Eine gute Maske für schwierige Zeiten, der Mythos. (Jannis Ritsos)

I THEORIE UND PRAXIS DER MASKIERUNG

Gemessen an den über hundert Büchern mit Gedichten und Poemen fallen die theoretischen Äußerungen von Jannis Ritsos eher spärlich aus: Sie füllen einen schmalen Band, der unter dem Titel 'Betrachtungen' ('Meletimata') drei Monate nach dem Sturz der Junta, im Oktober 1974, beim Kedros Verlag herauskam. Bereits im September war postum die zweibändige Ausgabe der Essays von Giorgos Seferis erschienen. Und im Dezember desselben Jahres publizierte Odysseas Elytis seinen Schriftenband 'Offene Karten'. Damit lagen in Buchform die essayistischen Arbeiten der drei bedeutendsten griechischen Lyriker der sogenannten Generation der dreißiger Jahre vor.
Diese theoretischen Standortbestimmungen fassen gleichsam eine geistige Epoche zusammen: Das Jahr 1974 markierte nicht nur das Ende der Juntaherrschaft, sondern auch den endgültigen Schritt Griechenlands in die westliche Europäische Gemeinschaft, was sowohl politisch und ökonomisch, als auch geistig und kulturell eine stärkere Einbindung in monopolistische und technokratische Strukturen und eine immer größere Entfremdung vom traditionell mediterranen Selbstverständnis bedeutete. Seferis, der Literatur-Nobelpreisträger von 1963, hatte seine diesbezüglichen Alpträume kurz vor seinem Tod 1971 im Essay 'Alles voller Götter' dargestellt, und Elytis sprach im Vorwort zu seinen Texten verbittert von dem 'erstaunlichen technischen Fortschritt, der darum ringt, die Krankheiten zu heilen, die dem Menschen der erstaunliche technische Fortschritt beschert'.
Der 1909 geborene Ritsos vereint in den 'Betrachtungen' zwei kurze Essays zur eigenen Poetik und Nachworte zu Majakowski, Ehrenburg, Eluard, Hikmet (deren Gedichte er auch übersetzt hatte). Seine zahlreichen sonstigen 'Wortmeldungen' zu politischen, philosophischen und poetologischen Problemen finden sich in einigen verstreuten Zeitungsartikeln und Zeitschriftenbeiträgen, vor allem aber in seinen Gedichten und noch ausgeprägter in den Romanen und Prosaarbeiten der achtziger Jahre. Während es zu seinem Verständnis von Poetik gehört, gesellschaftliche und kunsttheoretische Diskurse in der Dichtung mitzuverhandeln, weisen sich die 'Betrachtungen' als kritische Studien aus, als Versuche, sich der analytischen und präzisen - nominalen -Sprache der Wissenschaft zu bedienen, ohne poetische Umschreibungen, Vergleiche und Metaphern. Zweifellos steht das im Zusammenhang mit der zunehmend epigrammatischen Tendenz seiner Lyrik seit Anfang der fünfziger Jahre (obwohl weiterhin lange Gedichtkompositionen entstehen), wie auch mit der Entwicklung innerhalb der Linken nach dem XX. Parteitag der KPdSU. Es ist weder unter diesem noch unter biographischem Blickwinkel zufällig, daß fast alle Essays zwischen 1955 und 1963 entstanden.
Nach den insgesamt sieben Jahren Sanatoriumsaufenthalt in Tbc-Asylen (zwischen 1927 und 1936), nach der Metaxasdiktatur (1936-41), nach faschistischer Okkupation (1941-44), Bürgerkrieg (1944-48) und Verbannung (1948-52) erscheinen die Jahre von 1952 bis zur erneuten Verhaftung und Deportation 1967 tatsächlich als eine Zeit der relativen Ruhe, eine Zeit, in der Ritsos eine für sich neue poetische Handschrift entwickelt, die ihn als bedeutenden Dichter über die Grenzen Griechenlands hinaus bekannt macht. Das trifft besonders auf die Gedichte aus dem Zyklus 'Zeugenaussagen' zu, auf die 'Mondscheinsonate', für die er 1956 den Ersten Staatspreis für Dichtung erhielt, und auf die mythologischen Monologe aus der Sammlung 'Vierte Dimension'. In diesen Werken herrscht eine unpathetische, existentialistische Sicht, ein Dialog mit dem Tod, der durch die ständige Wiederholung und Variation bestimmter Wörter und Situationen archetypisch aufgehoben wird. Hierher gehört z.B. die Darstellung des Entstalinisierungsprozesses, den der Autor des 1953 Stalin gewidmeten Gedichts 'Mausoleum' im Jahr 1960 mit den Augen Elektras im Monolog 'Unter dem Schatten des Berges' folgendermaßen sieht:

