Delfi, Heimat

Gedankenverloren in Delfi
Apollo tötete Pytho, die mythische Schlange, vertrieb die Göttin Gäa, die Herrin von Delfi, errichtete auf den Trümmern des alten Heiligtums seinen Tempel, ließ durch sieben ihm treu ergebene männliche Priester die Orakel der „außer sich geratenen“ Pythia, die schon vor seiner Ankunft dieses Amt bekleidete, interpretieren, sie zu „vernünftigen“, zumeist gereimten Sprüchen machen und stellte später das Dogma auf, am Anfang der eigentliche Geschichte stünde das Wort, der Logos, also Er selbst. Am Anfang der Welt sei das Licht gewesen und nicht die Nacht. Von Zeit zu Zeit wird die Geschichte von den Herrschenden umgeschrieben, wird in Neues Denken umgewandelt. Und Apollos hellenische Priesterschaft, Anhänger der delischen Weltauffassung, und die homerischen Sänger, besonders aber die an seiner Ideologie interessierten Seefahrer der ägäischen Inseln, die verständlicherweise nur an Koexistenz und Handel verdienten und erfolgreich die im Raum des Schwarzen Meeres herrschende, blutrünstige Geburtsgöttin Iphigenie zu eine Dienerin der eigenen aufgeklärten, jungfräulichen Artemis degradierten – um nur das bekannteste Beispiel anzuführen -, sie alle also zusammen, sorgten für eine rasche Verbreitung der neuen olympischen Religion.


Die Insel Tauris
würden wir uns anders vorstellen – sagte er -, konkreter, nicht so abgehoben in abgeschiedene Denkregionen, nein, die Insel, durch eine Gemeinschaft ver Verrückten zum Gefängnis um- und ausgebaut, ist unser runder Erdball, eine zum Kreis abgebogene Spirale, denn die schlechten Unendlichkeiten sind uns abgewöhnt worden. Die Insel also, unser Ozean, in den hinein wir geworfen werden, Goethe hätte heute umsonst versucht, das lichte Hellas zu erreichen, unendliches Taurien, in das wir geworfen sind. Hellas, in unserem heutigen Denken die unauffindbare Insel, müßte neu geschaffen werden: in uns. Und sicher, kleine Kinder statt Ferkel verspeisen wir nicht mehr, dafür lauter kleine kreisförmige Gegenstände, deren Beschaffenheit uns ein Rätsel bleibt.

Das alles ist hinlänglich bekannt. Heute, da sich das apollinische Denkprinzip durchgesetzt hat, versuchen sie die Götter und ihre Zeichen, die Statuen, vergeblich vor dem Vergessen zu retten: in den antiken Museen laufen strenge Wärter herum und fuchteln wird mit den Armen in der Luft, sobald sie einen Touristen entdecken, der sich zusammen mit den Statuen fotografieren will: „Keine Menschen!“, schreien sie, „Halt! Nur die Statuen!“: die Götter haben sich inzwischen in Luft aufgelöst. Und die Menschen, begierig, sich mit ihnen, also mit ein wenig marmorner Luft, auf einem Stück Papier zu verewigen – blasphemisch sogar in den Augen der orthodoxen Kirche; was man mit dem einen Glauben macht, macht man auch mit jedem anderen. Aber schon seit dem Beginn des neuen Zeitalters hatten sich fanatische Mönche und andere christliche Gläubige am Modernen Aussehen der Statuen beteiligt; abgeschlagen wurden die Nasen der weiblichen Koren, abgetrümmert die Penisse der männlichen Statuen. Gleich die Gebärden mächtig werdender Religionen.


