Bizarre Städte (1987-89)

Interview von Elgin Haelmstedt, Haiko Hübner und Stefanie Maach mit Asteris Kutulas am 7.6.1999


Maach: Sie schreiben in Ihrem Artikel in der Zeitschrift "Die Sklaven", dass Sie die Idee zu BIZARRE STÄDTE mit Johannes Jansen gemeinsam hatten. Für mich ist es schwierig, mir vorzustellen, wie Sie gleich im ersten Band an die sehr renommierten Autoren herangekommen sind, zum Beispiel Heiner Müller und Volker Braun. Waren Sie schon in der "Szene"? Kannten Sie diese Leute schon?

Kutulas: Ich habe von 1979 bis 1984 Germanistik in Leipzig studiert, hatte also ohnehin mit verschiedenen Autoren zu tun. Und mit Leuten, die mit der so genannten Szene in Berührung standen. Wenn man offen dafür war, über den Tellerrand guckte und vor allem das Spannende in dieser doch eingeschlafenen Gesellschaft suchte, kam man unweigerlich mit der “Szene” in Berührung. Außerdem war ich mit Peter Geist aus Leipzig befreundet, durch den ich einige jüngere Autoren kennenlernte. Und verschiedene Leute vom germanistischen Institut machten mich wiederum mit anderen Autoren bekannt. So kam ich mit Johannes Jansen zusammen, aber auch mit Steffen Mensching, Gregor Kunz und Gerd Adloff, mit denen ich viel zusammengearbeitet habe. Mein Germanistik-Studium Anfang der achtziger Jahre hab ich wirklich genossen. Es war eine unglaublich intensive Zeit.
Wichtiger jedoch war, dass ich 1980 begann, mich systematisch mit Nachdichtungen und Übersetzungen aus dem Griechischen zu beschäftigen. So veröffentlichte ich bis Anfang der neunziger Jahre in Verlagen der ehemaligen DDR und BRD insgesamt 35 Bücher von Autoren wie Jannis Ritsos, Giorgos Seferis, Odysseas Elytis, Mikis Theodorakis, Konstantinos Kavafis, Nikos Engonopoulos usw. Da das sehr bekannte und anerkannte griechische Autoren waren, gab es natürlich sofort einen Draht zu verschiedenen DDR-Autoren. So lernte ich Heinz Czechowski, Volker Braun, Paul Wiens, Fritz Rudolf Fries oder Christa Wolf kennen. Diese Nachdichtungen waren wie Visitenkarten. Man merkte, dass da jemand war, der arbeitete. Zweitens war wichtig, was ich übersetzte, welche Texte ich auswählte. Zunächst habe ich mich mit Ritsos und Elytis beschäftigt, später auch mit Seferis. Also die bedeutendsten griechischen Lyriker – immerhin waren zwei Literaturnobelpreisträger darunter. Ich begann, in “Sinn und Form”, der gewissermaßen elitärsten offiziellen Literaturzeitschrift der DDR, zu veröffentlichen, was ja so etwas wie ein “erlauchter Club” war. Auch daher kannten mich viele Autoren.

Hübner: Kommen wir gleich zur Öffentlichkeitsdebatte mit Thulin alias Klaus Michael. Sie stellen in der Erwiderung auf seinen Artikel die Frage: "Sind es überhaupt die BIZARREN STÄDTE, für die sich Thulin interessiert?" Ähnlich ging es uns auch, wir haben uns ziemlich lange damit beschäftigt und irgendwann wurde es für uns immer schwieriger, die Widersprüche zu sehen, die Klaus Michael den BS vorwirft. Liegt das jetzt daran, dass die ganze Sache zehn Jahre zurückliegt, oder war das damals auch schon so zweitrangig – ob nun Glasnost oder nicht, ob es um eine Autorenzeitschrift geht oder nicht. Wir haben letztendlich den Eindruck, dass Klaus Michael private Ressentiments öffentlich gemacht hat.