[...] Wie viele Könige dankten seitdem ab? Wie viele Revolutionen fanden statt?
Wir hatten, sagt er, auch kurze Perioden einer unglaublichen Pöbelherrschaft.
Und einen Augenblick echter Demokratie. Ich weiß nicht.
Ich sehe nur, wie sie einen, den sie hinrichteten, ehrenvoll aus dem Grab holten
und ihn, das Skelett, auf den Thron hievten,
[...] den Saal mit heiligem Wasser besprengten,
von Tribünen sprachen, keiner verstand ein Wort. Einen anderen
trugen sie mit unvorstellbaren Ehren zu Grabe ein ganzer Wald von Fahnen, auf Halbmast gesetzt,
kein Platz oder Park ohne sein Denkmal. Bald darauf
befiel alle eine eigenartige Manie
ich erinnere mich nicht genau sie gestikulierten, rannten, schrien, zerschlugen seine Bildnisse,
und es war seltsam anzusehen, wie die Menschen gegen
die Statuen kämpften.
[...] Woran kann man noch glauben? [...]

Die Exhumierung und das zweite, nun feierliche Begräbnis des ungarischen Kommunisten Laszlo Raik, sieben Jahre nach seiner Hinrichtung 1949, und Stalins 'Entmachtung' offenbaren sich dem Autor als äußere Zeichen, die, verfremdet, zur Verinnerlichung von Gewissenskonflikten und deren Auflösung im Mythos drängen. Am Schluß dieser Entwicklung steht nicht nur eine politisch geläuterte Dichtung, sondern auch eine die moderne Industriegesellschaft und deren Entfremdungserscheinungen integrierende Poesie, die in der 'patriotisch' bestimmten Zeit bis 1952 überhaupt nicht möglich war. Der 'antike Umweg', von dem Aragon in einem Artikel über Ritsos spricht, und die analytische Sicht, aber keine analytische, sondern eine synthetische Sprache, die allerdings gegenständlicher und gestischer wird, führen zu einer immer größeren Annäherung an den Begründer der griechischen Moderne, an Konstantinos Kavafis, den, wie Seferis schreibt, 'proteischen Alten', den 'Verwandlungskünstler'. Das Hineinschlüpfen in historische und mythologische Gestalten, gebrochen durch die Abstraktion des scheinbar distanzierten Blicks eines modernen Chronisten, kann man in vielen Gedichten der 'Zeugenaussagen' und in fast allen der 'Wiederholungen' feststellen.
Ritsos schreibt 1963 seine sehr essayistischen '12 Gedichte für Kavafis', skizzenhafte Studien zu Poetik und Tradition. Und ein Jahr später, 1964, beginnt er die Arbeit an seinem szenischen Gedicht 'Teiresias', in dem die 'Sieben', die sieben Lebensstufen des Sehers, erklären:

Wir wechselten viele Gesichter, nicht Masken.
Hinter Tausenden Gesichtern versteckten wir uns. Vermischten uns
mit Göttern und Mythen, mit anderen Helligkeiten, anderen Zeiten,
um unser Gesicht zu bedecken, das tiefe, bittere, unveränderte,
das unschuldige, bestrafte, das nur uns gehörende Gesicht.

