Greek Music (nach 1960)

Das gesellschaftliche Umfeld

Die Einheit der Linken war der historische Nährboden für die Konzeption einer „kämpferischen Kultur“, wie sie Anfang der sechziger Jahre von Theodorakis entworfen und als kulturpolitische Praxis bis zum Putsch 1967 durchgesetzt wurde. Jener Einheit wiederum ging die tragische Erfahrung einer ganzen Generation im griechischen Widerstand (1941-1944) und im anschließenden Bürgerkrieg (1945-1949) voraus. Die nationale wie kulturelle Volksfront verging im gegenseitigen Schlachten und im amerikanischen Napalm. Die Sehnsucht nach einer nationalen Einheit und Versöhnung jedoch blieb als Vision im Werk fast aller damaligen Künstler enthalten, ob sie nun Elytis oder Ritsos, Xenakis oder Theodorakis hießen.

Theodorakis erwuchs aus seinen historischen Erfahrungen (durchaus nicht bewusst und vorsätzlich) die musik-ästhetische Konzeption eines „Dialogs mit den Massen“, basierend auf dem kleinsten – „humanistischen“ – Nenner, auf den sich alle, von Monarchisten bis Kommunisten, einigen könnten: auf die Melodie. Auf diesem Fundament, zudem musikalische Tradition par excellence in Griechenland, könne sich, so Theodorakis, eine Kommunikation aufbauen, die zu immer synthetischeren Formen gelangen musste. Oratorien wie „Axion esti“ und „Canto General“ zeugen von diesem Versuch, und das Verbot sämtlicher Theodorakis-Musik durch die Junta 1967 beweist dessen kulturpolitischen, da künstlerischen Erfolg.

Die Junta (1967-74) unterbrach nicht nur jäh den Dialog, sondern sie führte vor allem zu einer ersten Welle von Verwestlichung, die die nachfolgenden demokratisch-bürgerlichen Regierungen zu einer massiven Amerikanisierung vorantrieben, was Hand in Hand ging mit der Differenzierung des politischen Parteienspektrums, konkret: mit der Herausbildung einer griechischen Sozialdemokratie, die als PASOK-Bewegung das politische Geschehen seitdem in hohem Maße bestimmt.

Die jüngere Komponisten-Generation (Thanos Mikroutsikos, Eleni Karaindrou, Stamatis Kraounakis, Lena Platonos etc.), die nach 1974 mit ersten Werken an die Öffentlichkeit trat, stand also einer neuen Situation gegenüber, auf die mit neuen ästhetischen Konzepten reagiert wurde. Nicht nur die grundlegend neue Erfahrung der Uneinigkeit der Linken (Einflüsse des Eurokommunismus und -sozialismus etc.), sondern auch die Einsicht, dass das noch in den sechziger Jahren funktionierende „Theodorakis/Chatzidakis-Modell“ durch Kommerz und zahllose Nachahmungen beschädigt worden war, führte dazu, dass jener musikalische „historische Kompromiss“ nicht weiter zu vermitteln war. Offenbar war in dieser Musiktradtion selbst, gemäß ihrer „demokratischen Grundhaltung“, kein Widerstand gegen eine solche Art von Abnutzung angelegt, sie setzte vielmehr kompromisslos auf unbedingte Kommunikation und Dialog.

Anfang der sechziger Jahre bestand das Avantgardistische des Theodorakisschen Experiments im inhaltlichen Aspekt – in der Verschmelzung von Kultur und Revolution sowie von Volksmusik und neuer Lyrik (Ritsos, Seferis, Elytis) – und in der musikpraktischen Umsetzung, über die erstmalige (damals sehr umstrittene) Verwendung des „Pöbel“-Instruments Buzuki bis hin zur Schaffung neuer Kommunikationsformen außerhalb des bürgerlichen Kulturbetriebs („Volkskonzert“). Zweifellos sind das bis zum heutigen Tag noch gültige Elemente einer kulturpolitischen Bewegung, die sich allerdings ins Kommerzielle aufgelöst hat. Insofern kann man von einer nationalen Schule im unüblichen Sinn sprechen: von einer Neuen Musik, allerdings nicht unter dem Gesichtspunkt musikinterner ästhetischer Kriterien.