Kutulas: Es ging nicht nur um private Ressentiments oder um Konkurrenzkampf. Das alles wäre ja normal gewesen. Es ging darum, dass BS innerhalb dieser Szene aus mehreren Gründen eine gewisse Eigenständigkeit hatte. Das lag in der Entstehung und der Geschichte der BS begründet. Volker Braun sagte damals zu mir: "Du bist der Neger in der DDR."

Hübner: Im Sinne von fremd oder außenstehend?

Kutulas: In gewisser Hinsicht. Ich hatte mehrere Privilegien: Erstens besaß ich einen griechischen Pass und konnte reisen, wie alle aus der “griechischen Kolonie” in der DDR seit den siebziger Jahren, und das war auch kein Problem für unsere deutschen Freunde. Es gab keinen Neid, weil es nie anders gewesen war. Der andere Vorteil bestand darin, dass ich mit Mikis Theodorakis, dem griechischen Komponisten, seit Anfang der achtziger Jahre befreundet war und viel zusammengearbeitet habe.
Er war ja ein berühmter Mann, was für mich einen gewissen Schutz bedeutete. Dadurch war es schwer – nicht unmöglich, aber schwer –, von Seiten der Stasi an mich heranzukommen. Seit 1981 habe ich, zusammen mit Peter Zacher aus Dresden, für Theodorakis einige wichtige Produktionen in der DDR arrangiert. Seit 1986 organisierte ich für ihn vor allem im Westen Konzerte – von Israel bis Finnland und von Australien bis Spanien und Chile. Das Verhältnis war ungefähr 1 : 25, also ein Konzert in der DDR (in den anderen sozialistischen Ländern war er ja noch halb verboten) und 25 Konzerte im Westen.
Ich will damit sagen, dass meine “griechische” Mentalität und Daseinsweise auch bei meiner Arbeit an den BS sicherlich eine große Rolle spielten. Zweitens muss betont werden, dass es seit Mitte der achtziger Jahre kaum noch wirkliche Repressionen gegen Literaten in der DDR gegeben hat. Mit einigen Ausnahmen: z.B. bei Peter Böthig, der ein wichtiger Mann in der damaligen Szene war und den es Ende der achtziger Jahre erwischte. Genauso wie Thomas Haufe in Dresden wurde auch er verhaftet. Diejenigen aber, die massiv unter Repressionen zu leiden hatten, waren jene, die die ersten unabhängigen Literaturzeitschriften Anfang der achtziger Jahre herausgaben. Zum Beispiel Uwe Kolbe und viele andere, also aus der Generation vor uns. Die hatten richtige Probleme – Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, berufliche Schwierigkeiten und so weiter.
Für mich war es also 1987 ungefährlicher als für andere, so eine Zeitschrift zu machen. Eine Ausweisung aus dem Land hätte die DDR-Staatsmacht natürlich betreiben können. Unter diesem Aspekt fand ich Klaus Michaels Artikel sehr bedenklich. Er lieferte der Stasi – sicher ohne es zu wollen – bestimmte Argumente, gegen den Herausgeber der BS vorzugehen. Wenn man seiner Argumentation bis zur letzten Konsequenz gefolgt wäre (BS als “politische” und nicht als “inner-literarische” Angelegenheit zu betrachten), hätte ich eigentlich verhaftet werden können. Das war das einzig Bedenkliche an seinem Artikel. Ansonsten fand und finde ich solche Auseinandersetzungen ganz erfrischend.

Maach: Klaus Michael schreibt, dass BS eigentlich die Kunst instrumentalisieren würde, dass es gar nicht um Literatur ging.

Kutulas: Das hängt davon ab, ob man Kunst als Waffe oder als Ästhetik ansieht. Für mich ist sie beides, man kann es nicht trennen. Für mich war die Herausgabe der BS in erster Linie ein Ausdruck von Freiheit, neben dem Spaß mit und um die Literatur.

Haelmstedt: Uns hat nur diese Aggressivität gewundert, mit der Thulin nur Ästhetik einfordert, gerade in dieser politisch aufgeheizten Situation. Das haben wir nicht verstanden.

