Griechenland, heiß und flirrend


Ich fuhr 1975, fünfzehnjährig, zum ersten Mal nach Griechenland. Kaum passierte der Zug die jugoslawisch-griechische Grenze, veränderte sich mit einem Schlag die Landschaft, die Luft heiß und flirrend, die Häuser schlohweiß und flach, und - zum ersten Mal für mich - einheimische Griechen, lässig und „mediterran", ein Begriff, der mir erst viel später einfiel, aber ich erfasste instinktiv das mittelmeerische Gemüt dieser „eigentlichen" Griechen. Sie wirkten auf mich anders als ihre Landsleute der unfreiwilligen Diaspora im Ostblock, die ich als Kind in Oradea, Bukarest, Moskau, Iwanowo, Prag, Budapest, Dresden und Leipzig kennen gelernt und mit denen ich gelebt hatte. Sie erschienen mir stolzer, anarchischer, ungebrochener, verantwortungsloser als jene im sozialistischen Exil, die sich zum Teil einer mir verhassten Ungebildetheit unterworfen hatten, doppelte Analphabeten, die Mutter-Sprache wie jene des Gastlandes ungenügend beherrschend. Und obwohl sich viele von ihnen arrangiert hatten und Privilegien besaßen, waren sie geduckt worden durch das Leben im real existierenden Sozialismus. Das erfasste ich bereits 1975, während sich eine mir unbekannte Sonne in einem mir unbekannten blauen Meer spiegelte, auf dem kleine Boote tanzten.

Während jener ersten Zugfahrt durch Griechenland stieg in einem Dorf ein alter Mann mit einem Hühnerkorb in den Zug und stellte sich in den Gang. Groß gewachsen, kräftig gebaut, mit dickem Schnurrbart und grauem Haar sah er durchs Fenster auf die Landschaft im Sonnenuntergang. Als ihn der Schaffner nach der Fahrkarte fragte, sah er ihn nur kurz an und sagte: „Ich besitze keine, mein Sohn". Der Schaffner holte einen Block heraus: „Dann musst du jetzt nachlösen, Opa!" - „Ich habe kein Geld bei mir", lautete dessen Antwort. Der Schaffner zuckte mit den Achseln: „Tja, Opa, dann musst du leider die nächste Station aussteigen!" Der alte Mann sah ihm in die Augen und beendete den Disput mit versöhnlicher Stimme: „Nichts für ungut, mein Sohn, da will ich auch hin." Von da an wusste ich, dass auch ich dorthin wollte - und bin seitdem nach dort unterwegs.

© Asteris Kutulas, Anfang der neunziger Jahre


***

Jannis Ritsos
Iniochos 1970

Hier der kupferne Jüngling
mit dem geraden Stirnband,
mit den erstarrten Augen –
nachgiebig und fremd,
der die abgebrochenen Zügel hält
mit ruhiger Hand,
aufrecht
über seinem nichtvorhandenen Wagen –
aufrecht sagtest du?
aufrecht. Das übrige
unter den Steinen und den Jahren
uneingelöst, unwiederbringlich, verloren.
„Nur das Nichts unzerstückelt“, sagte er
und bewegte seine beiden Finger
berührte den kupfernen Chiton von Iniochos.

