Ina Kutulas
Öffne die Tür zum Immerjetzt
Mikis Theodorakis. Maria Farantouri. Petros Pandis.
Hat man den biografischen Background eines jeden dieser drei Künstler im Bewusstsein und dazu die Tatsache, dass diese Biografien im Hinblick auf Herkunft und künstlerisches Genre in allerengster und langjähriger Beziehung zueinander stehen, so wird man augenblicklich darüber im Bilde sein, dass das Berliner Konzert im November dieses Jahres zu einer Ausnahmeveranstaltung ersten Ranges bezüglich dessen gehört, was man erleben kann, will man ein Canto-General-Konzert miterleben.
Leuchtfeuer: Wie man weiß, nannte Theodorakis Maria Farantouri, nachdem er sie, die 16-Jährige, als die Sängerin seiner Lieder erkannt hatte, einmal auch „seine Priesterin“. Petros Pandis, den der Komponist einige Jahre später ebenfalls für sich entdeckte, könnte ohne weiteres als Theodorakis’ Priester gelten. Beide, sowohl Farantouri als auch Pandis haben als Interpreten Theodorakisscher Werke Kultstatus, denn ihre Auftritte sind einmalig, beide Künstler absolut authentisch, nicht nachzuahmen und nicht zu ersetzen. Beide gingen durch die „Schule Theodorakis“. Der Meister coachte ihre Stimmen, schrieb also nicht nur die Musik, sondern vermittelte auch, wie diese gesungen werden müsse. Diese Ehre ist möglicherweise außer Farantouri und Pandis keinem anderen griechischen Sänger in solch einer Intensität zuteil geworden. Was den Gesangsstil anbelangt, so war Theodorakis für die beiden auch Mentor, eine Neben-Aufgabe, die er später wahrscheinlich nie wieder übernommen hat. Vielleicht weil der Komponist bei den vielen sehr guten griechischen Künstlern, die seine Musik sangen und singen, trotzdem nicht noch einmal genau so das erlebte, was bei Farantouri und Pandis von Natur aus angelegt ist – die Fähigkeit zu einer beinah christlichen Tugend: die tiefe Demut vor der Schöpfung. Feuer wird ergänzt durch Erde und Luft. Der einzige Theodorakis-Sänger, der ebenfalls als eine solche Ausnahme gelten kann, war wohl Grigoris Bithikotsis. Was ihn anbelangt, so sind die Vertonungen der Poesie des griechischen Dichters Jannis Ritsos in Griechenland unvergessen und in ihrer Wirkkraft unerreicht geblieben in der Interpretation von Grigoris Bithikotsis. Unter den Nachfolgesängern kommt nur Petros Pandis in seiner Eindringlichkeit, Ausstrahlung und Unverwechselbarkeit einem Bithikotsis gleich, allerdings als ganz eigenständiger Charakter. Und Maria Farantouri – für sie schrieb Theodorakis einen Liederzyklus, der ihren Namen im Titel hat, was als absolute Ausnahme in diesem reichen Werkschaffen gilt. Es gibt derzeit neben Farantouri und Pandis keine zwei anderen Sänger, die als die klassischen Theodorakis-Interpreten par excellence zu nennen wären. Und es gibt auch keine zwei anderen Künstler, die auf der Bühne die immerwährende unsichtbare Anwesenheit des Komponisten so deutlich spürbar werden lassen können.
Heimaterde: Im Theodorakis-Universum tritt einem angesichts der Triade Theodorakis-Farantouri-Pandis beinahe ein Bild von Heiligkeit vor das innere Auge, als habe Jesus die Hand gehoben und drei Finger zur segnenden Geste aneinander gelegt, in der anderen Hand vielleicht das Buch. Grandios waren die Konzerte, bei denen sie zusammen auf der Bühne standen – Theodorakis als charismatischer Komponist und Dirigent, Farantouri als entflammente Sängerin, Pandis als fast unirdischer Sänger -, wenn der Canto General aufgeführt wurde, dutzende Male. Großartige Dichtung, großartige Musik, großartige Stimmen – eine Messe für das Leben, eine Aura, die die Welt in sich enthielt und die durch diesen Atem auf einzigartige Weise interpretiert werden konnte. Drei Persönlichkeiten, die zur Zeit der griechischen Diktatur ihre Schicksalslinien sehr dicht miteinander verflochten. Es war die junge Maria Farantouri, die Ende der 60er Jahre auf dringenden Rat von Theodorakis nach Paris ging und dort begann, Konzerte zu geben, um den antidiktatorischen Kampf zu unterstützen, zu intensivieren, in Gang zu halten. Es war Pandis, der in den achtziger und neunziger Jahren – als Theodorakis höchst umstritten war wegen seiner unerschrockenen Äußerungen und Positionierungen im Hinblick auf die politischen Geschicke seiner Heimat -, lächelte, wenn er auf den „unmöglichen“ Theodorakis, auf den „Verräter“ Theodorakis angesprochen wurde, Pandis, der sein eigensinniges Lächeln zeigte, wenn er hörte, dass man sich in Griechenland Theodorakis’ Musik aus Ärger verweigern wolle. „Bravo“, entgegnete Pandis seinen anarchischen Landsleuten mit kräftiger Stimme, „bravo Leute, hört sie nicht, diese WUNDERBARE Musik!“ Erde wird ergänzt durch Luft und Feuer.