----------------------------

Noch immer find ich es merkwürdig
(Gedanken zur Existenz einer unterdrückten Bewegung – 20 Jahre später)
Für Theodorakis

Haften geblieben ist die Erinnerung an meinen Vater. 1970, in unserer Dresdner Wohnung, sein Haar ergraut seit dem Autounfall in Rumänien, nach hinten gekämmt, seine hohe fliehende Stirn umrandend, die Zigarette in der linken Hand, in den Zimmern auf und ab gehend, seine Sätze, undeutlich jetzt, verschwommen: Mikis hat verraten, hat sich kaufen lassen, die Fronten gewechselt, er, den WIR groß gemacht haben. Tiefe Trauer, stimmt das?, in seinen Augen, nicht aber Unglaube, der, so meine ich heute, angebrachter gewesen wäre, vielleicht. Die Schallplatten blieben in unserem Wohnzimmer, wir hörten sie weiterhin, „Griechentum“ vor allem, manchmal auch die andere mit der in der Nacht erleuchteten Akropolis auf dem Cover, links davon, doppelt so groß, eine blonde Frau, Meri Linda oder war es Dora Gianakopulu?, und dem Titel „Schöne Stadt“. Der riesige Radioapparat rumänischen Fabrikats mit dem eingebauten Schallplattenspieler spie krächzende Laute, wir hatten ihn seit zehn Jahren und noch nie die Nadel gewechselt, nur abends, 20 Uhr, wenn BBC Nachrichten in griechischer Sprache brachte und der Fernseher leise gestellt werden mußte, schien das Radio sich selbst übertreffen zu wollen, mein Vater, auf dem Sofa sitzend, redete ihm zu, mit der rechten Hand am Perlmuttknopf drehend, es streichelnd, meinte ich oft. Und die Sprecherin bestätigte, was er wußte: Theodorakis – Mitglied der Kommunistischen Partei Inlands, Theodorakis bei den Revisionisten. Und als zwei Jahre später, diesmal durch einen Sprecher, die Nachricht verbreitet wurde, Theodorakis sei wieder ausgetreten, weil diese Partei nicht den erhofften Wandel vollzogen hatte, vermutete mein Vater eher ein Manöver antikommunistischer Kräfte.

Der „Dialog mit den Massen“, diese doppelte Unsicherheit, dieses duale Mißverständnis, dieses obskure Ding war die Voraussetzung für eine Kämpferische Kultur, zugleich auch ihr Ziel, das Alpha und das Omega, Anfang der sechziger Jahre von Mikis Theodorakis als Kulturkonzept entworfen, verwirklicht, durchgehalten bis zum Putsch im April 1967, dann von der Junta militärisch bekämpft, die schon das Hören der Musik von Theodorakis mit Zuchthaus bestrafte, körperliche Gewalt und Gesetze gegen Lieder. Aber das hatten wir erwartet, das Normale; das andere, das wir nicht vorausahnten, viel bitterer: unsere eigenen, gegenseitigen Anschuldigungen, Schuldzuweisungen, das Aufbrechen alter Wunden, der Streit über die Diktatur des Proletariats, über das Ei des Kolumbus, wie wird der Grad der Freiheit gemessen, fragten die einen, in einer sozialistischen Gesellschaft, unwichtig, sagten die anderen, von Bedeutung nur, daß die soziale Ungerechtigkeit abgeschafft wird, die Ausbeutung, daß alle Menschen zu essen haben und Arbeit, und der Preis dafür, ließen die anderen nicht locker, ist der nicht zu hoch, muß er gezahlt werden? Ein innerer Krieg fand statt, schon wieder einer, selbstvernichtend, brutal, wozu das?, fragten einige, sind doch die meisten von uns im Gefängnis, in der Verbannung, in der Illegalität, für die Schuldfrage bleibt uns jetzt keine Zeit. Aber weder die einen noch die anderen wollten etwas wissen von historischen Analysen der Jahre vor dem Putsch, ignorierten das Experiment, das jenseits von Musik und Politik versucht worden war, suchten nach einer klaren Partei-Linie, die nicht zu den Sternen führte, sondern ins politische Kalkül, ignorierten die Basis der „Kämpferischen Kultur“, sahen sich dazu gezwungen, die seit dem Ende der fünfziger Jahre gewachsene Sensibilität für die seelische Verfassung, vor allem der Jugend. Das Bürgerkriegs-Syndrom, der perverse Fanatismus, der sich richtete gegen die eigenen Interessen, gegen sich selbst, der im griechischen Volk künstlich – von außen – geschürte „Selbstzerstörungstrieb“ mußte überwunden werden, gleichgültig wie, die Verhärtung der inneren Fronten und Barrieren auch. Der Trennlinien waren viele gezogen, auf allen Ebenen. Damals schon. „Ich gab diesem Phänomen einer zeitgenössischen Tragödie den Namen ‚Lied’. Das Lied entspricht dem Volk in seinem Wesen, in seiner Entwicklung, in seiner geschichtlichen Weiterentwicklung“.

