Thanos Mikroutsikos und die jungen Rebellen


In Griechenland spielte das „künstlerische Volkslied“ bei der Verbreitung der griechischen Dichtung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Schon der erste Liederzyklus dieses Genres, Theodorakis’ „Epitafios“ nach Worten von Jannis Ritsos, wurde ein grandioser Erfolg, was sich in der folgenden Zeit oft wiederholte: „Theodorakis hat die Dichtung aus den dunklen Bibliotheken an die frische Luft geholt und sie auf den Tisch des Volkes gestellt, neben das Glas und das Brot“. Diese Feststellung des Autors Jannis Ritsos hatte eine für Griechenland ungewöhnliche Substanz: Verse der beiden Nobelpreisträger Seferis und Elytis waren, nach deren Vertonung durch Theodorakis, in aller Munde. Bekannt wurden aber durch die Zusammenarbeit von Musikern und Poeten auch die Texte jüngerer Autoren, weil sich mit der Zeit immer mehr Komponisten dieser Bewegung anschlossen.

Eine bestimmte Tendenz wurde nach der Junta-Zeit (1967-74) immer deutlicher: einerseits eine stärkere Subjektivierung in der Aussage von Kunstwerken und andererseits die Notwendigkeit, die einfache Lied-Form – die schon durch den Inhalt der gewählten Dichtungen erzwungen war – zu sprengen. Diese qualitative Weiterführung ist vor allem im Schaffen des 1947 geborenen Thanos Mikroutsikos repräsentiert, der die im „künstlerischen Volkslied“ aufgehobenen musikalischen Traditionen des demotischen (ländlichen) und laischen (städtischen) Liedes akzeptiert und als Material für seine Kompositionen verwendet, die von einfachen Liedern bis zur elektronischen Musik reichen. Der Dichter Jannis Ritsos (1909-1990) war in seinen Werken gegenständlich, „realistisch“, sinnlich und dadurch unpathetisch. Diese Art zu schreiben kam Mikroutsikos' Intentionen sehr entgegen, so dass er mehrmals Ritsos-Texte vertonte. Die 1975/76 entstandene „Kantate für Makronisos“ dokumentiert am eindrucksvollsten die für Griechenland neue stilistische Ausdrucksweise des Komponisten, der auf souveräne und eigenständige Weise Tradition und Neue Musik (Aleatorik, Tonband, naturalistische Geräusche) miteinander verbindet. Sein ästhetisches Konzept brachte Mikroutsikos 1980 auf den Punkt: „Kunst ist eine Form von Arbeit und als solche birgt sie das Moment des Experiments in sich, so dass jedes Mal eine neue spezifische Form des Realismus entsteht, die in der Lage ist, die komplexen Probleme einer neuen Epoche auszudrücken.“ Die Arbeit an der „Mondscheinsonate“ (1979/81) - ein Werk, das Ritsos im Juni 1956 schrieb – geschah im Auftrag des Nouveau Theatre de Belgique, für das Mikroutsikos schon zahlreiche Theatermusiken komponiert hatte. Sie ließ eine eigenwillige Lesart dieses Monologs gewahr werden: Die Musik übernimmt einfühlsam und nachempfindend die Illustration der romantischen, wehmütigen Atmosphäre der Dichtung, überlässt aber der Schauspielerin die Möglichkeit einer extrem entgegengesetzten Deutung: der eigentlichen.
Die Identifikation ist allemal gegeben: Sie/Er ist ein in sich und in der Gesellschaft gefangenes, ein von sich und der Gesellschaft entfremdetes Tier. In den leisen, romantischen Tönen verbirgt sich die gesamte Frustration des modernen Lebens, der Abgrund der Traum-Losigkeit. Im Haus der Frau, in ihr selbst, ist keine Utopie mehr möglich; aus der inneren und äußeren Belagerung befreit sich nur der, der die Kraft hat zu sagen: Ich habe bisher nicht gelebt. Eine negative Katharsis also.

Mikroutsikos wählte nur einige Zeilen aus der „Mondscheinsonate“ und montierte diese zu einer neuen inhaltlichen Aussage. Ähnlich verfuhr er bei der „Studie auf Majakowski“ (1976), die jene vom Komponisten angestrebte Koexistenz, ja Vermischung von tonalen mit atonalen Elementen in der Musik überzeugend dokumentiert – die vertonte Dissonanz ist allemal aktuell und entstammt nicht nur dem Jahre 1930:

Dich liebend, junges Volk, gesund und aufgeweckt,
hat der Poet den Schwindsuchtspeichel aufgeleckt
mit der gerauten Zunge der Plakate.
Gleich eines Urzeit-Riesen Saurier-Schweif
werd ich in deiner Zeit museumsreif.
... Erschein ich einst in lichter Zukunft vorm Parteigericht,
über der Bande dichtender Betrüger, Schieber, Kriecher,
heb ich als bolschewistisches Parteibuch hoch ins Licht
all meine hundert gut parteigetreuen Bücher.
(Aus: Majakowski, Mit aller Stimmkraft/ Übersetzung: H. Huppert)

© Asteris Kutulas

 

Thanos war Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, als ich ihn kennenlernte, eine schillernde, anarchische Persönlichkeit, eine Art Kurt Weill der griechischen Musik mit linksextremistischen Tendenzen. Das legte sich mit der Zeit. Seine Vertonung des Langgedichts "Mondscheinsonate" von Jannis Ritsos hatte mich sehr beeindruckt - vor allem dessen melancholisch-laszive Melodieführung. A.K.

 

 

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