Steine, nochmals Steine ...
Breit lagernde Hitze auf schmalen Zypressen bohrende Luft flirrendes Wirkliches zwischen geborstenen Marmorblöcken (du sagtest "verdeutete Vergangenheit") abgestorbne Gräser graugrün wippen in lauen Stößen krüpplige Baumstümpfe ungestalt in öder Vorzeit Atmosphäre durchmoost von Körpergeruch Mischung Säuer-Süßlich dazwischen ein Schuss Deo möglich bac oder mennen wann verflogen Fetzen Sprache Flüche Pfiffe spitze Trillerpfeifen die Staatliche Archäologische Gesellschaft mit gelangweilter Miene seltsames Verrenken keuchendes Atmen der Hinaufhastenden herirrende Augen suchende durch Kamera schauende eilig in Bücher senkendes Starren balancierende Seiltänzer zwischen Mund (wund/rund blitzte es in mir) und Regenschirm lautloses Sacken ins eigne Denken die heilige Erde so nannten die Alten und was ich dachte mich beiseite räumen sehen können endlich sehen Schwimmen in der Weite des Meeres …

Steine, nochmals Steine, irgendwelches Licht, Holztüren, Gräber, Kochtöpfe, Vögelchen, viel Gelb, Kreuze, Schriften und irgendwelches anderes Zeug, vielleicht auch gar nichts, ein Meer, ein Fluss, ein paar Berge, paar tausend Olivenbäume, 'ne Menge Hohlköpfe, die meisten Genies, und das Ganze von Anfang an, irgendwie...

Jannis Ritsos
Iniochos 1970

Hier der kupferne Jüngling
mit dem geraden Stirnband,
mit den erstarrten Augen –
nachgiebig und fremd,
der die abgebrochenen Zügel hält
mit ruhiger Hand,
aufrecht
über seinem nichtvorhandenen Wagen –
aufrecht sagst du?
aufrecht. Das übrige
unter den Steinen und Jahren
uneingelöst, unwiederbringlich, verloren.
„Nur das Nichts unzerstückelt“, sagte er
und bewegte seine beiden Finger
berührte den kupfernen Chiton von Iniochos.

Ich sah mir den Wagenlenker an, den bronzenen. Feinnervig, stumm. Aufrecht, angeblich, auch unser Gang, wie der unserer Vorfahren. Das fiel mir ein. Was das andere ist, so seltsam verlorengegangen? Hier, der heilige Ort, wo ich mich umdreh umdreh, skandiere gemählich alle Namen, die ich beizeiten meiner Zukunft gegeben hatte, "hier, hier ist der Ort, dort, dort ist der Hort". Du schlenderst durch den antiken Müll, die Abfuhr verspätet sich auch heute, es wird gestreikt im ganzen Land. Was Tun, Nichtstun, siehst mich an, dann das Werkzeug, altes, die berühmte Axt – unwillkürlich muß ich an den Raben von Edgar Allan Poe denken: Nimmermehr Nimmermehr Nimmermehr –, so viele Morde und Hinrichtungen in unserer aller Namen. Bucharin mußte dran glauben, viele andre auch. Und ringsum diese Gesichter, so eindringlich vom Dichter beschrieben, alles umsonst, die Schlacht verloren, nur die Klugheit bleibt, kalter Schauer. Nenikikamen!, schreist du, Nenikikamen!, fällst tot um. Und des Denkens permanente Deformation. Und die Gedanken schieben alles andere beiseite – Nenikikamen! Nimmermehr!, unentwirrbares Knäul, haben wir das gedacht am Ende?


Iniochos als Autofahrer
...das leuchtende Kunstwerk im Museum von Delfi, ein Symbol, die Statue des Iniochos. Ein einzigartiges Zeugnis ästhetischer Vollkommenheit, das einer großen Epoche (des 5.Jahrhunderts v.Chr.) entstammt. Es steht für viele Dinge. Aber daß ein multinationaler Konzern, der "MERCEDES-BENZ" heißt, diese Statue mit sich selbst in Verbindung bringen würde, hätte keiner für möglich gehalten. Und doch... Iniochos also wirbt im Fernsehen für die Autos der genannten Firma. Morgen wird möglicherweise Aphrodite von Milos für Unterwäsche und Hermes von Praxiteles für Rasierklingen werben...