Voraussetzung für die „Einheit des Volkes“ natürlich die Einheit der Linken; dieser vergebliche Versuch, dessen Mißlingen uns noch immer schmerzt, mehr denn je, die Niederlage, nach dem Putsch 1967 ihre erneute Zersplitterung, später weltweit, der Blutverlust, noch immer nicht verkraftet. Vorher der hierarchielose Versuch in der Demokratischen Lambrakis-Jugend, alternativhungrig, phantasiebeladen, machtverneinend, eben KULTUREINHEITLICH: mündig werden, den Kampf gegen „das Unvermögen aufnehmen, sich seines Verstandes ohne Leitung einesanderen zu bedienen“. Die uralte Kantsche Forderung, so neu. Weil auch das Neue alt ist: Es ist so bequem, unmündig zu sein. Ja, möchte man hinzusetzen, und so ungefährlich. Und ebenso gefährlich: „Alle Erscheinungen wie Weltflucht und Vereinsamung zeigen uns, daß wir den Kampf verlieren werden, wenn wir nicht um die Mündigkeit des Menschen bemüht sind. Mündigkeit aber erreicht der Mensch nur durch geistige und kulturelle Entwicklung. Es könnte uns sonst passieren, daß wir erst eine Revolution machen und hinterher nur in den Diskotheken tanzen können, weil wir zu nichts anderem mehr imstande sind.“ Sicher, möchte man wiederum hinzufügen, aber auch die Revolution werden wir nur schwer machen können, wenn wir nicht über kulturelle und Lebensalternativen verfügen, und zwar über viele verschiedene.

Der un-historische Kompromiß zur Zeit des Widerstands gegen die deutsch-italienische Okkupation, die griechische Ästhetik des Widerstands, in den Bergen und Verbannungslagern geboren, Männer, zehn Jahre ohne Frau, verhärtet und ausgelaugt von Kampf und Gefängnis, Frauen, verhärmt in entbehrungsreichen Zeiten, aber dieselben, die gekämpft hatten, sie, die entkräfteten und gestärkten, sie hatten all das durchgestanden, weil die nationale und kulturelle Volksfront ihren Willen undihren Mut stärkte, diese ihre Volksfront, sollte wieder in den Sechzigern herhalten, ihre neue Kraft beweisen – die Bürgerkriegswunden heilen, den zahllosen entfremdeten Wesen, den Noch-nicht-Menschen, SELBSTBEWUSSTSEIN geben, das Wort, die Anschuldigung VERRÄTER austilgen, den gegenseitigen Haß. Man kann auch den Bruder, Vater, die Mutter, die Frau hassen. Sie wieder lieben - ein schöner Traum. Für kurze Zeit, in wenigen Köpfen: Die Fotos aus den sechziger Jahren mit den offenen, erstmals wieder unverbissenen Gesichtern. Singende Menschen, freie. Die Jugendbewegung, die sich den Namen des ermordeten Parlamentsabgeordneten Lambrakis gab, von Theodorakis gegründet, fünf Jahre vor 1968. Verdrängte Geschichte gibt es überall, so auch hier. Das Lied vom toten Bruder.

