Prof. Dr. sc. Claus Träger, mein Lehrer



Leipzig, 5.11.1982
Claus Träger hält eine Vorlesung in „Literaturtheorie". Im Saal rumort es. Viele unter uns Studenten können nicht akzeptieren, dass einige hundert Meter weiter die Kulturkonferenz der FDJ sich diffamierend äußert zum Besten, was die DDR-Literatur zu bieten hat, zu Heiner Müller und Volker Braun zum Beispiel. Der Professor sieht sich gezwungen, etwas zu sagen. Er versucht Haltung zu wahren und mit einem Hinweis auf das „liberale" 6.Plenum der SED wenigstens die „Parteipolitik" zu retten. Er merkt an unseren Reaktionen (einige lachen, andere stöhnen), dass das nicht gut ankommt. Er sagt, dass die Kulturkonferenz reines Bla-Bla sei und aus politischen Statements bestehe. Und dann der schöne Satz: „Meine Damen und Herren, von der Warte des Weltgeists aus gesehen ist die Kulturkonferenz doch eine sehr periphäre Angelegenheit."

Leipzig, März 1983
Seminar zur Romantheorie. Claus Träger versucht, die Frage nach der fehlenden Mobilität im DDR-Roman wie folgt zu beantworteten: „Was erwarten Sie, meine Damen und Herren? Wenn Sie in diesem Land, sagen wir mal, in Oschatz geboren worden sind, dann werden Sie in Oschatz leben, in Oschatz arbeiten, und in Oschatz sterben."

So ist die DDR: man bereitet sich planmäßig auf den Tod vor; keine Visionen, keine Extravaganzen. Nein, alles im geregelten - aberwitzigen - sozialistischen Trott. Die Bevölkerung scheint durch die „Wirtschafts- und Sozialpolitik der Partei" gelähmt und korrumpiert, was nichts anderes bedeutet, als dass man den Leuten vorgaukelt, auf Konsumebene mit dem Westen Schritt halten zu können (was für eine Absurdität). Dafür darf auch keiner aufmucken. Dem Arbeiter geht es - „den Umständen entsprechend" - gut (solange er nicht anfängt nachzudenken), dem Intellektuellen (ich meine: dem wirklichen, also dem „Künstler") geht es schlecht, weil er, um ER zu sein, NACHDENKEN MUSS. Man lese im „Neuen Deutschland": Angesagt ist die allgemeine Verblödung im Namen der fortschrittlichsten und revolutionärsten Gesellschaft. Ein organisierter Versuch der persönlichen Entmündigung. Und ein vergreister und realitätsenthobener Erich Honecker glaubt, mir vorschreiben zu können, was ich zu denken, zu sagen und zu machen habe. Es ist einfach lächerlich, und tot-ernst zugleich.

28.1.83, Leipzig
Gestern Georg-Lukacs-Vortrag, gehalten im Oberseminar von Prof. Claus Träger. Er lobte mich … unterschwellig, nun ja. Für mich war es ein echtes Erlebnis. Träger meinte dann, dass das Thema anders hätte gar nicht gepackt werden können und besser auch nicht, derweil es etwas ist, was uns nicht mehr unmittelbar betrifft. Zur Orientierung könne man noch die „Theorie des Romans“ lesen, jedoch ist es sehr zähes Zeug und äußerst abstrakt. Heute müsse man viel konkreter, anhand von Literatur, sich mit ästhetischen Problemen auseinandersetzen. Ich hätte mich davon betroffen gefühlt, das ganze ernst genommen und es so historisiert und vollkommen verstanden. Heute könne man damit nicht viel anfangen. Und im Grunde, da erinnerte ich mich an Uwe G., zehren die ganzen Leute von Schiller, Goethe und Hegel. Alles, was später kommt, ist ohnehin nur Modifizierung.

Leipzig, Frühsommer 1984
Abschlussvorlesung von Prof. Träger. Sein letzter Satz: „Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn diese Fakultät - ich eingeschlossen - Ihnen nach fünf Jahren Germanistikstudium beibringen konnte, WIE man ein Buch liest, bin ich sehr zufrieden." Mein Studium ist zu Ende...


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Zu Thomas Manns Romankonzeption

Thomas Mann geht (wenn man es so sagen kann) in seinem Idealismus noch weiter als Lukács: „Der Romancier – schreibt er 1930 im Aufsatz über „Die geistige Situation des Schriftstellers in unserer Zeit“ – formt das Leben nicht nur in seinem Buch, er hat es oft genug auch durch sein Buch geformt: wenn man mich fragte, wer oder was zuerst gewesen sei: die französische Gesellschaft des 19.Jh., wie wir sie aus Balzacs Werk kennen, oder Balzac, so wäre ich gar nicht abgeneigt zu antworten: Balzac“. Und eine Möglichkeit zur ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts wird postuliert: unter der Voraussetzung, dass „geistige Wirklichkeit ... auch Wirklichkeit (ist); sie ist vielleicht sogar primäre Wirklichkeit“.
Das bedeutet jedoch, daß die gesellschaftlichen Widersprüche im Geist gelöst werden können, in einer zwar bedrängten, aber existierenden Innerlichkeit. So kann vielleicht die Gegenwart die Epoche der vollendeten Sündhaftigkeit sein – der Geist thront im Himmel und hat nichts anderes zu tun, als sich zu perfektibilitieren.
Der Roman ist nicht, wie bei Lukács, abzulösen, im Gegenteil – Lew Tolstoi „ist einer der Fälle, die uns in Versuchung bringen, das von der Schulästhetik behauptete Verhältnis von Roman und Epos umzukehren und den Roman nicht als eine Verfallsform des Epos aufzufassen, sondern in dem Epos eine primitive Vorform des Romans zu sehen“. Die dialektische Sicht zeigt in den klaren Gedankengängen in Manns „Kunst des Romans“ ihre Überlegenheit über die geisteswissenschaftliche Methode in der Betrachtung der „Theorie des Romans“ von Lukacs.