„Sagt es dem Herrscher: zerstört ist die kunstgesegnete Stätte Phoibos hat kein Heim mehr und keinen prophetischen Lorbeer; Nicht mehr dient ihm die Quelle, verstummt ist das murmelnde Wasser.“

Der letzte Spruch der Priesterin aus dem Jahre 363, die letzte delfische Weissagung. Keine Andeutung mehr, keine Kraft mehr zur Andeutung: “Der Herrscher, dem das Orakel in Delfi gehört, verkündet nichts und verbirgt nichts, sondern er deutet nur an”, schreibt Heraklit.
Geschichtslos geworden, ständig die Erscheinung der Geschichte vor Augen, im flimmernden Fernsehen etwa oder in bunten Illustrierten – Abkürzungen der internationalen Fluglinien, raunende Beschwörungen, Schlüssel zu unserer eigenen Vergangenheit – architektonische Fakten buchstabierend, müssen wir unsern Weg suchen durch das Labyrinth der "Heiligen Straße" von Delfi, beginnend zwischen den Felsen mit dem reinigenden Wasser, der Kastalischen Quelle, links Skyla, rechts Charybdis; die Phädriaden.
"Die ungeheuren Mengen von Wissen – oder doch wenigstens von Daten –, die das 19.Jahrhundert angehäuft hat, haben zu einem gleichermassen ungeheuren Unwissen geführt", meinte Eliot, und wir laufen durchs Museum, bleiben stehen vor der bronzenen Statue des Iniochos, des Wagenlenkers, buchstabieren dann AN - TI - KE, sollen erschauern, fühlen natürlich nichts, also noch einmal AN - TI - KE, AN - TI - KE, immer ein Vokal gepaart mit einem Konsonanten, schöner Beginn für anderes, AN-AGNORISIS oder auch nur AN-TI oder gepaart als AN-TI-CHRIST oder als AN-TI-QUITÄT (ein wieder modern gewordenes Altes, treffende Umschreibung für historische Wechselbäder), wieder der Versuch: TI-NNEF für minderwertige Ware oder TI-TA-NIA für die Titanentochter aus der Mythologie, am besten jedoch TI-MOKRATIE, das Gegenteil von Demokratie, ich bemerkte, wie sich das weiterführen ließe, bloße Spielerei, höchstens Wissens-Spiele, das Eigentliche steckte schon immer im Vagen, Verborgenen, Gestrichenen, Unausgesprochenen – das Zwischen-den-Zeilen-Seiende, wie man sich heute ausdrücken würde; genauso wie bereits in Delfi: "Der Herrscher, dem das Orakel in Delfi gehört, verkündet nichts und verbirgt nichts, sondern er deutet nur an", die alte Kunst, ja die Grundlage jeder Kunst, Demagogie und Wahrheit, von Heraklit unironisch als bewußt eingesetzter Doppelsinn und gewollte Vieldeutigkeit beschrieben. Das Wesen steckt in den Falten deines Gewandes, Iniochos.


Katrakis spielte den Boten ...
Die Zeit schmilzt hier im Ort zusammen. Der Ort konzentriert die Zeit – folgenlos, irgendwie „ohne Anlass“ ... Das empfinde ich besonders auf dem Weg vom Theater zum Stadion. Links und rechts Mandelbäume und Zypressen. Doch warum ist dieses Gefühl der Nähe zu einem unfassbaren Früher gerade hier so überwältigend? Vielleicht weil hier keine vergänglichen, keine gegenwärtigen Zeugnisse menschlichen Seins existieren und die Beziehung zu unseren antiken Vorfahren, zu diesen marmornen Überbleibseln nur in unserem Bewusstsein, unserer Phantasie besteht. Wie eine sanfte Erinnerung beim Anblick der Relikte.
Das Apollinische und das Dionysische: Kann mir sehr gut vorstellen, wie beiderlei Sicht auf die antike Kultur möglich wird, steht man vor diesen Bauten. Ach ja ... und Hauptmanns „Griechisches Feuer“.
Beeindruckend der Kontrast zu den Felsen im Hintergrund. Bin innerlich unruhig. Kann mich der Atmosphäre nicht hingeben. Ich ahne, welche Kraft die Aufführung der „Perser“ den Häftlingen der KZ-Insel Makronissos gegeben haben mochte. Katrakis spielte den Boten.