Im Dialog sollten die Menschen aneinander wachsen, zu sich selbst finden, sich emanzipieren können aufgrund einer neu erfahrenen Qualität des Worts und der Musik; auf dem Lande, neben der jahrhundertealten modalen Tradition demotischer Musikkultur, die Tonalität, die neue Hörgewohnheit; in den großen Städten, wo dies schon durch die laizistische Dur-Moll-Vermischung gegeben war, mehr durch den neuen lyrischen Text, durch die Verschmelzung von Musik und gesellschaftlichem Engagement, die Überwindung des künstlerischen Outsidertums. Und auch das sehr schwer, schwer gemacht, denn wie ist es möglich, wurde 1960 von rechts und links gefragt, die heilige Dichtung eines Ritsos zusammenzubringen mit diesem Haschischkneipeninstrument, dem Buzuki, mit diesen Rhythmen des ungeraden Neunachtel-Taktes, der dem individualistisch-kultischen Zeibekiko-Tanz als Grundlage dient, wie ist es möglich, die rebetische Untergrundmusik, diese Ausgeburt des Lumpenproletariats mit der historischen Mission zu verquicken, und das Resultat, das sogenannte Künstlerische Volkslied, als avantgardistischen Ausdruck verstehen, dieses andere Sehraster, unverständlich. Ausgebrochen war ein kleiner Bürgerkrieg, in dem Politik, Moral und Musik durcheinandergerieten, aber, seltsam und unbegreiflich, ungeachtet jeder Diskussion: die Lieder wurden gesungen, aufgenommen in den alltäglichen Stoffwechselprozeß der einfachen Leute, die Erkenntnis von der Notwendigkeit dieser Form, das Experiment eines neuen Genres am Anfang einer solchen Bewegung.

„Mehr“ als nur einfache Lieder, als nur einige Augenblicke, keine „dumme Musik“, keine pseudokathartische Wirkung, sondern Tradition, Geschichte, Kampf; später der gemeinsame Versuch, komplexere Formen zu erreichen, „Axion esti“, das alte Problem des Sich-von-der-Kunst-zu-ihr-hinaufziehen-zu-lassen oder des Sich-nach-unten-Begebens zu ihr, egal, Hauptsache, ohne den Blickkontakt zu verlieren, immer wieder die Schwierigkeit des Nicht-Entfremdens, der alte Seiltanz der Aufklärung, das Ringen um das entmündigte, gehirngewaschene, desorientierte und orientierungslose Publikum, jetzt gesucht, ernstgenommen, herausgefordert, gleichberechtigt, zum ersten Mal. Die ersten Vorstöße 1961 in die Provinz, wo seit dem Bürgerkrieg noch der Terror herrschte, zerschnittene Kabel, umgestürzte Elektromasten, Morddrohungen, versuchte Steinigungen, Theodorakis' gefeierte Rückkehr nach Athen, ein erster Sieg. Die Lieder fanden in die entlegensten Dörfer. Nein, sagte er, ein aus Holz und Stahlseiten gebautes Instrument enthält keine moralische Implikation, ist wertungsfrei, abhängig von dem, der es benutzt, läßt sich auch umwerten, hängt von uns ab. Aber wenn es um Politik ging, sahen wir überdeutlich die moralischen Instanzen in uns, den „kategorischen Imperativ“, und die Zick-Zack-Bewegungen unserer Bewegung, was vor Jahren verurteilt, wurde heute verfochten, der Lauf der Dinge, die Notwendigkeit der Taktik, das Sicherheitsbedürfnis, die wichtigsten Dinge!, alles andere Philologie, sagte man uns, verstanden wir. Ehemals zu Tode Gesteinigte wurden wieder ausgegraben und auf Podeste gehievt.

