Notate zu meinem Athen

Athen I

Wühlte in meiner zerfledderten Umhängetasche nach abgegriffenen Notizen aus der Athener Universitäts-Bibliothek, einhundertfünfzig Jahre alt, niemals stimmiger Katalog, geöffnet für Besucher und Touristen, so dass höflich fotografierende Japaner, heulende skandinavische Mädchen mit blonden Zöpfen und kleine bunte Wellensittiche sich die Zeit vertrieben, genauso wie bedächtige junge Intellektuelle, darunter ich.

Dort bei einem germanischen Philosophen gelesen: IM BUNKER DIE ÜBERWUNDENEN KRITERIEN DES DEUTSCHEN/IM SEELISCHEN ZENTRUM SEINER FAMILIE (Einmal hörte ich 'ne Musik, die fing so an: laa, la, laaaaaa, laa, lalalalalalalalallll...) ER BEGREIFT, DASS DAS WAHRE LEBEN... ALOGISCH ... Das ist, Gott sei Dank (Gott sei Dank!, Gott sei Dank!, Gott sei Dank, usw., vielleicht fünfhunderteinunddreißig Mal...) alles vorbei, er wischte den Schweiß von der Stirn, die Sonne auf ihrem höchsten Stand und kein Air Condition in Athen.

Athen II

Alceste besiegt mich jeden Tag/Verspricht mir den Tod den einzigen/In Athen nach Zeitungen suchend/Früher suchte ein anderer hier Menschen/Doch Zeitungen gibt’s an jedem Kiosk/Und Kioske: 11.000.
Mit dem Taxi fahren/In Pizzastuben gehn und auf Englisch bestellen/Sich bestehlen lassen. Lächeln/Dann die Pizza nehmen/Nicht wie Dali dem Wirt auf die Glatze legen/Nicht auf dem Tisch stehen lassen: Essen/Bezahlen Hinausgehn In die Sonne glotzen Wirbel/Auf die Erde fallen und Tote beschwören/Bis Darius’ Geist auch mir erscheint/Thanatos besiegen ohne Herkules zu sein/Nie die Frage nach der Schuld stellen Niemals.

Athen III

Der obligate Engel aus Trakl-Gedichten/Sucht auf der Akropolis nach Köpfen Armen einsamen Amphoren/Nicht Fotografieren! ruft die schöne Wärterin/Der Archäologischen Gesellschaft/Schaut auf Brüste Rücken nach Fotografiererlaubnissen/Erlebnisse folgen den Touristenführern/Er steigt zum Parthenon hinab/Schlägt vierundzwanzigmal den Stein/Und denkt: Ich schmiss die Nonne/Aus dem Fenster und gefiel mir/Im Erschaffen von Bildern/Ungläubig/Verließen die Schulkinder/Das Kino und die Lehrerin/Zählte sie.

© Asteris Kutulas


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„Sechs Nächte auf der Akropolis“ von George Seferis
Ein Athen-Roman aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts

Die Ahnung vom Herannahen des "letzten Tags" bestimmt das Klima in Athen. Stratis lebt die Wochen und Monate des Jahres 1928 in einem fast tranceartigen Zustand. Zweifellos steckt er in einer existentiellen Sackgasse, wie ganz Griechenland, wohin er unlängst aus London kam. Jeder Tag im Leben von Stratis und Nikolas, im Leben der Sphinx und all der anderen phantasmagorischen Gestalten scheint der letzte zu sein, ohne Perspektive. Überschattet von der stillen Gewißheit des unausweichlichen Untergangs, wird jede Geste, jedes Gespräch zur hohlen Phrase – oder, wenn man so will, zu Lyrik: Da kein einziger Tag in dieser Wirklichkeit des Stratis "gelebt" wird, kann auch der letzte Tag, falls er kommen sollte, nicht gelebt werden. Zwangsläufig findet Salome, das einzige wache „Atom“ dieses Romans, den Tod. Denn Athen ist krank, wie George Seferis in seinem Tagebuch im November 1927 konstatiert: "Es müssen auf der Akropolis nicht zwingend nur sechs oder sieben Personen, sondern es können unendlich viele sein, bunt gemischt. Viel wesentlicher ist Athens Kränkeln – die Krankheit, mit der diese Stadt alles infiziert –, nicht das Vorführen des einen oder anderen menschlichen Charakters." So entpuppt sich ausgerechnet „die Stadt der Städte“ als Hort der absoluten Kommunikationsunfähigkeit; der Roman handelt vom vergeblichen Versuch eines "Freundeskreises", in der abgehobenen Sphäre der vollmondbeschienenen Akropolis diesen toten Punkt zu überwinden. Athen jedoch zieht alle erbarmungslos hinab in eine unweigerliche Sinnleere. Kein Aufbegehren dagegen, keine Spur von Widerstand, nur "kleine alltägliche Selbstmorde". In einer Tagebucheintragung vom 6.9.1935 charakterisiert Seferis, der mit diesem Roman die Lebensphilosophie jener Jahre eindringlich skizziert, seine "geopferte Generation" rückblickend wie folgt: "Eine Generation, deren Jugendjahre der Krieg prägte. Die im Hinblick auf die Zeit ihres Alters einem neuen Krieg entgegensieht. Und die schon mit Ausbruch des ersten Kriegs von einer ihr zuvor unbekannten Unruhe erfaßt wurde, von dem Gefühl, daß jedes Fundament, zersetzt bis tief hinein in Seele und Geist, zerbröckelte und zu Staub zerfiel; daß alles in wenigen Augenblicken einstürzen kann; daß sie, diese Generation, es endlich nach Jahren der inneren Ungewissheit geschafft hat, diese Erschütterung zu verarbeiten; daß sie weiß, sie hat keine Kraft mehr, diesen Trotz aufzugeben, um sich selbst finden zu können zu finden – daß sie weiß, ihr bleibt keine Zeit mehr, denn der nächste Krieg steht schon vor der Tür." Und dann der Schlüsselsatz, der Motto dieses Romans sein könnte: "Eine Generation der Finsternis, ganz und gar den dunklen Seiten des Menschen verfallen, die allein das Potenzial haben, ihr das Gefühl der Existenz zu geben. In unserer Epoche tötet das Licht." Auch das des Vollmonds, wie Salomes Ende zeigt.
„Sechs Nächte auf der Akropolis“ handelt von Stratis’ Einsamkeit. Und, obwohl nicht deckungsgleich, ist dies auch der "absolute Punkt" (8.8.1925), an dem der Autor sich wähnte. Seferis, der am 13. März 1900 in "unserem tyrannisierten und zerstückelten Jahrhundert" in der kleinasiatischen Stadt Smyrna als Sohn eines Rechtsanwalts und Dichters Geborene, der 1918 nach Abschluß des Gymnasiums (Athen) mit seiner Mutter und seinen beiden Geschwistern dem Vater nach Paris folgt, in der französischen Hauptstadt von 1919 bis 1924 Jura studiert und anschließend in London seine Englischkenntnisse verbessern kann, kehrt 1925 nach Athen zurück und versucht – vergeblich, wie man aus seinen Tagebüchern und diesem Roman erfährt –, in Griechenland eine geistige Heimat zu finden. Doch selbst 1936 ist Griechenland für ihn noch immer "ein Alptraum mit wenigen lichten Augenblicken der Sehnsucht. „Sehnsucht haben nach deinem Land, obwohl du bereits in deinem Land lebst – es gibt nichts, was bitterer ist". Seferis baute in seinen Akropolis-Roman nicht nur Notizen aus seinen Tagebüchern in den Text mit ein, sondern gab darin auch Auskunft über seine Schwierigkeiten mit dem Text selbst. Was am Schluß des Romans bleibt, ist Stratis’ Hoffnung, doch noch einen Menschen gefunden zu haben, einen Sinn. Und so ist auf der Titelseite seines Manuskripts folgende Überschrift zu finden: „Sechs Nächte auf der Akropolis – Ideologische Phantasmagorie oder Phantasmagorische Ideologie“.

© Asteris Kutulas

 

 

 

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