In seinem Gedichtmonolog 'Die Rückkehr der Iphigenie' von 1971/72 läßt Ritsos die antike Heldin aussprechen, was ihm die Masken-Existenz gewährte: Schutz und Freiheit. Möglicherweise weckte gerade das vielgesichtige Dasein in Ritsos das Bedürfnis, wenigstens punktuell eine klare Sprache zu benutzen, die aber für ihn, der seit 1931 in der kommunistischen Bewegung Griechenlands arbeitete und eine offene politische Konfrontation mit der eigenen Partei vermeiden wollte, nur über den 'literaturkritischen Umweg' zu erringen war. Auf diesem 'Umweg' halfen ihm seine Affinität zur französischen Literatur und die Beherrschung der französischen Sprache, die ihm den Ausblick auf die europäische und außereuropäische Literatur- und Philosophieentwicklung ermöglichten. So liest sich der Majakowski-Essay als desillusionierte Ablehnung der linken Formalismus-Kritik der fünfziger und sechziger Jahre, während in der Ehrenburg-Studie und im Beitrag über die 'Zeugenaussagen', der fast zur gleichen Zeit in Prag entstand, als die Kafka-Konferenz vorbereitet wurde, eher die eigenen poetischen Prämissen verteidigt werden: die Konzentration auf existentielle, archetypische Situationen im Gedicht, besonders und immer wieder auf den Tod, das Sezieren des 'flüchtenden' Augenblicks, die Untersuchung alltäglicher Ereignisse und Gesten, die Aufdeckung des Tragischen im gewöhnlichen Leben, die Auflösung der Grenze zwischen Alptraum und Tagtraum, zwischen Phantasie und Wirklichkeit. Hinzu kommt, daß Ritsos nur über Dichter schreibt, mit denen er sich innerlich und weltanschaulich verbunden fühlt, darum kann man viele dieser Aussagen ohnehin auf sein eigenes Schaffen beziehen; z.B. jene über die Behandlung des Wortes in Eluards Lyrik, über die Kargheit in Hikmets Gedichten oder über das Anti-Rhetorische in Ehrenburgs Poetik.
Im Monolog mit der programmatischen Überschrift 'Die Brücke' und dem Untertitel 'Eine Apologie, die nicht gefordert wurde' von 1959 erklärt der von Gewissensbissen und Schuldgefühlen geplagte Sprecher gegenüber den ihm zuhörenden Genossen seine Dialogbereitschaft, aber jene Situation und die Gründe für die damals für ihn notwendige 'Deckung' durch Dritte verdeutlicht Ritsos rückblickend in seinen poetischen Erinnerungen 'Das ungeheure Meisterwerk' von 1977, wo erstmals keine Maske gebraucht und in der Ich-Person gesprochen wird:

natürlich bewahrte ich mir [...]
jenen getippten Beschluß der illegalen Parteisitzung wo die Genossen mit brüderlicher Sorge die Beschwerde formulierten
daß meine neuen Gedichte von gewissen metaphysischen Tendenzen umrankt werden
und ich antwortete mit weit metaphysischeren Gedichten eines weit tieferen Realismus
ungefähr wie der von Shdanow aber zusammen auch mit den verurteilten Katzen der Achmatowa
ich glaube es waren schwarze sie saßen hungrig hinter dem Fenster
und sahen auf die eisigen Fluten der Newa oder der Moskwa ich erinnere mich nicht genau
mit zwei weiten Augen wie zwei erfrorene Jahrhunderte

Sicher, diese Auseinandersetzungen hatten einen produktiven Aspekt: Sie führten dazu, daß sich der Dichter über das Studium der Werke gleichgesinnter Kollegen der eigenen Position versicherte. Einige von ihnen lernte Ritsos kennen, als er ab 1956 seine ersten Reisen ins Ausland unternahm (in die Sowjetunion, CSSR, DDR, nach Rumänien, Ungarn und Kuba), wo er verschiedene Herausgaben und Nachdichtungen vorbereitete, was sich nicht nur deshalb als wichtig herausstellte, weil bestimmte Werke namhafter Schriftsteller von Nezval bis Arghezi und Jozsef erstmals in Griechenland herauskamen, sondern auch wegen der politischen Bedeutung solcher Publikationen im geistigen Leben nach dem Bürgerkrieg, der 1949 mit der Niederlage der Linken zu Ende gegangen war.