Gesungen wurden RITSOS, SEFERIS, ELYTIS, GATSOS, LORCA, aufgebrochen die Mauer zwischen Kunst und Volk durch den Keil einer neuen Dreieinigkeit: politischer Kampf, Dichtung, Musik. Die Erfahrung, daß es ein "Volk" gibt, noch einmal die Erfahrungaus der Okkupationszeit, keine dumpfe Masse, keine Herde,mystifikationslos das Volk, diese wenigen Augenblicke in derMenschheitsgeschichte. Die Sehnsucht der Jüngeren, zu überwinden den Bruderhaß, aufzubrechen ins eigentliche Leben, umsonst, zermalmt, verfeuert, zernichtet, mit Stiefeln getreten, bespuckt, vergewaltigt von/zwischen/mit den Plänen der Immermächtigen, den Über-unsern-Kopf-Politikern, die die Schalthebel bedienen. Was sind dagegen Lieder, was Verse, was die beschworenen Toten und die prophetischen Bilder: „Bedrückend ist das harte Schweigen, das über dieser Landschaft steht./Die stumme Erde birgt in ihrem Schoß glühende Steine,/ und fest hält sie den verwaisten Weinberg, den Olivenhain./ Alle Brunnen versiegt. Nur Sonnenglut./ Der Weg verliert sich hoch im Licht,/ die Schatten der Mauern lasten wie Eisen.“ Soweit Ritsos. Und Seferis: „In den Meeresgrotten/ spürten wir den Durst die Liebe/ die Ekstase/ alles hart wie Muscheln/ kannst es in der Hand halten./ In den Meeresgrotten/ sah ich dir tagelang in die Augen/ und erkannte dich nicht und mich erkanntest du nicht“. Das, vertont, wurde gesungen, überall, von allen, eben vom Volk, erstaunliche Erfahrung.

Die Erfahrung der Einheit des Volkes blieb beständig als Vision in Kopf und Werk aller Künstler, gleichgültig wie. Ihre Verhinderung Alptraum. „Lieber sterben, als noch einmal diese Tage erleben müssen“ – Seferis' Eintragung ins Tagebuch, kurz nach dem Beginn des Bürgerkriegs 1944 in Athen. Und Theodorakis: „Wenn ich an die Vergangenheit denke, stehen vor mir Menschen mit erstarrten Gesichtern und weit aufgerissenen, lebhaften Augen. Diesen, meinen ermordeten Freunden habe ich fast mein ganzes bisheriges Werk gewidmet.“ Daraus entsteht nicht einfach "Kunst", daraus erwächst die Sehnsucht nach einer gleichberechtigten Kommunikation mit den Machern der Geschichte, die selten nur wirklich Geschichte machen können, mit den einfachen Menschen, drei Jahre praktiziert, dann vom Stechschritt ordnungsliebender Soldateska unterbrochen, wieder das weitere Sich-Hinaufschrauben der Spirale verhindert, zum Kreis abgebogen, nach unten weggedrückt: Die Neue Kunst Anfang der sechziger Jahre – ihre Potenz, SELBSTBEWUSSTSEIN zu geben. Sich jenseits politischer Fanatismen auf den kleinsten "humanistischen" Nenner zu einigen, und zwar alle - Monarchisten, Rechte, Kommunisten, Liberale, Sozialisten: auf die Melodie.

Das nun, eben die "Einheit des Volkes", zumal auf dem "unpolitischen" Um-Weg einer „Kämpferischen Kultur“ realisiert, war den Herrschenden zu gefährlich, zu anarchisch und systemlos. Hinzu kommt: die Melodie, die Inkarnation griechischer Tradition, wurde von Theodorakis als Ausdruck persönlicher Freiheit, als musikalischer Ausdruck eines Individuums verstanden, als "das letzte Wort" des Komponisten. Sie offenbart sich als ein ursprüngliches Element des Kreativen, das sich in der Musik durch das Melodische manifestiert. Schöpfertum im Kunstwerk setze Schöpfertum im Rezipienten frei, mache ihn zum Gesprächspartner. Und als benötige man ein neues Zeitalter der Aufklärung, eine neue kopernikanische Wende mitten im 20. Jahrhundert, wird auf einen „Ausgang der Menschheit aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gedrängt, um „die Freiheit zu handeln“ gewährleisten zu können: „Das Verschwinden der einen Melodie in der polyphonen Musik des Mittelalters entsprach völlig der christlichen Auffassung, wonach der einzelne Mensch vor Gott und seinen weltlichen und geistlichen Repräsentanten ein Nichts ist.“ Die bürgerliche Gegenbestrebung habe in Bach ihren genialsten Vertreter, der dem gesamten verwendeten musikalischen Material den Leben spendenden Atem des schlechthin Musikalischen, also der Individualität einer neuen Melodie verlieh. Das wird als Modellfall verstanden, der nun auf höherer, nichtbürgerlicher, menschlicher Stufe umgesetzt werden muß. Das hat nichts zu tun mit „Liebe deine Feinde“ oder mit „Ich reichte ihm auch die andere Wange“, nichts zu tun mit duldsamen Unpolitischen oder gesellschaftlichen Eremiten, gesichtslosen Individualisten.