Jannis Ritsos
Delfi

Die drei steinerne Koren, frei schwebend, hoch oben
Kleobis und Biton, als würden sie aufbrechen und ankommen,
der Sieger Agias, in Gedanken versunken nach seinem Sieg,
schön in seiner Sinnlichkeit. „Das bleibt“, sagte er;
„für uns, die noch geblieben sind“, setzte er hinzu. Steine,
ruhige Steine der Liebe,
marmorne Phalli in Erektion. Erinnern wir uns?
Vergessen wir uns? Vergessen wir?
Setzen wir uns auf den Stein, ertragen wir’s;
ertragen wir’s wieder, fröhlich einatmend
den Rauch von den Scheiterhaufen der Toten.

Jannis Ritos’ delfisches Griechenland 1970. Keine „eigenen Worte“ mehr, nur noch die Steine, Gegenstände, die man anfassen kann. Da Einzige, was bleibt, während und nach der Deportation, während und nach dem Hausarrest: Eine eisengeschwängerte Luft und die eisernen Schritte der Erinnyen wie im Gedicht von Kavafis. Imaginäre Phalli, imaginäre Liebe. Die meisten Dichter im Exil. Delfi kein Pilgerort mehr, Delfi völlig eingehüllt von den Totendünsten der täglich an der Gewohnheit sterbenden Menschen.


Wahrredender Gott
Erstarrt sind Kleobis und Biton, für immer erstarrt, das SCHÖNSTE bekommend, was die Götter haben: den ewigen Schlaf. Nichts mehr sehen müssen, nicht mehr atmen müssen. Militärdiktaturen, Dialekte der Aufklärung, japanische Computer, UNSER VOLK und UNSERE JUGEND, ein buntes Feuerwerk, Schwerhörige, Tapezierer, Kleinwarenhändler, nichtssagende Wörter, aber WÖRTER, vielleicht zusammenhängende Worte, manchmal Sätze, viele Erklärungen und doppelt so viele Missverständnisse, zwei oder mehr Idioten, der Heilige Geist, der, der kam und alles veränderte, fünf Mal am Tag Pythia, Spinoza, Ruhe bewahren und Tee trinken, und natürlich Hegel: „Die gegenwärtige Wirklichkeit ist ein anderes an sich und ein anderes für das Bewußtsein... Die eine ist die Lichtseite, der Gott des Orakels, der, nach seinem natürlichen Moment aus der alles beleuchtenden Sonne entsprungen, alles weiß und offenbart...
Aber die Befehle dieses wahrredenden Gottes und seine Bekanntmachungen dessen, was ist, sind vielmehr trügerisch. Denn dies Wissen ist ein seinem Begriffe unmittelbar das Nichtwissen, weil das Bewußstsein an sich selbst im Handeln dieser Gegensatz ist.“ hegel mußte keineswegs nahe bei Delfi der Sphynx antworten, mußte nicht unschuldig schuldig werden, hätte es auch nicht getan, um den Preis, heute als freudvoller „Hegel-Komplex“ in aller Munde zu sein. Sag mir, wie dein Sex-Benehmen ist, und ich sage dir, wer du bist. Also, ich sprach von Gewohnheit, von archetypischer Erstarrung... Verstummt ist das murmelnde Wasser... Aber auch ohne all das bleibt uns nur das eine: die nackten Steine und unsere Beziehung zu ihnen. Und die Frage: Wozu brauchen wir sie?


Im Museum
Das Typische bei den kleinen Statuetten (aus Bronze), 5 bis 20 cm hoch, ist ihr betont herausmodelliertes Geschlechtsmerkmal. So klein und so vergröbert und so symbolisch auch gearbeitet wurde, stets ragen der Penis bei den männlichen und die Brüste bei den weiblichen Figuren hervor. Interessant auch die Darstellungen auf Rüstungen beispielsweise: Beischlaf eines Widders mit einer Frau, die an ihn gefesselt scheint.
Sich einprägende Bilder:
- Nabel der Welt, Omphalos
- Sphinx
- Fries mit der Darstellung des Kampfes von Troja, u.a. Hektor & Aineas gegen Menelaos & Aiax
- Streit Apollons und Herkules’ um den Tripod
- Rat der Götter
- mykenische Idole (1400-1100 v. Chr.), fast alles Frauenstatuetten, jedenfalls keine, die Männer zeigen, vom Tempel der Athene und des Apollon
- in der klassischen Periode: viele Bildnisse „anmutiger“ Männer

... und Katrakis spielte den Boten.

