byzantiner Christus dargestellt haben. Als würde er schlafen. Nicht aus Feigheit davor, den Tod zu zeigen, sondern weil sie an das Göttliche im Menschen glaubten."

Kutulas: Herr Zaruchis, wie sind Sie überhaupt auf die Idee zu diesem Bild gekommen? Können Sie mir dessen Geschichte erzählen?

Zaruchis: Einmal, im Louvre, sah ich ein Gemälde eines Deutschen aus dem 16. Jahrhundert, auf dem der Heilige Sebastian nackt in der Mitte des Bildes stand und links und rechts die beiden Soldaten in Rüstungen. Und ich fand, es wäre eine gute Idee, den Heiligen Sebastian mit zwei griechischen Soldaten zu malen, die ihn töten. Das hatte einen bestimmten symbolischen Gehalt. Damals waren bei uns die Militärs an der Macht. Also, ich fand einen griechischen Dichter, der wie ich im Pariser Exil lebte, weil er sonst Gefahr gelaufen wäre, 20 Jahre im Gefängnis verbringen zu müssen. Ich bat ihn, Modell zu stehen. Für die beiden Soldatenfiguren und für den Heiligen Sebastian ebenso. Dadurch bekam das Werk ganz von selbst eine symbolische Bedeutung. Dass der Mensch den Menschen tötet. Und der Soldat, der den Heiligen Sebastian mordet, mordet sich selbst. Es war das erste Mal, das ich mich mit diesem Thema beschäftigte, mit dem sich alle möglichen Maler seit der Renaissance schon auseinandergesetzt hatten.

Kutulas: Was symbolisierte der Heilige Sebastian für Sie?

Zaruchis: Geschichtlich gesehen war der Heilige Sebastian Polizeibeamter und seine Arbeit bestand darin, die Christen davon zu überzeugen, eine Erklärung zu unterschreiben, die besagte, dass sie an die herrschenden Idole und natürlich auch an den Herrscher glaubten, der sich selbst zum Gott erhoben hatte. Dieser Sebastian aber ging, wie viele andere Heilige auch, wie der Heilige Giorgos oder Dimitris, zu denen, die er ob ihres Christentums verurteilte und riet ihnen, nicht zu unterschreiben. Die Herrschenden ließen die Familien zu den Gefängnissen bringen und drohten: „Unterschreibt! Bedenkt, was sonst aus euren Kindern, aus euren Häusern wird ...“ Und viele wurden wankelmütig und unterschrieben. Der Heilige Sebastian aber half ihnen. So wurde bekannt, dass er gegen die Anordnungen der Herrscher handelte und seine systemtreuen Kollegen erprobten ihre Schießkünste an ihm, so dass sein Körper bald ganz von Pfeilen übersät war. Wie eine griechische Version dieser Legende berichtet, war er zu einem Igel geworden. Er wurde bewußtlos, und alle dachten, er sei tot. Aber einige Jungfrauen nahmen sich seiner an, darunter die Heilige Irene. Sie brachten ihn in ein Haus und zogen alle Pfeile aus seinem Körper. Der Heilige Sebastian kam wieder zu sich. Die Römer erfuhren, was passiert war, kamen und erschlugen ihn mit Keulen wie denen von Herakles.

Kutulas: Wie kommt es, dass Ihr Bild bei Jannis Ritsos hängt? Wir haben ihn gestern besucht und Ihr Bild bei ihm zu Hause bewundert. Warum haben Sie es ihm geschenkt?

Zaruchis: Zu der Zeit, als mir der Dichter, von dem ich eingangs erzählte, in Paris Modell stand, hatte ich meine Brille verlegt und kein Geld, eine neue zu kaufen. Ich beschloß deshalb, das kleinformatige Bild, das ich fertig hatte, zu vergrößern, das Bild also Stück für Stück noch einmal großformatig zu malen. Für größere Formate brauchte ich nämlich keine Brille. Dieses Bild vollendete ich dann, in Übergröße, während das Original nur 1,30 m hoch und 90 cm breit ist. Es gibt dazu noch eine weitere Geschichte. Zusammen mit vielen meiner Skizzen und anderen Bildern wurde es von einem Griechen gestohlen. Der schnitt es in vier Teile. Das Werk ist also im Ganzen nicht mehr erhalten, sondern so nur noch auf einem Foto zu sehen. Und an den Teil, der gerettet wurde, klebte ich dann andere und malte das Bild noch einmal neu.
Ritsos hatte den Leninfriedenspreis erhalten und besuchte mich. Das Bild mit dem Heiligen Sebastian gefiel ihm sehr. Es war mit Reißzwecken an die Wand geheftet, und man sah, daß es aus vier oder fünf Teilen bestand. Ein Spezialist klebte diese Teile dann zusammen und sie wurden zu einem Bild. Und weil es noch unfertig war und Jannis es schnellstens haben wollte, vollendete ich es bei ihm zuhause. Er hatte Angst, daß ich es mir anders überlegen könnte und schließlich nicht hergeben würde.

Kutulas: War es ihm so wichtig, dieses Bild zu haben? Warum gefiel es ihm?