Später dann die Junta von 1967 bis 1974 mit ihren Dogmen und ihrem feudalen Gebaren, der Sprung zurück ins Tierreich, vor in die westeuropäische Zivilisation, WIR GRIECHEN GEHÖREN ZUM WESTEN, natürlich, wohin denn sonst? American way of life im griechischen Fernsehen und im griechischen Dorf, das furiose Comeback der rebetischen Musik, der intellektuelle Widerstand, aber Wallraff auf dem Verfassungsplatz, angekettet, später in Ketten gelegt, im Land verstummende Dichter, anderen der Mund gestopft mit verschiedensten Gegenständen, andere verbannt nach Leros und Jaros, der Tod von Seferis und Lukacs, im gleichen Jahr, Panagulis' fehlgeschlagener Anschlag auf den Obristen-Chef Papadopulos, unweit von Kap Sunion, dem antiken vom Meer umspülten Tempel, gebaut von den Athenern, Poseidon ehren, ihn umstimmen, seinen Haß auf sie, die der Göttin Athena den Vorrang gaben, obwohl der Gott ihnen siegreiche Feldzüge und viele Eroberungen versprochen; hatte der etwa aus mythischer Vergangenheit seine Hand schützend über den Diktator gehalten? Der nach dem Anschlag weiterfuhr in die Hauptstadt, die Vision von einem neuen Griechenland verkündete und wenig später seinen Gefangenen Theodorakis mitsamtFamilie ins Bergdorf Zatuna verbannen ließ, wo dieser von unseren offenen, längst eiternden Wunden erfuhr: vom Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages in die CSSR, später von der Spaltung der Kommunistischen Partei Griechenlands. Dieser „Belagerungszustand“ treibt heraus "rhetorisierende", endlose Kompositionen, anklagend, desillusioniert, tröstend, ineinanderfließende Melodien, er selbst „Der Überlebende“ aus dem Gedicht von Takis Sinopulos, in Zatuna, dem Dorf inmitten apokalyptischer Bilder, heimlicher Radiosender, abgesperrter Straßen, zerklüfteter Schluchten, inmitten des Menalos-Gebirges: „Wo wo sind sie wo/ in diesen stummen Glocken die Berge/ in welchem Abgrund mit dem Kopf ins offene Maul der Sonne/ Hände und Füße zerfressen von der Wut der Sonne/ sie schreien weiß und hochgewachsen ohne Stimme/ und ich wo bin ich/ in der Stille/ in anderen Bergen die brennen/ ich der Einsame der Überlebende/ der Zeuge ich/ aussagen werde ich diese Nacht/ die heraufzieht.“

Die Demokratie eingegipst, Wahnvorstellungen von einer zu Werbezwecken verunstalteten Akropolis, immerhin artikulierbare Laute, Verpflichtung für Dichter, die jetzt ihre Lippen zusammenpreßten, die wenigsten die Faust, und die in den Jahren vorher – zum ersten Mal vielleicht auf diese Weise, in solch einem Umfang – erfuhren, was das ist, ein Publikum, mehr als nur zweihundert, vierhundert Leser, mehr als nur verständiges Kopfnicken, was das ist, wirklich gebraucht werden, aufgenommen, erkannt: „Theodorakis holte mit seiner Musik die Dichtung aus den dunklen, verstaubten Bibliotheken, heraus an die frische Luft und brachte sie auf den Tisch des Volkes, neben Glas und Brot“. Ritsos wußte, wovon er sprach, sein Epitaph-Zyklus war der Beginn, Seferis- und Elytis-Vertonungen folgten, auch jüngere Dichter, berühmt geworden durch Theodorakis, sie alle, in Griechenland. Er war und blieb „ihr treuer Diener“, der sie benutzte, das Volk zu emanzipieren aus dem künstlerischen Chaos, dem Nichts, durch das Dogma der Melodie: „Am Anfang war das Wort! Diese Wahrheit hat für mein gesamtes Werk unumschränkt Gültigkeit“, und das zur Zeit der Kafka-Konferenz in Prag und der Beatles in London und in den USA, wobei das andere sich schon ankündigte, „Abgebrochener Marmor, ersetzt durch Gips oder Zement“, schon ausgearbeitet der Prometheus-Plan, Ordnung ist das erste Bürgerrecht, die mythologische Figur auf den Kopf gestellt, auf die Füße, sagten die meisten und gingen ihrer Arbeit nach, über zur Tagesordnung, auch am 21. April 1967, als Prometheus ihnen den Himmel brachte, schwarzen Vogel auf glänzenden Helmen.