© Asteris Kutulas, irgendwann in den achtzigern



******************************


17.08.84, Dresden
Der Freitag ist bald vorbei. In vier Tagen fliegt meine Maschine nach Athen – nach Hause? Zumindest der Herkunft nach, der Mentalität nach auch? Vielleicht. Doch was hat das zu sagen? Meine Vorbereitungen sind eher flüchtig; immerhin kommt Heinz nach Griechenland und wir wollen einige Tage nach Delfi fahren, in meine felsbeherrschte Heimat. Gibt es das eigentlich: „geistige Heimat“? Zumindest existiert im Griechischen kein adäquater Ausdruck dafür. Das Syndrom deutscher Geistesgeschichte – inwiefern bin ich selbst davon berührt? Eines scheint festzustehen: Auch meine Entwicklung ist verstrickt in ein dichtes Netz biografisch-seelischer Zustände. Wieder so ein Wort: Seele. Das heißt: psychí. Psyche also, doch so unzulänglich, je mehr Abstriche man bei der Übertragung aus dem Griechischen machen muß. In der deutschen Sprache stets eine Gratwanderung, bedeutet das Wort im Griechischen viel. Meine Großmutter stöhnte immer: Mein Seelchen! – wollte sie tiefste Liebe mit tiefster Sanftheit verbinden. Und als mein Großvater gestorben war und ich sie nach einiger Zeit besuchte, gingen wir zu seinem Grab, und in jenem monotonen, doch ausdrucksstarken, herzzerreißenden Tonfall griechischer Trauer begann sie zu klagen: „Oh meine Seele, hörst du mich? Dein Enkel ist gekommen, dich zu besuchen. Oh mein Fleisch, meine Seele ...“ So haben wohl in Griechenland seit Jahrhunderten Frauen ihren Schmerz herausgepreßt in kurzen, rhythmischen Lautwellen. Der Tod ist kein anonymes Ereignis, er ist allgegenwärtig, erdig. Doch die „Seele“ scheint ihn überdauern zu können: auf höchst unbewußte Weise tobt der elementare Kampf zwischen zwei Lebensformeln. Und nur darum „tobt“ er. Jede Abstraktheit, die wir ahnen wollen, findet keinen Grund in dieser Heimat, Griechenland.
Auch das ist Vorbereitung, sicher, sogar wichtig für eine Reise, die mir möglicherweise zum erstenmal tieferes Nachdenken über die eigenen Wurzeln bescheren wird. Ich lese Ritsos’ lyrischen Monolog „Delfi“ und stelle verblüfft fest, daß zur gleichen Zeit, nämlich 1961, auch Seferis einen großen Essay zu Delfi schreibt, der mit den Sätzen beginnt: „Am Anfang war der Zorn der Erde. Dann kam Apollo und tötete den chtonischen Drachen, Python. Man ließ ihn verfaulen. Davon soll die erste Bezeichnung des Ortes Delfi herrühren, Pitho (Wurzel pith = verfaulen). In diesem Urgrund wurzelte und hier erstarkte und erstarkte die Kraft des Gottes der Harmonie, des Lichts und der Wahrsagekunst.“ Eigenartig ist bei Seferis immer dieser idealisierende, mystifizierende Grundton: als wolle er eine neue Mythologie aufbauen. Ganz im Gegensatz dazu Ritsos. Wenn es darum geht, Ausgewogenheit zwischen apollinischem und dionysischem Verständnis der Mythologie zu erlangen, wird die bedeutende Rolle deutlich, die Nietzsche dabei spielte, und das ist bei den griechischen Intellektuellen vor allem durch Kazantzakis’ Nietzsche-Übersetzung und Propagierung sehr präsent. Sikelianos, Kazantzakis, Nietzsche, Hauptmann/Goethe, Plutarch, Theodorakis ...