1952 werden nach einer Amnestie Tausende Gefangene, auch Hunderte von Intellektuellen und Künstlern, unter ihnen Ritsos, aus den Verbannungslagern entlassen, die meisten mit begrabenen Hoffnungen: Bis Anfang der sechziger Jahre regiert in Griechenland mit amerikanischer Unterstützung uneingeschränkt die rechtsradikale ERE- Partei. Ritsos arbeitet bis 1954, als er die Ärztin Falitsa Georgiadi heiratet, als Lektor beim Verlag 'Govostis', wo er früher u.a. die Übersetzungen von Tolstoi und Dostojewski lektoriert hatte, und beginnt, regelmäßig in der Zeitung der neugegründeten linken EDA- Partei 'Avgi' (Morgenröte) und in der Zeitschrift 'Revue der Kunst' Gedichte und Artikel zu veröffentlichen. Nach einer Reise in die Sowjetunion 1956, unmittelbar nach dem XX. Parteitag, erscheint in der 'Avgi' eine Folge von 36 Beiträgen über seine dortigen Impressionen und Begegnungen. In ihnen, genauso wie in seiner Rede über Tudor Arghezi im Juni 1960, lehnt Ritsos das pessimistische Gefühl ab, aus dem heraus Anfang der fünfziger Jahre die sogenannte 'Dichtung der Niederlage' entstanden war, deren meist linke Vertreter, wie Manolis Anagnostakis, Takis Sinopulos, Aris Alexandrou und Michalis Katsaros, sich als eine betrogene Generation, als eine 'lost generation' ohne Perspektive fühlten: Die 1944 zum Greifen nahe gerückte Hoffnung auf einen Sieg der Volksfrontbewegung (EAM) hatte sich im Bürgerkrieg und in den Konzentrationslagern nach 1948 als trügerische Illusion erwiesen. 'Es braucht noch viel Licht, um hell zu werden' ist ein charakteristischer Vers von Anagnostakis aus dem Jahr 1953. Und Katsaros ruft bereits 1952 in seinem berühmten Poem 'Nach Sadduzäer Art' aus:

'Der Turm den wir bauten brennt / Wir haben nichts wirklich nichts zu sagen euch'

oder an anderer Stelle:

'Toten Wald der Wörter durchschreite ich stumm / entzünde die Laternen die fahllichtig lähmen die leeren Straßen / such die zu erheben / die mit ihren Namen aufs Herz mir sind gesunken / in geheimen Konferenzen / die gelynchten Namen die lebenden weitab gestellt im Vormarsch / Rosa Luxemburg Lenin ihr Lyriker / Thälmann und Tanev / eisklirrend splittern sie hin auf das Teppichrot'. (Uebersetzung Dirk Mandel)

Ritsos, der 1952 Mitglied der Vereinigten Linken (EDA) wird und sich politisch engagiert, bis hin zu seiner Kandidatur für die EDA bei den Parlamentswahlen 1964, vermag sich gerade durch die errungene Möglichkeit des 'uneingeschränkten' Sprechens jenseits dieser pessimistischen Stimmung zu bewegen, vielleicht gerade weil in seinem Schaffen alle Elemente und Motive der 'Niederlage Dichtung' zu finden sind. In seiner Rede über Arghezi im ausverkauften 'Vembo'-Theater von Athen versucht er, seinen Standpunkt zu umreißen: Der Dichter, heißt es dort, 'muß sich seiner Einsamkeit und ihrer Problematik bewußt werden, so daß er nicht nur einfach im Banne der Schönheit lebt, die seine Einsamkeit und ihren Schmerz umgibt, nicht nur in der Zufriedenheit seiner Offenbarungen, sondern sich als bewußtes und verantwortliches Wesen an der Gestaltung der menschlichen Beziehungen beteiligt'.
Die Diktatur ab April 1967 begräbt noch einmal für sieben Jahre den Traum von einem demokratischen Griechenland. Ritsos gehört zu den ersten, die verhaftet werden, wenige Tage vor seinem achtundfünfzigsten Geburtstag. Viele Gedichte aus der Sammlung 'Die Wand im Spiegel' entstehen auf den Verbannungsinseln Jaros und Leros, der Zyklus 'Pförtnerloge' unter verschärfter Aufsicht auf Samos. Die zwei kurzen Essays 'Beim Wiederlesen der Gedichtbände...' sowie 'Steine Knochen Wurzeln' dokumentieren auch verbal den apokalyptischen Widerstand gegen jeden 'Alptraum der Nacht und des Tags', ein ästhetischer Ansatz, der sich in den Gedichten der siebziger und achtziger Jahre manifestiert, ja, der es zugleich ermöglicht, alle neuen Strömungen und poetischen Tendenzen der letzten Jahrzehnte (vom Theater des Absurden zum nouveau roman und zur Postmoderne) aufzunehmen, zu verarbeiten und für den eigenen Ausdruck nutzbar zu machen. Die Lyrik von Ritsos, genauso wie die von Odysseas Elytis seit seinem Werk 'Maria Nepheli' (1978), erwirbt sich eine Modernität, die aus den ständigen Veränderungen der Form und der Mobilität der Aussage erwächst und die es den jüngeren Dichtern schwer macht, aus den Schatten dieser beiden Autoren herauszutreten.
Die 'patriotischen Lieder' bleiben für Ritsos weiterhin in bestimmten historischen Augenblicken von Bedeutung, aber er betrachtet sie nicht als 'ästhetische Gebilde', als 'Gedichte'; viel elementarer erweist sich für ihn die Konzentration auf die Beziehung zum Tod als eigentliche Inspirationsquelle der Kunst. Für ihn, der 'Das letzte Jahrhundert vor dem Menschen' durchlebt, wie eine Gedichtüberschrift aus dem Jahre 1942 lautet, besteht das Politische letztlich - das kann man in Ansätzen aus seinen Interviews herauslesen - in der Überwindung jeder 'Politik' und 'Ideologie', die als falsches Bewußtsein nur Zeichen sind für eine inhumane Praxis. Nach diesem Verständnis bleibt dem Künstler als gesellschaftsübergreifender und damit substantieller Bezugspunkt allein der Tod. Ähnlich hatte sich Elytis im besagten Vorwort geäußert: "Ich schreibe, weil die Dichtung dort beginnt, wo der Tod nicht das letzte Wort hat". Ritsos, der die Ansicht vertritt, daß auf den Schultern Homers und Dostojewskis die gesamte Weltliteratur ruht, raubt den antiken Helden ihr Heldentum, überläßt sie ihren modernen trostlosen Fragen. Im Gedichtmonolog 'Phädra' (1974/75), dem letzten der Sammlung 'Vierte Dimension', fragt sich eine von Gewissensqualen zermürbte Phädra kurz vor ihrem Selbstmord:

Sind wir etwa für all das verantwortlich? Wer wollte es so?
Wir jedenfalls nicht. Unerträglich, mein Gott, Nächte wie Tage. Morgens,
wenn wir aufstehen (müder als vorm Schlafengehn), ist unsere erste Bewegung,
noch bevor wir uns waschen, bevor wie unsern Kaffee trinken, daß wir die Hand ausstrecken,
um aus dem Nachttisch unsere vertrocknete Maske zu nehmen,
sie, wie Schuldige, über das Gesicht zu streifen und anzukleben [...]

Phädra bleibt im Gedicht nur der Strick, um aus sich selbst auszubrechen; der Dichter, der seine Wahrheit schreibend entdeckt, benutzt seine poetischen und essayistischen Möglichkeiten zur Maskierung, um das, was er zu sagen (und damit zu tun) hat, in allen - vor allem schwierigen - Zeiten aussprechen zu können, um nichts gegen andere oder gegen sich selbst unternehmen zu müssen.

© Asteris Kutulas, Berlin, im Juli 1988


II JANNIS RITSOS UND DAS KOMMUNISTISCHE IDEAL
(Rede, 1987)

Sehr verehrte Damen und Herren,
ich wollte über Ritsos’ Ästhetik des Widerstands schreiben, über die Bedeutung der Maske in seiner Poetik, und las zufällig das letzte Kapitel des 1982 veröffentlichten Romans des Dichters „Ariost der Vorsichtige berichtet über Augenblicke seines Lebens und seines Schlafs“, das die Überschrift „Mein Fotograf“ trägt. Darin folgende Passage: „Ich bin sehr müde wegen der dauernden Schlaflosigkeit und von den Anstrengungen. Ich schließe die Augen. Höre, wie mein Fotograf die Bilder einsammelt. Dann das plötzliche Anreißen eines Streichholzes. Höre, wie mein Fotograf die Bilder einsammelt. Wie er plötzlich ein Streichholz anreißt. Ich schrecke auf. Nicht! Nicht! – schreie ich. Will ihn zurückhalten. Stolpere über das Stativ des Fotoapparats. Verfange mich im schwarzen Tuch. Gegenüber der Spiegel. Ich schaue hinein. Ein schöner Mönch in einer langen Kutte. Jetzt, sage ich zu ihm, so! Mein Fotograf ist verschwunden. Ich nehme seinen Platz ein. Fotografiere den Spiegel. Der Spiegel ist leer.“