Kutulas: Ich auch nicht. Das war der springende Punkt. 1988 kam es zu einer gemeinsamen Vorstellung der BS und der “Ariadnefabrik” in der Akademie der Wissenschaften. Rainer Schedlinski stellte seine "Ariadnefabrik" vor und ich die BS. Während des Gesprächs sagte Rainer Schedlinski den Satz: "Jede Öffentlichkeit über 100 ist mir suspekt." Ich habe sofort erwidert: "Jede Öffentlichkeit unter 100 ist mir suspekt." Ich hatte, ohne es zu wissen, ins Schwarze getroffen. Es ist völlig klar, dass die Stasi genau das wollte, denn jede Öffentlichkeit – zumal “innerliterarische” – unter 100 Personen war noch zu kontrollieren.
Ich meinerseits ging noch weiter und sagte, dass ich, wenn ich könnte, die BS normal veröffentlichen würde. Unausgesprochen stand aber damit der Satz im Raum: Selbstverständlich ohne Zensur. Darin bestand ja die Absurdität des Systems, literarische Texte a priori zu kriminalisieren, um dem Autor anschließend die Möglichkeit zu geben, den Staat vom Gegenteil zu überzeugen. Das war wirklich krank und eine Praxis, die ich schon durch die konkrete Veröffentlichungsweise der BS ablehnte.
Ich habe später mit dem Gedanken, die BS zu offizialisieren, sogar öffentlich gespielt, unabhängig davon, ob ich das gewollt oder gemacht hätte. Wahrscheinlich hätte es mich dann gar nicht mehr interessiert. Und realistisch war es ohnehin nicht. Aber ich konnte mir nicht verkneifen, die für die DDR irrwitzige Frage zu stellen: “Worin liegt das Problem, so eine Zeitschrift zu veröffentlichen?” Und ich bin so weit gegangen zu behaupten, ich hätte dies dem Kultur-Ministerium und dem Aufbau-Verlag vorgeschlagen. Natürlich hatte ich es keinem vorgeschlagen.

Maach: Wir haben gelesen, dass Sie sogar angestrebt hätten, eine offizielle Lizenz zu bekommen. Darüber haben wir uns gewundert: Wie kam er dazu? Welche Motivation stand dahinter?

Kutulas: Das war eine von mir verbreitete Fehl-Information, eine Provokation. Ich erzählte bei einigen Lesungen, dass ich das verschiedenen Verlagen vorgeschlagen hätte. Das ging natürlich gar nicht. Ich habe keinem jemals so etwas vorgeschlagen. Es gab viele solcher Bluffs. Mir machte es Spaß, diese Absurdität ins Extreme zu treiben. Das war ohnehin der Anfangsimpuls, so eine Zeitschrift zu machen: Wieso sollten wir uns von diesem greisen Honecker und seiner debilen Mannschaft vorschreiben lassen, was wir zu denken und zu tun hatten? Man sah doch jeden Tag im Fernsehen, dass der Mann nicht mehr richtig denken und sprechen konnte. Es war eine wirklich kaputte Situation. Die BS waren zunächst eine Trotzreaktion auf diesen Zustand der Literaturlandschaft in der DDR. Das war der Anfangsimpuls, als Johannes Jansen und ich die Idee zu BS hatten. Natürlich hat es viel Spaß gemacht, mit Künstlern wie Kerstin Hensel, Trak Wendisch, Horst Hussel, Kathrin Schmidt, Bert Papenfuß, Barbara Köhler, Matthias “Baader” Holst, Angela Hampel und anderen zusammenzukommen, über Texte zu sprechen, Aktionen zu veranstalten usw. usf. Dieser Spaß war der eigentliche Grund weiterzumachen.

Hübner: Spielte diese ganze Diskussion überall eine Rolle, oder war das eher periphär? War das eine Sache zwischen Ihnen und Klaus Michael oder wurde das woanders auch diskutiert?