9.4.1987, Leipzig
Der deutsche Geist Gerhart Hauptmanns in Hellas, dessen “finstre Wahnswelt” im Stück “Iphigenie in Delphi”. Vielleicht ist die dunkle Seite der Welt gemeint, die Voraussetzung, die Grundlage für unsere. Und bei Hauptmann wieder der Endpunkt der Geschichte. Wieder angekommen in den “kannibalischen” dunklen Jahrhunderten, lange vor Christus. Die noch nicht – durch den griechischen Logos – “geoffenbarten Antinomien”, wie Ritsos es im Gespräch mit uns formuliert hatte. Und Hauptmanns Iphigenie wählt den Freitod in Delfi, denn sonst hätte die finstre Welt, die sie repräsentierte, weiter bestanden. Hauptmann läuft ein Jahr nach Beendigung der Arbeit an dem Stück durchs zerbombte Dresden.

© Asteris Kutulas

 

Postskriptum
Gang zum Orakel von Delphi

Diesen soll ich entstammen, Gott
mächtigen Ruinen, blinden Sehern
bleich im Licht fremder Sonnen.
Meine Welten fernab von hier
Untertanen der Zeit und ihrer eigenen Asche.
Nun
nach vergangenen Zeiträumen suchend
in den Augenhöhlen verwitterte Erde
ich, entgegen allen Gerüchten,
als Einziger waffenlos.
Die Anderen füllen mit Staub mir den Mund
im Mittagslärm der Grillen und ihrem tieferen Schweigen.
Lautlos stürzen Elektromasten Brückenpfeiler Präsidentenpaläste
vergebliche Architektur eines sehenden Jahrhunderts.
Seiner epochalen Verirrung
widersteh ich nur im Traum
und wenn die Fliege ich zwischen meinen Fingerkuppen zerdrücke
und Elektras Beil zerstören will, dabei vergessend
daß Stahl nicht zu Asche wird und ich
die Morde der anderen nicht sühnen kann.
Meinem Schritt vorauseilen so Meldungen:
Ich sei der verlorene Sohn, das Oberhaupt
der Revolutionären Armee, ein ewiger Ketzer.
Geheimdienstleute und Propagandaminister
schlachten mich aus, ironisch lächelnd.
doch nicht bis zu mir können sie vordringen
mächtig, gepanzert, verhängnisvolle Feinde
auf Fahnen Che, gekreuzigt
und Aris Veluchiotis auch.
Ich im Trauerzug, ich der Mörder,
der Bombenleger hier
am Nabel der Welt
Auch einst saßen hier Gauner und Kapitalisten
Beendet der Flug, beendet die Deutung.
Ein Kind sammelt Steine, baut Burgen Menschen Geschütze Panzer
Fotoapparate klicken, Tourismus und Geschäfte.
Verkauft mein Gedächtnis, Erinnerung keine.
Geblieben sind Leuchtreklamen und weggeworfene Plastebeutel.

Ich schlafe weiterhin mit Frauen, nehme ihre Brustwarzen
zwischen die Lippen, beglücke mich an ihrer Wollust
dann im Nebenzimmer befriedige ich mich selbst
wie an allen Universitäten, wo ich meinen Verstand
vernagelte, klüger und klüger werdend.
Auf dieser heiligen Erde, zurückgekehrt, nackt
im harten Licht der Sonne vergaß ich alles.
Alpträume kommen und gehen
und mein Sperma steigt mir in den Kopf.

© Asteris Kutulas, 1985


Als Reminiszenz an Sernikaki, dem Heimatdorf meines Vaters, unweit vom Orakelort Delfi, übersetzte ich Mitte der achtziger Jahre den lyrischen Monolog „Delfi“ von Jannis Ritsos. Nicht ohne vorher mehrmals in Delfi gewesen zu sein und Wasser von der Kastalia-Quelle getrunken zu haben. Ich bat Ritsos für diese bibliophile Ausgabe Original-Siebdrucke zu zeichnen, was er mit großem Vergnügen tat:

Jannis Ritsos. Delfi. Mit Originalillustrationen des Autors, Übertragen und mit Anmerkungen von Asteris Kutulas, editions phi, Echternach 1987

 

 

zurück zur Themenauswahl