… aus einer anderen Welt …

Gespräch mit Nikiforos Vrettakos über seine Freundschaft zu Jannis Ritsos


Kutulas: Herr Vrettakos, Sie gingen mit Jannis Ritsos hier in Gythion aufs Gymnasium?

Vrettakos: Ja. Damals, Anfang der zwanziger Jahre, war manches hier anders. Das Gymnasium, ein schönes neoklassizistisches Gebäude, hatte nur ein Stockwerk. Der Schulhof war bepflanzt mit Weiden und anderen Bäumen, deren Blüten im Frühjahr ein wunderbares Aroma verströmten. Als ich vor einigen Jahren nach Gythion zurückkehrte, zusammen mit Ritsos, um den Veranstaltungen im Antiken Theater, die man uns zu Ehren durchführte, beizuwohnen, stellten wir fest, daß es die Weiden nicht mehr gab. Außerdem fiel uns auf, daß die ganze Stadt sich überhaupt nicht verändert hatte, sondern die Zeit hier stehengeblieben war. Daraufhin schrieb ich ein Feuilleton über die Weidenbäume im Hof. Wir hatten das eingebüßt, was mit unseren Erinnerungen verbunden war.

Kutulas: Wo wohnte Ritsos hier in Gythion?

Vrettakos: Auf der Insel Kranai, im sogenannten Turm von Tzanetakis. Von dort kam er zu Fuß zum Gymnasium. Diese Insel ist durch eine Mole mit dem Festland verbunden, man kann auch mit dem Auto hinfahren, und natürlich war es ein idealer Ort, wo Ritsos seine ersten Gedichte schreiben konnte.

Kutulas: Erinnern Sie sich an den Ritsos jener Zeit?

Vrettakos: Ich besuchte die 1. des vierklassigen Gymnasiums und Ritsos die 4. Ich war jünger als er. Ich erinnere mich seiner so genau, weil er sich von den anderen Jungen unterschied. Er war ein höflicher, schmächtiger, zerbrechlicher Junge, der sich mit keinem der anderen Kinder anfreundete, sondern immer nur mit seiner Schwester Lula zusammen war, für die er später das schöne Gedicht "Lied meiner Schwester" schrieb, und außer mit Lula nur noch mit einem anderen Mädchen, einer Verwandten von ihm, der Tochter des Prälaten, wie die Leute sagten. Ich sah ihm zu, wie er immer hier am Kai spazierenging, und eines Tages hörte ich seine Mitschüler sagen: "Jannulis schreibt Gedichte." Das überraschte mich, denn auch ich schrieb Gedichte. Allerdings war in meiner Klasse kein einziger Mitschüler, mit dem ich hätte zwei, drei Worte wechseln können über die Dichtung, über die Bücher, die ich las – in dieser Gegend gab es kaum Intellektuelle –, und darum wünschte ich sehr, Jannis näher kennenzulernen, um Gedanken auszutauschen, wie zwei Menschen aus einer anderen Welt und nicht derjenigen zugehörig, zu der wir tatsächlich gehörten, die uns umgab. Leider hinderte mich meine damalige Schüchternheit, zu ihm zu gehen und zu sagen: "Weißt du, du schreibst Gedichte, ich schreibe auch. Laß uns miteinander reden, Bücher austauschen, Freunde werden." Das Jahr verging, und Ritsos verließ das Gymnasium, um nach Athen zu ziehen. Dort trafen wir uns später wieder, beide im Kampf ums tägliche Überleben, denn wir beide stammten aus Familien, die einmal ökonomisch unabhängig gewesen, später aber finanziell ruiniert und in tiefes Elend geraten waren. Ich konnte erst nach einer Spendensammlung meines Dorfes Kroke nach Athen umziehen. Dort traf ich also Ritsos, und von da an entwickelte sich zwischen uns eine Art Liebe, die, so würde ich sagen, im Leben zweier Menschen, zweier Reisegefährten einzigartig war.

Kutulas: Er arbeitete 1934, 1935 als Tänzer ...

Vrettakos: Ich erinnere mich an Ritsos als Tänzer am Nationaltheater. Ein schmächtiger Mann, der tanzte. Hätte jemand seine psychische Welt gekannt, so würde er in seinen Augen und Bewegungen ihre gesamte Tragik erkannt haben. Ich erinnere mich auch an sein Zuhause in der Methoninstraße, ein einfaches, kahles, feuchtes und eiskaltes Zimmer mit notdürftiger Möblierung. Ich ging dorthin, um mich mit Ritsos zu unterhalten. Und wir sprachen miteinander, beide ohne große Hoffnungen. Er hatte das Pech, sehr oft krank zu werden, ins Sanatorium "Sotiria" zu müssen, das ein Krankenhaus für Tbc-Fälle war. Bei Ritsos erreichte die Krankheit das letzte Stadium. Er rechnete damit, jeden Moment zu sterben. Aber er schaffte es mit Hilfe einer gewissen Kraft, die er in sich spürte, den Anfechtungen dieser Krankheit wie auch den gesellschaftlichen zu widerstehen. Diese Anfechtungen waren nicht nur solche wegen unserer Armut, sondern es handelte sich gewissermaßen auch um organisierte Anfechtungen. Die Gruppe von Dichtern um Seferis, Elytis usw., die ihre eigenen Kritiker hatte, stand uns eher feindlich gegenüber, denn unsere Bücher verkauften sich gut. Schon damals.

