Orest, Mörder/Seher

DA KOMMT einer nach Haus, ermordet seine Mutter - von der er aber gar nicht weiß, dass sie seine Mutter ist -, weil sie einen Mann erschlug, von dem er nicht weiß, dass der sein Vater war. Ob die Erinnerung verblasste? Deine ewige Fragerei. Ob Klytämnestra wirklich erbrechen musste - wie Gerhart Hauptmann behauptet, oder war das jemand anders? -, als sie ihrem Ehemann Agamemnon mit dem Beil den Kopf spaltete? Ob Orest erbrechen musste, als er Klytämnestra erdolchte? Mykene, ein ganzes Volk, schuldverstrickt, das fürchtet, erbrechen zu müssen.


DIE ZUNGE schneller als die gedanken, der langgezogene laut entlud sich zeitlupenschnell, sie sah ihn, konnte ihn fassen, berühren, er umschlang sie, erdrückte sie, quetschte sie aus. ein rinnsal blut sickerte in den gelben, von der sonne entzündeten sand. und kein entrinnen nach dort - oder anderswohin. sie schüttelte ab die furcht und schritt langsam in den dunklen raum, der sie seit äonen schon einschloss, in die kapelle aus marmorstein. nein!, rief sie, er ist nicht mein bruder!, deutlich silbe um silbe. sprang dann über den heißen blutfluss, der sich weiter unten ins meer ergoss, ins purpurne. nein, ich bin nicht maria, beharrte sie - und wusste: vergeblich, sie fiel dem götzenbild zu füßen (der autor versuchte mit aller kraft (der arme!), diese assoziationen zu verdrängen, es riss ihn tiefer in die kette: es war wirklich umsonst...)


Orest ohne Anagnorisis
Gerhart Hauptmann beschreibt in seiner „Iphigenie in Aulis“, wie die entfesselten unterbewußten Instinkte des Menschen zu einer völligen Dehumanisierung der Welt führen: „Tod ist Wahrheit – Leben nicht!“ Iphigenie ist nicht Opfer dieses Wahns, sondern verfällt ihm selbst. Die Umstülpung des moralischen Verhaltens – als eine Kapitulation des Gesunden, der Vernunft vor dem Barbarischen und Kranken – degeneriert die Hauptmannsche Iphigenie (im völligen Gegensatz zu der des Euripides und desjenigen Goethes) zum Symbol der Unmenschlichkeit, zum Wahrzeichen des sinnlosen Kriegszuges, zum Wahrzeichen des „grausig-göttlichen Berufs“ des Mordens. Unmißverständlich offenbart Agamemnon – nunmehr zum „Übermenschen“ geworden – dem versammelten Heer in Aulis den Tod Iphigenies als nationale Schuldverstrickung: „Hier Hellas, nimm, was dein ist – nimm es hin! ... Die Kraft der Wandlung überwältigt uns,/ so euch wie mich: was wir vorhin gewesen,/ das sind wir nicht mehr. Um uns mischen sich/ des Hades und Olympos Götterlüfte;/ wir trinken atmend sie in unser Blut/ und damit heiligen Wahnsinn.“ Verständlich, warum für Hauptmann eine „Iphigenie in Tauris“ – ein Stück, das er hätte niemals schreiben können – unmöglich war: einer solchen Auslegung widersetzt sich der taurische Mythos prinzipiell: daß nämlich Heilung durch eine Mörderin möglich wäre. Orest raubt in Hauptmanns „Iphigenie in Delphi“ (1940) die Schwester mit Gewalt aus Tauris und bringt sie gegen ihren Willen nach Delphi. Allein durch diese Tat wird er entsühnt. Eines der wichtigsten Momente bei Euripides und Goethe, die Anagnorisis, die erlösende Wiedererkennung, findet nicht statt ... Orest erfährt bis zum Schluß des Hauptmannschen Dramas nicht, daß die entführte Priesterin aus Tauris seine Schwester Iphigenie ist. Er konnte es nicht erfahren, denn Hitler hatte inzwischen Euripides’ und Goethes Humanismus-Ideal ad absurdum geführt und die antiken Landschaften verändert: Aulis, Tauris, Delphi. Orest bleibt für immer ein einsamer Mensch.

© Asteris Kutulas

 

 

 

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