Kutulas: Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass mich einige Leute nach meiner Erwiderung angesprochen und mir auch Briefe geschrieben haben, in denen sie fragten, warum ich so hart zu Klaus Michael gewesen sei. Ich antwortete, dass das für mich einfach eine Gelegenheit war, mich zu verschiedenen Themen exponiert zu äußern. Aber für einige Leute war die Sache schon ernst. Denn Klaus Michael hat alle in dem Artikel niedergemacht, die mit den BS zu tun hatten. Die Vehemenz, mit der er Olaf Nicolai oder Peter Wawerzinek angegriffen hat, war unbegreiflich. Ich denke, im Kern ging es ihm schon um die ästhetische Reinheit, den innerliterarischen Zirkel. Die BS schlugen da quer. Klaus Michael hing ja sehr viel mit den “Ariadnefabrik”- Leuten zusammen. Die vom Staat hofierte offizielle DDR-Literatur hatte tatsächlich diese Tendenz, hin zu einer unsäglichen “gesellschaftlichen Poesie”. Daraufhin gab es die begründete Gegenreaktion der jungen Wilden aus dem Prenzlauer Berg, verbunden mit einem Rückzug aus der “Gesellschaft”. Mich interessierte aber diese Ebene nicht. Ich habe in meiner Erwiderung geschrieben, dass BS eine konkrete Zeitschrift mit konkreten Texten sei: z.B. von Heiner Müller, Frank Lanzendörfer, Annett Gröschner, Durs Grünbein, Uwe Kolbe, Adolf Endler, Heinz Czechowski, Christoph Hein usw. Die ganze Argumentation von Klaus Michael wäre zusammengebrochen, wenn er auch nur einen Satz über den Inhalt der BS geschrieben hätte. Er hat aber großzügig vom Inhalt abstrahiert.

Hübner: Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, dann hat Klaus Michael unbewusst diese ganze Argumentation übernommen, aber ihn jetzt irgendwie in die Nähe der Stasi zu bringen, wäre falsch. Nur, was stand dahinter? Wie kam er dazu?

Kutulas: Ich glaube, das resultierte einfach aus der damaligen Situation. Auf der einen Seite gab es diese in ihrer Gewichtigkeit ungleichen ästhetischen Gegenpositionen – Strukturalismus gegen Staatsdoktrin –, auf der anderen Seite gab es mehrere inoffizielle Zeitschriften, die sich aber irgendwie ähnelten, eine vergleichbare Ausrichtung hatten. Mein Konzept war offener. Ich fand gut und spannend, was Papenfuß schrieb, und ich mochte Volker Brauns Texte. Volker Braun mochte die Szene nicht. War mir egal - ich veröffentlichte seine Lyrik neben der von Detlef Opitz. Und so weiter. In der “Szene” gab es dagegen unausgesprochene Verdikte, die mich aber nicht interessierten und an die ich mich nicht hielt. Ich war eben der "Neger", und "Neger" sind Sklaven. Sklaven interessieren sich naturgemäß nicht für Verdikte.

Haelmstedt: Zeigt das nicht auch, dass diese Debatte eine wichtige Rolle gespielt hat?

Kutulas: Ich kann das nicht bestätigen. Ich weiß es einfach nicht. Wenn Sie aber bestimmte Texte aus jener Zeit von Jan Faktor lesen, der u.a. auch in den BS veröffentlichte, dann werden Sie feststellen, dass er einige kritische und selbst-kritische Verweise zu dieser Szene-Weltanschauung und zur "Ariadnefabrik" machte, die gewisse Parallelen zu meinem Standpunkt aufweisen.
Ich habe damals, obwohl ich die ganze Soße in den meisten anderen Zeitschriften als schrecklich empfand, keine Kritik an diesen geübt, weil ich die fragile Freiheit in der Szene nicht durch solche Debatten, obwohl sie schön gewesen wären, gefährden wollte. Wichtiger als jede kritische Betrachtung war, dass sie existierten. Wirkliche Kritik kann man ohnehin nur unter meinungsfreiheitlichen Voraussetzungen üben, die allerdings damals nicht bestanden.

Hübner: Kann man im Prinzip für die "BS" eine Außenseiterrolle annehmen, oder gibt es Parallelen zu einer anderen Zeitschrift?

Kutulas: Von der Herausgeberphilosophie, der Offenheit und von der Struktur her gab es meiner Meinung nach keine vergleichbare.

Maach: Gab es für Sie ein gewisses Gemeinschaftsgefühl in der Szene?