Als ich das Gedicht von Jannis Ritsos zum ersten Mal las, dachte ich: Das ist also eine zeitgenössische Beschreibung des antiken Wagenlenkers. Zeitgenössisch – das Wort wirkte beruhigend. Immerhin. Aufrecht war auch unser Gang, wie der unserer Vorfahren. Wen anders konnte er meinen? Hatten wir nicht gelernt, daß zum Verstehen einer Sache unbedingt die Bezeichnung derselben gefunden werden mußte? Nur wenn Sie es in Worte fassen können, haben Sie es begriffen, lautete die Belehrung der Dozentim im Fach Literaturtheorie. Was aber war das andere in Ritsos’ Gedicht, fragtest du, das so seltsam verlorengegangene? Ich schwieg. Wir schauten uns hier, an diesem heiligen Ort, in aller Ruhe um, skandierten in unserem Innern (natürlich!, wo sonst?) heimlich die Namen, die wir beizeiten unserer Zukunft gegeben hatten, „Hier, hier ist der Ort, dort, dort ist der Hort!“, schlenderten durch den antiken Müllhaufen. Die Abfuhr verspätet sich auch haute, deine ewigen Späße. Aber ich mache mit. Was tun, Nichtstun. Dann begutachteten wir imaginäres Mordwerkzeug, altes, die berühmte Axt – unwillkürlich mußte ich an den Raben von Edgar Allan Poe denken: Nimmermehr Nimmermehr Nimmermehr (du lachtest) –, die zu Luftsäulen erstarrten Sprüche der Pythia, so viele Morde und Hinrichtungen in unser aller Namen. Und ringsum, überall im Museum, diese Gesichter, so eindringlich vom Dichter beschrieben, ein Traum, nein, eher ein Filmstreifen, der ab und zu reißt,... alles umsonst, die Schlachten verloren, erklärte die Museumsführerin, nur die Klugheit bleibt, fuhr ich fort, die uns kalt läßt. Nenikikamen!, schreist du, Nenikikamen!, fällst tot um. Und die Dichtung permanente Deformation. Und die Gedanken verschieben sich immer mehr ineinander, Nenikikamen! Nimmermehr! Nirvana! (auch das), werden zu einem unentwirrbaren Knäuel, daß wir am Ende nicht wissen, haben wir das gedacht?

Also Iniochos, der Wagenlenker, wirbt für Mercedes Benz ... Diese Nachricht, die ich im November 1986 las, erreichte meine Erinnerung jetzt in meiner Berliner Wohnung. Durch das offene Küchenfenster weht Pankower Luft herein, Die Nachricht stand in einer griechischen Tageszeitung, die sich wehrte gegen die neue Ästhetik, obwohl der Redakteur nichts wußte über delfische Geschichte, sich einfach wehren zu müssen glaubte gegen die neue Religion.

Kaiser Diokletian
zog sich im Jahre 305 von der Politik zurück und beschäftigte sich bis zu seinem Tode 316 mit der Landwirtschaft. Er starb als ein vergessener Mann. Kaiser Diokletian führte den letzten großen Kampf des sinkenden Götterglaubens gegen die Neue Religion. Seine janusgesichtigen Dekrete beeindruckten weder das Neue Volk noch die Herrschende Partei. Unterstützung bekam er von den geschlechtslosen Neuplatonikern, die in Geheimniskrämerei und Snobismus ihr Heil suchten und in den „unphilosophischen Christen“ eine entmündigte Masse sahen. – Also lauter Zeichen dekadenter Epochen, sagte er, die nichts Großes vollbringen, das Wenige aber, das sie haben, mit dem glorifizierenden Schimmer des Geheimnisses umgeben. – Es nützte nichts. Fast einhundert Jahre später erließ ein Nachfolger von Diokletian, Theodosius der Große, einen Edikt, der alle heidnischen Götterkulte verbot und die private oder öffentliche Ausübung anderer Glaubensformen als die der christlichen Religion unter Strafe stellte. Natürlich, Diokletian hatte keine Chance, die unteren Volksschichten interessierten sich für nichts weiter, als für sich. Ihre lähmende passive und defätistische Haltung gegenüber dem Staat und allem Geistigen führte allerdings zu jener berühmten und berauschenden jahrtausendjährigen Konservierung des status quo. Glücklicherweise gab es ausländische Invasoren, die Byzanz zugrunde richteten. Diokletian aber starb als ein vergessener Mann etwa tausend Jahre vor dem barbarischen Untergang.