Thesen

Dieser „historische Betrachtungsort“ dient Mann im Aufsatz um die Entwicklung von der archaischen Welt des Epos zur modernen Welt des Romans nachzuweisen. Und im Gegensatz zu Lukács, bei dem die Gattungen nach der Antike symbolisch werden und die Form das Bestimmende ist, postuliert Mann: „Die Kunstform wird gleichgültig, wenn der Genius der Kunstgattung selbst in seiner Souveränität und freien Größe hervortritt“. Hier wird die Grenze zwischen Roman und Epos aufgehoben: hier herrscht das „Ewig-Epische“, der Genius der Epik.
Der geschichtliche Weg, den dieser Geist gegangen, ist der der Verinnerlichung, die Kunst des Romans nun, der die höchste Stufe der Innerlichkeit anzeigt, ist, das Kleine interessant zu machen, „das, was eigentlich langweilig sein müßte, interessant zu machen.“ Daß hier wieder auf Schopenhauer verwiesen wird, beweist den Stellenwert seiner Realismuskonzeption. Dieses Interessantmachen des Kleinen sowie die Objektivität und die Aufhebung des „Geistes der verzauberten Langeweile“, der „unendlich Zeit“ hat, sie nur mit Hilfe des „Gottes der Ferne“, des „Gottes der Distanz, der Objektivität“, des „Gottes der Ironie möglich. „Objektivität ist Ironie – schreibt Mann – und der epische Kunstgeist ist der Geist der Ironie.“ Die spöttisch-kritische Haltung manifestiert schon im Begriff, daß sie tatsächlich nur eine geistige ist und unbefleckt von Materie bleiben muß.
Die gegenüber Lukács richtige Einschätzung des modernen Romans im 19. Jh. führt Mann zur Frage, warum der deutsche bürgerliche Roman des 19. Jh. „europäisch nicht recht mitzählen will“. Er erklärt dies mit einem wesentlichen Unterschied zwischen dem „Gesellschaftsgeist“ des französischen Werkes und dem „mythisch-urpoetischen“ Geist des deutschen Werkes, der seine Entsprechung in Richard Wagners Musik gefunden hat. Das ist eine Meinung, die sich zur Zeit der deutschen Frühromantik (Tieck und Wackenroder) gegen die Musikkonzeption der Aufklärung richtete, daß Mystik eine Aussage haben, daß sie rational erklärbar sein müsse. E.T.A. Hoffmann prägte dann den Begriff der „absoluten Mystik“; jetzt war, im Gegensatz zur Periode von der Antike bis zur Aufklärung, die Instrumentalmusik, die eigentliche Musik. Diese Meinung wurde dann theoretisch über Schopenhauer, Wagner und Nietzsche vollkommen in das europäische Bewußtsein installiert. Ähnliches finden wir bei allen Ästhetikern Anfang des 20. Jahrhunderts. Hermann Hesse drückte dies 1927 im „Steppenwolf“ wie folgt aus: „Lange hatte ich auf diesem Nachtgang auch über mein merkwürdiges Verhältnis zur Musik nachgedacht und, einmal wieder, dies ebenso rührende wie fatale Verhältnis zur Musik als das Schicksal der ganzen deutschen Geistigkeit erkannt. Im deutschen Geist herrscht das Mutterrecht, die Naturgebundenheit in Form einer Hegemonie der Musik, wie sie nie ein anderes Volk gekannt hat. Wir Geistigen, statt uns mannhaft dagegen zu wehren und dem Geist, dem Logos, dem Wort Gehorsam zu leisten und Gehör zu verschaffen, träumen alle von einer Sprache ohne Worte, welche das Unaussprechliche sagt, das Ungestaltbare darstellt, statt sein Instrument möglichst treu und redlich zu spielen, hat der geistige Deutsche stets gegen das Wort und gegen die Vernunft frondiert und mit der Musik geliebäugelt.“ Ich glaube, damit ist eine treffende Charakterisierung nicht nur des Verhältnisses des deutschen Geistes zur Musik, sondern gleichzeitig eine Charakterisierung der geistigen Lage des deutschen Intellektuellen gegeben. Thomas Mann ist einer der wenigen, die den seelischen Balanceakt ein Leben lang durchhielten. Ein anderer großer Romancier seiner Generation, Stefan Zweig, beging 1942 Selbstmord.

© Asteris Kutulas, geschrieben im Januar 1982 (Vortrag, gehalten im Januar 1982 im Oberseminar „Romantheorie“ bei Prof. Dr. Claus Träger – Sektion Germanistik & Literaturwissenschaft, KMU Leipzig)

 

 

 

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