Zaruchis: Seiner Meinung nach war es ein gutes Bild. Ich selbst behielt das kleinere, das Original, nach dem das große entstanden war. Es gibt noch eine weitere Studie. Ich habe unzählige Studien gemacht, oft die Modelle wechselnd. Aber jenen Griechen, der mir in Paris Modell stand, der in Griechenland Gefahr gelaufen wäre, verurteilt zu werden, bevorzugte ich. Weil er dem Mythos seltsam nah war.

Kutulas: Wann lernten Sie Ritsos kennen?

Zaruchis: Ritsos lernte ich 1941 kennen. Alle Künstler, Schriftsteller und Musiker gingen ins Archäologische Museum, in den Saal, wo heute die mykenischen Goldschätze stehen. Damals war er voller Kopien von minoischen Wandmalereien. Heute ist er weiß getüncht. Vor den Bildern teilte man Erbsensuppe aus, oder besser gesagt Wasser, in dem Erbsen gekocht worden waren. Dort sah ich auch Sikelianos, der zwei, drei mal dorthin kam. Viele ältere Leute wurden vor Hunger ohnmächtig. Oft gab es Streitereien, weil einige mehr Essen wollten. Es waren schwierige Zeiten. Nachdem wir das Essen in Konservenbüchsen bekommen hatten, gingen wir zu Ritsos in die Wohnung und unterhielten uns über verschiedene Dinge. Sowohl bei mir als auch bei ihm war das der Anfang von vielem, was wir später gemacht haben. Ob auf dem Gebiet des Theaters, des Kinos oder der Dichtung. Wir sprachen viel über Theater, über Ballett.

© Asteris Kutulas

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Hier noch ein Auszug aus einer Rede von Janis Zaruchis aus Anlaß einer Ausstellungseröffnung mit Bildern von Jannis Ritsos: „Ich erklärte mich bereit, hierher zu kommen und einige Worte über die sichtbare Arbeit von Jannis Ritsos zu sagen, weil ich schon seit einigen Jahren seine gesegnete Einsamkeit bewundere, die Einsamkeit des Dichters, die ihn mit unzähligen anderen Seelen verbindet, die Einsamkeit der Selbsterkenntnis, die uns den andern, der in uns ist, begreifen lehrt, den wirklich andern, der sich jenseits von uns befindet. So ist es. Mich erstaunt nicht, daß Ritsos zeichnet, malt oder den verborgenen Geist in den Steinen und den Wurzeln des Schilfrohrs entdeckt und befreit – ihr unsichtbares, verstecktes Geheimnis. Seine Dichtung ist voller wuchtiger Linien, aber auch voller verschiedener Materialien, Farben, Empfindungen. Unzählige Gefühle, tiefe und elementare, eine wahre Schatzkammer der feinsten Gefühle: glänzende, blendende, seidene, wollene, metallene, modrige, vertrocknete, blühende Gefühle. Schließlich eine Menge sehr präziser Gefühle, die nur die reine Seele der Kinder vollkommen begreifen kann. Ich kenne diese Gefühle, die in seinen Anachronismen stecken ... Eine ganz eigene Sicht auf das antike Griechenland, um die ihn alle beneiden werden, die ähnliches wollen. Sein Thema ist, was er auch gezeichnet und gemalt hat, immer dasselbe: die menschliche Gestalt, die gegen die Grausamkeit der Welt kämpft, um am Ende selbst grausam, ungeheuerlich und unbarmherzig zu werden. Aber in Grausamkeit und Härte existiert, wie ein Funke in der Asche, die ehrliche Liebe und, gleich einem aufleuchtenden Blitz, der Eros ...“

Und hier aus einem Text von Ritsos über Zaruchis: „Die Weisheit von Zaruchis ist nicht theoretischer, sondern körperlicher Natur. Sie ist subjektiv objektiv. Er geht niemals von der Absicht aus, die Elemente zu entdecken, die die griechische Kultur von der Antike bis zu unseren Tagen vereinen und uns diese Einheit mit Hilfe irgendwelcher Argumente beweisen. Nein. Diese Einheit verinnerlicht und verwirklicht er in seinem Werk durch eine einzigartige; natürliche Darstellungskraft, die eine allgemeinmenschliche Bedeutung und Wertigkeit erlangt – etwas, das das Wesen des Griechentums war und bleibt.“

© Übersetzt von Asteris Kutulas

 

Jannis Zaruchis war seit den dreißiger Jahren einer der bedeutendsten Maler Griechenlands. Ich besuchte ihn Anfang der achtziger Jahre mehrmals in seiner Villa in Maroussi. Es war das märchenhafte Haus eines alten, weißhaarigen Künstlers, mit einem Riesenspinnenweben im Eingangsbereich – dem größten Spinnenweben, das ich je in meinem Leben gesehen habe –, mit vielen schönen jungen Männern, die das ganze Haus bevölkerten, den Maler inspirierten und ihm Modell standen. Eine Lithographie („Der Eros gegen den Krieg“), die er mir schenkte, stellt mehrere nackte langhaarige Jünglinge dar, bekleidet nur mit schwarzen Stiefeln, nachdenkliche Wesen mit Schmetterlingsflügeln. Oft, wenn ich dieses Bild anschaue, muß ich an Jannis Zaruchis denken, wie er zwischen seinen hunderten von Drucken, Büchern und Malereien verharrte und erzählte. A.K.

 

 

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