P.S.
Nach der Junta der totale Ausverkauf, nicht mehr nationalistisch verbrämt, bedingungslose Hingabe, die Amerikanisierung auf ihrem Höhepunkt, die nichtmilitärischen Gaben, auch eine Sozialdemokratie, zum ersten Mal in Griechenland, politische Transvestie, Sendungsbewußtsein, die Un-Einheit des Volkes – da viele "Einheiten" auftauchten – und der Linke, Euro-Kommunismus und -Sozialismus, Carillos Sozialismus in den Farben Spaniens, gestört das Gleichgewicht im Menschen, das Nervenzentrum angegriffen, Panagulis tot, gezwungen, gegen eine Mauer zu fahren, mordender Verkehrsunfall, Legalität, Freiheiten, keine FREIHEIT, die geöffneten Gefängnisse, die Rückkehr aus Verbannungslagern, die warten auf baldige Wiedereröffnung, ein neuer Beginn, von Anfang an vergiftet, angefault, zu viel passiert, wieder am stärksten der Haß gegen den eigenen Bruder, dem ehemaligen. Und auch das Kulturmodell durch Kommerz und zahllose Nachahmung beschädigt, dessen Zentrum: das Lied; nicht weiter zu vermitteln war der "künstlerisch-historische Kompromiß" der Vor-Juntazeit, in jener Musik selbst, gemäß ihrer demokratischen Grundhaltung, kein Widerstand angelegt, außer dem der Qualität und Originalität, gegen eine solche Art der Abnutzung, sie beruhte vielmehr auf dem Bedürfnis nach künstlerischem Ausdruck und künstlerischer Kommunikation, JETZT habe sich die Zeit geändert, es stehe das Problem der „Einheit aller Kultur“, zu wenig beachtet bisher, aber jetzt ließ man ihn schreien, den Revisionisten, Antikommunisten, wieder hervor kroch das Syndrom, die Anschuldigung, Verräter, und keiner wußte, warum. Es blieb der Dialog, genommen war ihm die Brisanz, trüb gewordenes Wasser. Jetzt.

© Asteris Kutulas, Berlin 1987-88

 

Auswahl von Liedtexten und Gedichten, die Mikis Theodorakis zwischen 1960 und 1966 vertonte:

Nikos Gatsos
DAS PENDEL

Ich kam wie eine Möwe ans Ufer
ich kam, dich zu nehmen mit hundert Küssen.

Das Leben ist dem Traum verbunden,
komm auch du, Freude erwartet uns.

Auf der schönen Reise, der langen,
trag ich den Morgenstern als Schmuck.

Meine Flügel breite ich aus, hilf mir auch du,
bald treff ich auf der weißen Insel ein.


Nikos Gatsos
AUF DEM BALKON DER NACHT

Ich säte in deinem Garten Gras,
daß abends wieder die Vögel kommen.
Welcher Mond nahm dich mit sich,
daß vereinsamte der Welten Schoß?

Auf dem Balkon der Nacht
der Himmel vereist.
Zu Staub zerfällt die Liebe,
und in Rauch löst sich auf der Traum.

Die Jugend riß fort der Fluß,
und es wandelte die Zeit sich in einen steilen Berg.
Im Sturm war ich dir ein Schilfrohr,
und im Gewitter warst du mir eine Weide.


Kostas Varnalis
DIE FATALISTEN

In der Taverne im Kellergeschoß
zwischen Tabakdunst und Flüchen
- oben kreischt der Leierkasten -
besoff sich gestern unsre Kumpanei
gestern wie an jedem Abend
um runterzuspüln die Bitterkeit.

Der eine drängte sich an den andern
und irgendwer spuckte auf den Boden
"Ach wie groß sind unsre Qualen,
Qualen gehörn zum Leben dazu."
So sehr man seinen Grips auch anstrengt
keine Erinnrung an sonnige Tage.