Kutulas: Ich gehörte nicht zur Szene. Was ich aber an der “Prenzl-Szene” gut fand, war, dass es sie gab. Für viele Leute in der DDR war deren Existenz wichtig. Sie dürfen nicht vergessen, dass die Berliner Szene auch auf andere Städte ausgestrahlt hat, so dass man auch in Leipzig, Jena, Dresden, Karl-Marx-Stadt usw. eine alternative Lebenshaltung finden konnte. Egal, ob ein paar Leute in der Stasi waren oder nicht - das spielte ja keine Rolle für die vielen, die drum herum waren. Und wenn die Stasi-Leute durch ihre Existenz die Szene ermöglicht haben, dann "danke ihnen Gott", weil es vielleicht ohne sie die Szene gar nicht gegeben hätte. Die Szene hatte diese anarchische Substanz in sich - das fand ich sehr wichtig.
Für Anarchisten war die DDR in gewisser Hinsicht ein Paradies, weil Geld keine Rolle spielte, es hatte keinen Wert. In diesem Land begannen die Probleme, wenn man anfing zu denken, wenn man die Zeitung aufschlug oder sich die "Aktuelle Kamera" ansah.

Haelmstedt: Kann man die literarische Szene, ähnlich wie die kirchliche, als Nische in der sozialistischen Gesellschaft sehen?

Kutulas: Es gab viele Individualisten, die aufgrund ihrer Biographien zu einer unabhängigen Lebenshaltung gekommen waren. Ich habe viele solcher Leute gekannt. In Berlin gab es tatsächlich noch Nischen, wo es pulsierte. Und wenn es z.B. in Dresden nicht diese zehn, zwanzig Leute gegeben hätte, hätte man dort nicht leben können.

Maach: Sie meinen, dass der Impuls aus Berlin kam und auf andere Städte wirkte?

Kutulas: Es strahlte natürlich aus, denn erstens kamen ja viele aus den verschiedenen Städten nach Berlin und “sendeten” das, was sie in Berlin an Impulsen erfuhren, wieder in ihre Städte zurück. Zum anderen trugen Leute, die aus der Berliner Szene kamen, Ideen in andere Städte weiter.

Haelmstedt: In dem "Sklaven"-Artikel haben Sie noch einmal ganz deutlich geschrieben, dass die Arbeit an den "BS" für die eigene Kreativität überlebenswichtig war. War es auch für das Bleiben in der DDR wichtig?

Kutulas: Ja. Es war so, dass Ina und ich Anfang 1989 beschlossen hatten, auszureisen. Wir sind aber dann im Zuge des Mauerfalls doch geblieben. Die Wende hat unseren Umzug nach Athen um zwei Jahre nach hinten verschoben. 1991 sind wir nach Griechenland gezogen. Es gab zwar nicht mehr den Grund zum Weggehen, aber wir hatten uns irgendwie schon gelöst. Für mich war es auch kein Problem mehr, weil ich kaum noch in der DDR war. 1987 hatte ich das Management von Theodorakis übernommen und war jedes Jahr mindestens vier Monate unterwegs.

Maach: In dem "Sklaven"-Artikel haben Sie geschrieben: “Ich schreibe das alles, um zu zeigen, innerhalb welcher Koordinatensysteme und Reviere tollwütiger Hunde solche relativ harmlosen – ich meine das ohne jede Koketterie – Projekte wie die BIZARREN STÄDTE entstanden sind.”

Kutulas: Relativ harmlos in dem Sinne, dass es nicht mit sehr großen Gefahren verbunden war. Nicht so harmlos wäre es gewesen, wenn ich wie verschiedene andere Leute vielleicht mein Leben oder doch zumindest meine Lebenssituation aufs Spiel gesetzt hätte – das war ja nicht so. Obwohl im Nachhinein ... ich weiß nicht, keine Ahnung.

Hübner: Wer gehörte bei den "BS" außer Ihnen zu den Mitarbeitern? Oft stehen nur Abkürzungen drin. Da konnten wir nur vermuten, um wen es sich handelt. Nur Gerd Adloff war bei einem der Bände ausdrücklich als Mitherausgeber aufgeführt.