Kutulas: Erinnern Sie sich an Begebenheiten mit Ritsos?

Vrettakos: Ich sehe Ritsos noch vor mir, krank, im "Sotiria", als ich ihn besuchte. Eine schwierige Situation, und ich empfand eine sehr, sehr große Trauer, als ich ihn in solch einer Verfassung sah. Sehr schnell, wie ich schon sagte, hat er dann die Krankheit abgeschüttelt, und 1935 war er völlig gesund. Wir bildeten einen Freundeskreis, gingen in Tavernen, tranken Wein, rissen Witze, und dann, 1937, veröffentlichte Ritsos "Das Lied meiner Schwester" und ich "Die Epistel des Schwans", Gedichte, die damals Eindruck machten, die meiner Meinung nach völlig grundlos von der Kritik in einen Zusammenhang gebracht wurden, und man begann zu forschen, wer wen beeinflußt haben mochte. Ich Ritsos oder Ritsos mich? Mit Spekulationen fing es an, und das Ergebnis war, daß wir beide durch diesen eigentlich unsinnigen Vergleich, den man zwischen uns angestellt hatte, bekannt wurden. Denn natürlich hat man uns miteinander in Beziehung gesehen, als gesellschaftlich engagierte Dichter, wobei aber die Gedichte von Ritsos vollkommen anders waren als die meinen. Ich hatte einen Fehler gemacht, uns nämlich als Dichter als Einheit zu nennen. Und dieser Fehler war die Ursache dafür, daß wir auf einmal sehr bekannt waren, obwohl wir nie die Mittel gehabt hätten, populär zu werden. Uns standen nicht, wie anderen, Zeitschriften zur Verfügung. Geld hatten wir nicht, keine Beziehungen, gehörten keinem Kreis an. Wir gehörten einfach nicht zum Establishment.

Kutulas: Gab es gemeinsame Erlebnisse, die sie zusammengeführt haben?

Vrettakos: Der Widerstand während des 2.Weltkriegs war ein solches gemeinsames Erlebnis, dann unser politischer Standpunkt, all das spielte eine Rolle. Ich weiß nicht, in welchem Maße all diese Dinge zusammenwirkten, daß so eine Beziehung zwischen uns entstehen konnte. Auf jeden Fall aber trugen wir diese Liebe seit der Schulzeit in uns. Ritsos und ich hatten immer eine gute Beziehung. Über längere Zeiträume sehen wir uns nicht, weil das Schicksal uns trennt. Aber wir hegen eine Sympathie füreinander, eine Liebe. Und ich möchte sagen, daß in Zeiten, wo ich schwierige Momente durchmachte, mir Ritsos sogar geistig half, indem er gegenüber Jüngeren, die er einlud oder die ihn besuchten, immer voller Wärme von mir sprach. Er sagte: "Lest Vrettakos, wenn ihr wissen wollt, was Dichtung bedeutet." Etwas, was auch ich mache – und nicht, um mich bei ihm anzubiedern, sondern weil einer offensichtlich an den andern glaubt und ihn liebt.

© Asteris Kutulas, 1983

 

Als Nikiforos Vrettakos noch lebte, als all die Großen der griechischen Dichtung noch lebten, Ritsos, Anagnostakis, Elytis, Gatsos, Livaditis, Katsaros ..., war noch ein Flirren in der griechischen Gesellschaft, spielte die Kultur eine andere Rolle; diese Künstler waren „Brücken“ aus der alten Zeit in eine neue. Sie/ihr Werk waren auch „Treppen“, die man besteigen konnte, wenn man wollte, und durch ihre Präsenz, durch ihr tägliches Schlendern in die Athener Kaffeehäuser, ihre Beiträge und Kolumnen, Lesungen und Wortmeldungen wurde man immer wieder animiert, an ihrer Geistigkeit, ihren Gedankengängen teilzuhaben und teilzunehmen, in ihre Aura einzutauchen. Vrettakos traf ich in Gythion, einer kleinen Stadt auf der Süd-Peloponnes, als wir unseren Film über Jannis Ritsos drehten. Darum geht es in meinem Interview um dieses Thema.
Vrettakos erschien mir wie ein Asket, der zurückgezogen lebte, in der kargen Natur Lakoniens. Er wohnte in einem Dorf am Taigetos-Berg, weit weg von allen Groß-Städten Griechenlands. Ein Aussteiger der Lyrik, der auf Decartes antwortete: „Ich liebe, also bin ich ...“ A.K.

 

 

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