Atemluft: Seit Jahrzehnten singen Maria Farantouri und Petros Pandis die Werke von Theodorakis. Beide haben es seit einer Ewigkeit nicht mehr in einem gemeinsamen Canto-General-Konzert getan und werden es möglicherweise danach auch nie mehr tun. Deshalb wird der Abend in Berlin zu den Ereignissen gehören, bei denen es knistert, bei denen man seine eigene Anwesenheit als eine doppelte erlebt: einerseits ganz gegenwärtig im Hier und Jetzt, andererseits zurückblickend in eine Zeit, in der man selbst Dinge tat, Ideen anhing, Ideale lebte, die ihren kräftigen Faden durch viele Jahre bis ins Gegenwärtige weiterziehen, einen Faden, der sich teilen, an den man andere Fäden knüpfen konnte und dessen Ende irgendwo im Innern des Knäuels verborgen sein mag. Möglich aber auch, dass dort im Immerjetzt die uralte magische Spinne der Weltweisheit sitzt und ihn nicht abreißen lassen wird, so dass er taugt, in die Zukunft verlängert zu werden. Sie mögen es kaum ausplaudern, aber sicher ist: auch die Moiren singen, wie in allen Handwerksstuben von alters her gesungen wurde, und da die Moiren aus unendlich vorzeitlichen Zeiten kommen, singen sie noch immer, sie sind es ja so gewohnt – und weshalb sollten sie nicht Theodorakis singen und warum nicht noch bis unendliche nachzeitliche Zeiten, bis hinein in die Tage des Morgen-Jetzt. Auch wenn man es nicht wissen kann und soll.
Zu den Gewissheiten, die man haben darf, zählt dies: Noch heute ist es immer auch ein pures Bekenntnis zu einer gelebten, gereiften Liebe, wenn Farantouri und Pandis Theodorakis singen. Jede Liebe hat ihr Vokabular und ihre Grammatik. Und in dieser Theodorakis-Zeit sich umzuschauen, die Fäden in der Hand zu behalten und sich davon leiten zu lassen in das Erden-Past, das Feuer-Plusquamperfekt, das Luft-Präteritum, das Wasser-Futur, durch das Labyrinth der Irrungen, Unwägbarkeiten, Klarheiten, der Belanglosigkeiten und der heiligen Bereiche, das gehört zu dem, was, wie es heißt, das Leben ausmacht, was es aus einem macht und was man selbst aus diesem Leben zu machen willens und Visionär genug ist. Luft wird ergänzt durch Feuer und Erde.
Wasser. Ein Lied. Brot. Damit kann die Verstandesseele im Grunde überleben. Und diese Handgeste der drei zur Segnung aneinander gelegten Finger, sie lässt sich sehr leicht verwandeln in: Manjare. Pina. Hunger. Essen-Wollen. Trinken-Wollen. Hören-Wollen. Denken-Wollen. Teilen-Wollen. Singen-Wollen. Mit Maria Farantouri und Petros Pandis auf der Bühne wird es elementar erfahrbar: Theodorakis hat die Welt, die ein Dorf ist, immer wieder daran erinnert, dass dieses Dorf eben auch und vor allem die weite Welt bedeutet, dass man über den Rand des Tellers hinaus schauen können möchte und hinein in das Glas auf des Nachbarn Tisch. Mit dieser Musik wurden wir getauft. Mit dieser Musik wurden uns vom Meister Brot gereicht, Rosen, Jasmin und das Wasser für den abgrundtiefen Lebensdurst. Kosten wir es aus. Und wenn man möchte, dann darf man „Canto“ auch so verstehen: „Kan’ to“ auf griechisch, das heißt auf deutsch: „Tu es!“.
© Ina Kutulas, 2010
Über Mikis Theodorakis
Maria Farantouri
Zu den Resistance-Songs
Nerudas-Grab