Kutulas: Das geschah in einigen Fällen zum Schutz. Ganz wichtig war Ina Kutulas, sie hatte die gesamte Redaktion und die Sekretariatsarbeit übernommen. Dann war Uwe Gössler, der einige Bände betreute, ein wichtiger Mitarbeiter. Die Dresden-Bände sind von Gregor Kunz und Thomas Haufe mit herausgegeben worden. Johannes Jansen hat einige Autoren für die BS gewonnen, die ich nicht kannte. Eine ähnlich konstruktive Rolle spielten auch Gottfried Bräunling, Harald Müller, Matthias Flügge und Gerd Adloff. Xenia Trost war unsere Buchbinderin und damit eine wichtige Partnerin. Und dann gab es noch viele andere, wie zum Beispiel Trak Wendisch oder Lothar Trolle, die bei der Entstehung der BS entscheidende inspirierende Impulse gaben.

Hübner: Und die Exemplare gingen an die, die daran beteiligt waren?

Kutulas: Es blieben kaum noch Exemplare übrig. Diese verkauften wir. Für ca. fünfzig DDR-Mark. Damit haben wir die Kosten gedeckt. Es gab im Westen noch zwei Bibliotheken, die haben die ganze Reihe gekauft. Die Staatsbibliothek hat später einige Rest-Exemplare erworben. Wolfenbüttel auch. Das Literatur-Archiv in Marbach müsste eine vollständige BS-Reihe haben.

Haelmstedt: Herr Kutulas, wir bedanken uns für dieses Gespräch.

© Asteris Kutulas, 1999


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Postskriptum zum ersten Dresden-Band

Nachdem mit dem 3.Band der Bizarren Städte Anfang 1988 gleichsam ein Kreis ausgeschritten war, gingen wir daran, neue Konzepte zu realisieren. Dazu gehörte die Idee von Städte-Heften: also Autoren, Grafiker und Fotografen aus einer Stadt zur Mitarbeit einzuladen. Die "Rahmenbedingungen" und das Umfeld unserer Edition sollten von vornherein die Begrenztheiten (was man darunter auch verstehen mag) des Lokalen sprengen.
Der Dresdner Lyriker Gregor Kunz übernahm in Zusammenarbeit mit Thomas Haufe, der auf diesem Gebiet bereits einige Erfahrung hatte, die gesamte editorische Arbeit. Nachdem zwischen uns grundlegende Meinungsübereinstimmung herrschte, wurde an diesem Heft zum ersten Mal das Prinzip einer "rotierenden Redaktion" ausprobiert. Ich denke, daß dieses Prinzip, mit dem wir nicht vor Mißverständnissen gefeit waren, die Basis für gegenseitige Akzeptanz und wirkliche Zusammenarbeit geschaffen hat.
Blättert man im Sonderheft DRESDEN I, fällt einem sofort auf, daß Provinzielles darin nicht zu finden ist – und damit meine ich nicht nur die Grafik (wobei Leonore Adler auch lyrisches Talent offenbart) und auch nicht nur Wüstefelds, Theilmanns und Wendlands Texte, in denen expressis verbis "Welt" nach Dresden geholt wird. Beeindruckend Wellemeyers frühe Gedichte, Grünbeins souverän geschriebene Komposition und Kunz' sehr eigene Stimme – um nur einiges zu nennen.
Wichtig bei solch einer Produktion ist zweifellos ihr innovativer Charakter – für die Mit-Macher wahrscheinlich (: für das geistige Über-Leben) das Wichtigste überhaupt; das beweist auch Wiemer in seinem hochinteressanten Essay. Und ich schreibe das, obwohl der Begriff der "Vergeblichkeit" zu den für mich prägendsten gehört. Aber auch Pessimismus empfinde ich zuweilen als "Produktivkraft", vor allem wenn Selbsthelfertum zu den wenigen Möglichkeiten gehört, der um mich herum herrschenden bekotzten Trantütigkeit und Schlappheit widerstehen zu können. Und wer wird mich da des „Egoismus“ bezichtigen wollen? Unter solch einem Blickwinkel verstehe ich Barths überschäumende Assoziationsketten und Hübners prägnante Ironie als ganz konkrete Hilfe, das verlorene Paradies in uns (wieder) zu finden: Bevor die Kalten und Wissenden, die im Kommen sind, wirklich kommen, um ihre Wahrheit über uns auszuschütten – diese gefühllose Unverbindlichkeit. Davor behüte uns auch der Säxismus Dresdens!

