Über Sinn und Form des Übersetzens

Mit Paul Wiens auf dem Leipziger Hauptbahnhof

Mit Paul Wiens traf ich mich zweimal: 1981, zuerst im November und dann am 30. Dezember. Beim ersten Mal hatten wir uns vor dem Blumengeschäft des Leipziger Hauptbahnhofs verabredet: er stand da – etwas klein, ergrautes Haar, die Nase leicht hakenförmig gebogen, zwischen den Lippen – wie immer, wenn ich ihn sah – eine Dumont. Das Faszinierende, wenn er rauchte, war, dass er die Zigarette ganz selten von den Lippen nahm. Sie „klebte“ an der unteren und er konnte sich so ohne Probleme unterhalten. Das verlieh ihm in meinen Augen einen leicht aristokratischen Zug. Aber nicht nur das.
Zu unserem Treffen kam es, weil er mir überraschenderweise einen Brief geschrieben hatte. Anlass dafür war ein Schreiben von mir an Konrad Wolf gewesen, den ich um Unterstützung bat, Schriften von Theodorakis in der DDR veröffentlichen zu können. Ich hatte mich dabei auf das Treffen berufen, das zwischen „Conni“ und Mikis im Brecht-Haus stattgefunden hatte, bei dem ich als Dolmetscher tätig war. Zu dem Brief an Konrad Wolf entschloss ich mich, nachdem ich von Prof. Klaus Schumann dazu ermuntert worden war – dem hatte ich zuvor meine Übersetzung des Neruda-Interwievs von Theodorakis zu lesen gegeben. „Conni“ leitete meinen Brief weiter an Paul Wiens – in dessen Eigenschaft als Chefredakteur von „Sinn und Form“, der mir sofort antwortete.

Ich hatte mich also mit Wiens im Leipziger Hauptbahnhof verabredet und wir fuhren gemeinsam mit dem Zug nach Berlin. Er war anläßlich der Dok- und Kurzfilmwoche nach Leipzig gekommen und erzählte mir minutiös über die Filme, die er gesehen hatte. Mein Anliegen war, einen ersten Kontakt zum Chefredakteur von „Sinn und Form“ zu knüpfen, um einen von mir übersetzten Theodorakis-Artikel in seiner Zeitschrift zu veröffentlichen – aber bereits bei diesem ersten Gespräch kamen wir auch auf Ritsos zu sprechen. Einige Monate später wurde meine erste Nachdichtung veröffentlicht, die „Monochorde“ von Jannis Ritsos ... Und mein Leben bekam eine „neue“ Richtung. Ein Jahr später erschien auch meine Übersetzung des Artikels „Startum und Snobismus – Tod der Musik“ von Mikis Theodorakis.

Es berührte mich damals sehr seltsam, dass sowohl Konrad Wolf als auch Paul Wiens kurze Zeit später verstarben. Wolf war für viele Künstler und „Kulturschaffende“ (wie es damals hieß) eine wichtige Bezugsperson. Nach seinem Tod wurde Manfred Wekwerth Präsident der Akademie der Künste. Meine gute Beziehung mit der Redaktion von „Sinn und Form“ blieb aber weiter bestehen, bis Anfang der neunziger Jahre, und es kam noch zu einigen Veröffentlichungen – dank der Chance, die Wiens mir jungem Germanistik-Studenten 1981 gegeben hatte. Als ich später seine Gedichte las, wurde ich mir auch über seine Affinität zu Ritsos klar ... Abgesehen davon, dass beide leidenschaftliche Raucher waren und das Rauchen zur Lebensphilosophie erhoben hatten ... Beide „klebten“ regelrecht an der Zigarette und erfreuten sich des lyrischen Lebens ...

© Asteris Kutulas

 

Postskriptum

Die "Monochorde" erschienen 1982 im November/Dezember- Heft der Zeitschrift "Sinn und Form". Für mich, den Übersetzer, stellt dieser Zyklus etwas Besonderes dar, zumal ich mit den "Monochorden" 1981 meine erste Nachdichtung versuchte, angeregt durch Paul Wiens, den damaligen Chefredakteur der Zeitschrift "Sinn und Form". Diese Arbeit brachte mich auch mit Ritsos zusammen, den ich erstmals Anfang 1982 besuchte. Die Korrektur-Fahnen jedoch konnte ich damals nicht mehr durchsehen, weil ihre Auslieferung mit der Beerdigung meines Vaters in Griechenland zusammenfiel, dem meine deutsche Übersetzung gewidmet ist.

Der 1909 geborene Jannis Ritsos schrieb 1979 die Erste erste Reihe der "Monochorde", 336 einversige Gedichte, denen 1980/81 die Zweite Reihe und 1981 die Dritte Reihe folgten. Solch eine formale Klammer, die für Ritsos etwas Neues darstellte, dabei seine Vorliebe für die Zahl 3 offenbarend, benutzte er noch einmal 1982 im Band "3 x 111 Tristichen", in dem 333 dreiversige Gedichte enthalten sind. Für die (auch moderne) neugriechische Lyrik hingegen ist der festgefügte, meist traditionelle Versbau, den Ritsos in seinen ersten Zyklen Anfang der dreißiger Jahre durchspielte, weit verbreitet. Vor allem der in einem Monochord zitierte Odysseas Elytis geht in vielen Gedichtbänden von einer bestimmten Zahlenhierarchie aus. 1977 hatte Ritsos in seiner tausendversigen poetischen Autobiographie "Das ungeheure Meisterwerk. Erinnerungen eines ruhigen Menschen, der nichts wußte" gleichsam fotografisch fragmentarisch das 20. Jahrhundert Revue passieren lassen. Wie als Pendant dazu lesen sich die oft skizzenhaften "Ein- Klänge", die wie einem poetischen Zettelkasten entnommen wirken.
Nicht zufällig also, daß Ritsos, für den die "verlorenen" bzw. "nicht passenden" Schlüssel zu den wichtigsten Topoi seiner Poetik gehören, im letzten Monochord von "meine Schlüssel" spricht. Vielleicht ist der aphoristische Ton gemeint, dem man hier zum erstenmal bei ihm begegnet, oder die prägnante Reduktion auf einen Vers. Allerdings, der Prozeß der lyrischen Desillusionierung und Versachlichung begann bereits Anfang der sechziger Jahre mit dem Gedichtband "Zeugenaussagen". In einem Essay von 1962 verwies Ritsos auf die wesentliche poetische Notwendigkeit, sich kurz zu fassen: Um den flüchtenden Augenblick anhalten und dessen Beschaffenheit blitzartig erhellen zu können - ein die "Monochorde" beherrschender Gedanke. Den transparenten Hintergrund für die "Monochorde" bilden die Biographie des Dichters und die immer anwesende griechische Geschichte; schicksalhaft manchmal, manchmal vom Individuum durchschaubar: Szenen aus einer tragikomischen modernen Antike, Schwarzweiß-Aufnahmen karger Landschaften, Darstellungen deformierter Gestalten aus der linken Bewegung, der Ritsos ein Leben lang verbunden blieb, Alp- und Tagträume von einer "heilen Welt", Bilder bezaubernder menschlicher Körper, Erinnerungen an die Zeit der Diktatur.

© Asteris Kutulas

 

 

zurück zur Themenauswahl