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NOCH EINE REISE NACH GRIECHENLAND

22.10.84, Matala
Knossos: die Sage des Theseus. Vergeblichkeit der Tat Ariadnes. Eintreffen und Untergehen. Den Weg weisen (erretten?) und ver-unglück-en. Evans’ Eingriff in Knossos ist jeden Augenblick spürbar. Der Versuch der Objektivierung hat immer objektivierende Subjektivität zur Voraussetzung. Die Trümmer von Knossos, aber auch sonst die antiken Überbleibsel überall in Griechenland rufen keine besonderen Gefühle in meinem Innern hervor. Stets sind es meine eigene Seele und Gefühlswelt, die meiner Sensibilität jene Schwingung entlocken, die man oft kurzschlüssig auf äußere Erregerquellen zurückführt. Immer sind wir es selbst, die fühlen können oder nicht, die getroffen sind oder kalt bleiben. Der Augenblick - und so vieles andere.

23.10.84, Chania
Das Grab von Kazantzakis auf dem Hügel über der Stadt. Eingemeißelt:

Ich hoffe nichts.
Ich fürchte nichts.
Ich bin frei.

Griechische Taxifahrer erklären auf Englisch, was es mit dem Grab und mit Kazantzakis auf sich hat. Dann fotografieren sie die Touristinnen, die sich mit einer Blume im Haar neben das einfache Grab stellen. Das Grab in seiner verblüffenden Bescheidenheit und Erhabenheit scheint die Frauen zu ignorieren. Der Blick über die Dächer der Stadt hinaus aufs Meer bestätigt das: Wir sind fern vom toten Dichter.
Gestern übernachteten wir noch einmal in Heraklion. Für uns das Schönste an dieser Stadt: der große Platz, von Bäumen überdacht, mit den alten venezianischen Brunnen, mit den vielen Cafés und mit der schönen Atmosphäre - die vielen Menschen, noch spät in der Nacht.

24.10.84, Chania
Das Museum von Heraklion: eindrucksvolle Geschichte eines sich zivilisierenden barbarischen Volkes. Chania: Pension Theresa. Barbara ging aufs Damen-WC, als ein junges Mädchen gerade eine Spülung machte.
Pension Meltemi: Unterschlupf für Haschischraucher. Gestern Nacht begegnete ich zufällig Janni. Wir stießen auf ein Mädchen im Rausch, das sich allein nicht mehr auf den Beinen halten konnte. „In den Diskotheken ziehen sie sich nach Mitternacht aus. In den Gassen entblößen betrunkene Touristinnen ständig ihre Brüste.“

Die Welt: ein Puzzlespiel.

Heute beim Baden. Hans sagte: „Sieht man die Steine im Wasser, glaubt man, es mit Jungfrauen zu tun zu haben, nimmt man sie heraus, hält man alte Huren in der Hand.“
Ich überlegte: Das Wasser bedeckt sie, und unter diesem Schutz zeigen sie ihre wahre Seele, strahlen. Wird ihnen der natürliche Schutz (Umwelt) entzogen, verbergen sie ihre Persönlichkeit im gleißenden Sonnenlicht durch unscheinbare, nicht auffällige Erscheinung, Blässe. Auf einmal sind sie alle gleich.

Jannis: aus Sities (Kreta). Kommunist, Schauspieler, zwei Kinder, seit zwei Jahren geschieden. 1949, im letzten Jahr des Bürgerkriegs, musste jeden Tag ein Spiel gespielt werden: Koukoudia (im kretischen Dialekt: Kopfwunde). Spiel wird zur Ideologie. Mit spitzen Steinen aufeinander schießen. Steine wie Rasiermesser. Lehrer war Schiedsrichter.

Phaistos: authentischer, weil ohne Deutung, als Knossos. Hof für Stierspiele. Hans: „Die bekanntesten Stierkämpfer Spaniens wurden gefragt, ob die minoische Überlieferung stimmen könnte, und sie halten das für ausgeschlossen.“

Heraklionmuseum: Eines der eindrucksvollsten Stücke: drei Menschen, die einen Stier bei den Hörnern packen. Die symbolische Gestaltung ist verblüffend, die Menschen sind so klein, dass ihre Körper um die Hörner liegen und diese trotzdem nicht ganz abdecken.

© Asteris Kutulas

 

 

 

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