© Asteris Kutulas, Eggersdorf Süd, März 1989

 

Das ganze Gespräch von Elgin Haelmstedt, Haiko Hübner und Stefanie Maach mit Asteris Kutulas abgedruckt in: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 4/2001, Humboldt-Universität Berlin 2001


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Im folgenden meine Diskussionsgrundlage für ein Autoren-Treffen am 22.4.1988 bei Harald Müller in Pankow (nachdem ich die ersten drei Bände der Bizarren Städte veröffentlicht hatte):


Ich muß gleich zu Beginn betonen, daß Bizarre Städte nicht „mein“ Projekt ist (ich hab mich nur von den verschiedenen Persönlichkeiten, Meinungen, Texten „anregen“ lassen, weil ich versuchte, einige Leute zusammenzubringen) und daß ich erst einmal gar nichts weiter „will“, außer zu erkunden – und zwar nicht theoretisch, sondern praktisch –, inwiefern eine „alternative Publikationsform“ durchzusetzen wäre. Das würde nachfolgenden Projekten, z.B. gruppenspezifischen, den Weg öffnen. Ich wehre mich in dieser jetzigen spezifischen DDR-Situation gegen die Formel: Entweder Ghetto oder gar nichts.
Die drei Bizarre Städte-Hefte boten bislang keine Konzeption im eigentlichen Sinne (obwohl sie „konzeptionell“ sind), sondern entstanden aus dem Gefühl heraus, Vorbedingungen für etwas „anderes“ schaffen zu wollen. Sie dienten also eher der Bildung eines gewissen Konsens, sie sind die Prolegomena für dieses „andere“.
Daraus ergeben sich auch die qualitativen Unterschiede und die verschiedenen ästhetischen Auffassungen in den drei Heften, mit denen ich zum Teil absolut nicht übereinstimme. Unter den gegebenen Bedingungen war das aber nicht wichtig, sondern der „Nachweis" – durch die drei Bücher –, daß eine Koexistenz zwischen sehr divergierenden Autoren und Richtungen möglich wäre.
Bizarre Städte war bislang ein „konturloses“ Unternehmen mit einer offenen Konzeption, im Gegensatz zu den bisherigen ausnahmslos konturfesten, auf „Ausgrenzung“ bedachten offiziellen und auch nichtoffiziellen Publikationen, was, in Bezug auf letztere, nicht wertend gemeint ist. Dabei waren für mich folgende Gedanken wichtig, ohne daß sie in den drei vorliegenden Bänden irgendwie eingelöst worden wären:

1. die Idee einer „Autoren-Zeitschrift“, gemacht von Autoren, Malern, Fotografen selbst
2. eine Koexistenz verschiedener Generationen, genauso wie die von gestandenen und jüngeren, weniger bekannten Autoren
3. zwischen verschiedenen ästhetischen und kulturpolitischen Anschauungen nicht vermitteln, sondern sie in ihrem Nebeneinander herausstellen
4. verschiedene Kunstsparten und dadurch auch sehr unterschiedliche Sichten der Wirklichkeitserfassung sind vertreten
5. allgemein interessierende ästhetische, politische, kulturelle Fragen behandeln, im Mittelpunkt stand für mich eine Art „gehobene“ Publizistik