Sonne und blaues Meer
und Tiefe des verschwenderischen Himmels
O der Frühe gelblicher Flor
Nelke der Abenddämmerung
ihr leuchtet, erlöscht, uns fern
ohne in unser Herz einzugehn.


Brendan Behan
DER LAECHELNDE JUNGE

An einem Morgen im August
der Tag brach eben an
ging ich hinaus, durchzuatmen
auf der blühenden Ebene.
Ein Mädchen höre ich weinen
hör seine bittere Klage:
Durchstoß mir das Herz
der lächelnde Junge ist tot.
Mutig war er und kühn
nie wieder seh ich ihn
leichten Schrittes gehn
seh ich sein leises Lächeln.
Fluch der Stunde
Fluch dem Augenblick
als vor den Augen der Feinde
der lächelnde Junge starb.

Wär er doch wenistens gefallen
an unseres Ersten Seite
wär er getroffen worden
von einer englischen Kugel
und nicht beim Hungerstreik
einfach im Gefängnis verreckt,
dann könnte ich stolz sein, weil ich verlor
den lächelnden Jungen.
Mein königlich Geliebter
Liebster, darum klag ich dich an,
dir nach und deinen Taten
werd ich bis an mein Ende weinen.
Denn all unsre Feinde
hätt’st du besiegt.
Eine Minute Schweigen für den
unvergessenen lächelnden Jungen.


Odysseas Elytis
DEM KLEINEN NORDWIND

Dem kleinen Nordwind trug ich auf
ein liebes Kind zu sein
Und nicht an meine Tür zu schlagen
noch an mein Fensterchen.

Denn im Haus wo ich wache
stirbt meine Liebe
Und unter Tränen seh ich sie
gerade so noch atmen.

Es überwältigt mich der Schmerz
weil in dieser Welt
ich die Sommer verlor
und in den Winter geriet.

Wie das Schiff das Segel setzt
und in die Ferne treibt
Seh ich das Festland entschwinden
und kleiner wird die Welt.

Lebt wohl ihr Gärten und ihr Schluchten
Lebt wohl Küsse und Umarmungen
Lebt wohl ihr Klippen und hellen Strände
Lebt wohl ihr Schwüre für die Ewigkeit.


Odysseas Elytis
ICH OEFFNE DEN MUND

Ich öffne den Mund - das Meer voll Freude schwillt
Und holt meine Worte - in seine dunklen Tiefen
Und gibt sie weiter – an die kleinen Robben
In den Nächten, da sich quälen – der Menschen Qualen.

Ich schneide mir die Adern durch – die Träume färben sich rot
Und werden zu Äxten – in der Kinder eigenem Reich
Und zu Laken den Mädchen - die wach blieben
Heimlich zu lauschen – der Liebe Geflüster.


Odysseas Elytis
DIE EINE SCHWALBE

Die eine Schwalbe, teuer der Frühling
Daß die Sonne zurückkehrt, kostet’s viel Müh
kostet Tausende Tote in rollenden Zügen
kostet auch der Lebenden Blut

Mein Gott, Erbauer, hast mich zwischen Berge gestellt
Mein Gott, Erbauer, schlossest ein mich ins Meer

Es ergriffen die Weisen den Körper des Mai
senkten hinab ihn ins Grab, ins Meer
sperrten ihn in einen tiefen Brunnen
und die Unterwelt wittert Finsternis

Mein Gott, Erbauer, im Flieder auch du
Mein Gott, Erbauer, rochst das Auferstehn


Jakovos Kambanellis
DAS BROT AUF DEM TISCH

Das Brot auf dem Tisch
das Wasser im Krug
Der Krug auf der Stufe
dem Dieb gib zu trinken.

Das Brot auf dem Tisch
das Wasser im Krug
Der Krug auf der Stufe
gib Christus zu trinken.

Gib, Mutter, dem Wanderer,
gib Christus, dem Dieb gib,
gib, Mutter, ihm, daß er satt wird,
meine Liebe, gib ihm zu trinken.

© Deutsche Übertragung von Asteris und Ina Kutulas

 

 

zurück zur Themenauswahl