Natürlich versuchte ich in Bizarre Städte qualitativ mit einem bestimmten Maßstab anzugehen, so daß ich denke, daß man die drei Textsammlungen auch sofort „veröffentlichen“ könnte, und doch spielte das eigentlich kaum eine Rolle.
Sicher, viele Leute würden gern eine Zeitschrift machen, aber durch Zufall/Energie/Vermittlung gibt es jetzt eine zugegebenermaßen minimale „Chance“, neben den etablierten Zeitschriften eine von Autoren herausgegebene Publikation durchzusetzen. Mit welchem Recht dürfte ich – und das meine ich mit „Zufall“ – oder irgendjemand anderes a priori festlegen, daß nur diese oder nur jene Richtung vertreten sein darf? Ich stimme mit Trakia Wendisch (trotz der vagen Formulierung) überein, der während der Akademie-Veranstaltung sagte, daß sich unser Bizarre-Städte-Projekt der Schleimigkeit gegenüber der Obrigkeit als auch der Kuhwärme der Szene verweigert. Und ich bin auch mit Papenfuß einer Meinung, daß wir dem Opportunismus gegenüber dem Westen aus dem Weg gehen müssen.
Wenn es hier wimmeln würde von Zeitschriften, dann müßte man auf Gruppenbildung aus sein. Dann würde auch ich mit fünf, sechs Leuten etwas Bestimmtes, Programmatisches machen wollen. Die Situation ist nun mal nicht so. Aber das bedeutet nicht, daß zwischen uns etwas verwischt werden soll – ganz im Gegenteil. Hier geht es um eine Art Pilotunternehmen, um erst einmal die Schallmauer zu durchbrechen. Wenn das getan ist, kann man sich immer noch gegenseitig die Köpfe einschlagen.
Aus diesen Prämissen ergibt sich eine völlig pluralistische Arbeitsweise dieser Publikation, die in etwa so aussehen könnte: Der zu gründende dezentrale BEIRAT (etwa 21 Autoren) bestimmt die Konzeption, die Richtlinien der Reihe und die Themenschwerpunkte für ein Jahr (4 Hefte). Alle Hefte werden von dem selben Herausgeber und je vier Redakteuren zusammengestellt und verantwortet, wobei die vier Redakteure jedes Mal andere sind, zugleich sind sie auch Beiratsmitglieder und haben eine besondere Affinität zum jeweiligen Thema. Sie müssen Texte von anderen Autoren anfordern bzw. selbst schreiben – die technischen Arbeiten besorgen zwei Redaktionssekretäre.
Ich komme zum Eigentlichen: zu den inhaltlichen Aspekten, die mir solch einen gemeinsamen Konsens für notwendig erscheinen ließen. Dann wird einiges klarer. Mein Vorschlag für die Themen der ersten sechs Hefte – nicht nur aus „verkaufspolitischen“ Erwägungen heraus – sind folgende:

1. Ausreisen? – Eine poetische Wortmeldung zu einem politischen Problem (Mensching, Kolbe, Rennert)
2. Wie denken Dichter über die Perestroika? (Volker Braun, Czechowski, Kerstin Hensel)
3. Zwischen Resignation und Optimismus – Zwei und mehr Möglichkeiten, die Welt zu beschreiben (K.P.Schwarz, Fries, Kathrin Schmidt)
4. Umwelt, Kunst und der Elfenbeinturm (Wenzel, Wendisch, C.Müller/ Jurij Koch, C.Wolf, H.Hirdina)
5. Die DDR Literatur nach 1961. Ein Resümee? Meinungen und Gespräche (Schlenstedt, Gerhard Wolf, Adloff, Peter Geist)
6. Die "inoffizielle" Literatur der DDR – Zwischen Frustration und poetischer Verwirklichung (Faktor, Pietraß, Erb, Schedlinski)

Ich denke, daß die Daseinsberechtigung einer solchen, viele verschiedene Autoren „vereinigenden" Zeitschrift nur in diesen Fragen zu suchen ist. Darum auch die vielen Fragezeichen. Der zweite Grund besteht in der kathartischen Wirkung, diese Dinge überhaupt einmal abgearbeitet zu haben – danach kann man sich auf ein mehr litarisches Gebiet zurückziehen.

© Asteris Kutulas, 22.4.1988


Anwesend waren: Gerd Adloff, Jan Faktor, Horst Hussel, Asteris Kutulas, Ina Kutulas, Steffen Mensching, Harald Müller, Richard Pietraß, Dieter Schlenstedt, Kathrin Schmidt, Holger Teschke, Peter Wawerzinek, Matthias „Baader" Holst.

 

 

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