So endet der Roman, und als ich dieses Kapitel las, erinnerte ich mich an das Buch eines anderen Autoren, der folgendes geschrieben hatte: „Im übrigen lag er noch an die zwei Minuten unbeweglich in seinem Bett wie jemand, der nicht ganz sicher ist, ob er wacht oder noch immer schläft, ob all das, was um ihn herum geschieht, in Wirklichkeit vor sich geht oder die Fortsetzung seiner chaotischen Traumbilder darstellt.“ Herr Goljadkin aus Dostojewskis „Doppelgänger“ muß allerdings feststellen, dass seine Ängste und Unsicherheiten ihn mit seinem Doppelgänger in so brutal-realer Weise konfrontieren, daß er daran zugrunde geht. Ritsos, der behauptet, „die gesamte moderne Literatur gründe sich auf Dostojewskis Werk“, hat viel mit diesem gemein. Bei beiden werden Realität und Phantastik so miteinander verschmolzen, daß diese Verquickung eine eigene neue Realität hervorbringt. Das gründet sich bei beiden auf die Erforschung der Psychologie ihrer Protagonisten, dabei bei jedem einzelnen ganze Welten aufdeckend, von denen derjenige selbst nicht einmal ahnte, dass er sie in sich trägt. Offenbar wird das auf sich gestellte Individuum nur in seiner Transzendenz zwischen „Wirklichkeit und Phantasie“, wie der Titel eines Ritsos-Gedichts aus dem Jahr 1958 lautet, wahrgenommen.
Die Demontage der Figur des Helden bei Dostojewski korrespondiert mit der Gestaltung der Figur eines „Antiken Helden“ (ebenfalls eine Gedichtüberschrift) bei Ritsos. Und obwohl ich nicht darauf beharren will, dass man in diesem Vorgang unbedingt eine Ähnlichkeit in der Arbeitsweise beider Autoren erkennen kann, hilft es uns zumindest, wenn wir diese Gemeinsamkeit näher betrachten, ins Zentrum des Problems vorzustoßen. Wenn ich versuche, mich ihm zu nähern, dann nicht, weil ich glaube, Ihnen eine wie auch immer geartete Einschätzung oder in theoretischer Hinsicht Lösung bieten zu können, sondern, ich will es an dieser Stelle sagen, weil diese Probleme mich betreffen und, eigenartig, mir jetzt in den 80er Jahren von höchstem Interesse zu sein scheinen. Ritsos sagte in einem Gespräch, die Dichter haben die Gabe und er selbst die Erfahrung, sich der Zukunft erinnern zu können. Als er das äußerte, kam mir der Gedanke, daß er sich diese Fähigkeit vor allem über den „antiken Umweg“ erworben haben mußte.
Doch bevor ich zum eigentlichen Thema komme, möchte ich erst noch eine Bemerkung über die Verwendung des Wortes „Maske“ in Ritsos’ Dichtung machen. Alle Wörter sind für Ritsos Werkzeuge. Jedes Wort hat seine eigene Geschichte, sein eigenes Schicksal und sein eigenes Leben, erfährt vielfältigste Wandlungen. In seinem Eluard-Essay schrieb Ritsos, daß die Wörter mittels ihrer Verdichtung und der ihnen innewohnenden verschiedenen ästhetischen Landschaften dem Leser eine schöpferisch aktive Begegnung mit dem Text ermöglichen. Nicht nur im Hinblick darauf, dass so unterschiedliche Begriffe wie Kochtopf, Brustwarze, Packpapier, Mond, Revolution völlig gleichberechtigt verwendet werden, ist Ritsos’ Sprache von einem tiefen „demokratischen“ Verständnis gekennzeichnet, sondern auch im Hinblick auf die Haltung des Dichters gegenüber dem Leser oder Hörer.
Mit dem Elektra-Monolog „Das tote Haus“ nimmt Ritsos’ Antike-Rezeption 1959 ihren Anfang. Sie endet mit dem Langgedicht „Phädra“ 1975, das Ritsos im April 1974, also noch während der Obristenherrschaft zu schreiben beginnt. Beide Daten sind, so scheint mir, von Bedeutung.
Chrissa Prokopaki schrieb in ihrer Studie „Der Weg zu Graganda“ über die weltanschaulichen Implikationen und politischen Ursachen, die zu dieser neuen Periode in Ritsos’ Schaffensperiode führten, die mit dem XX. Parteitag der KPdSU und das 6. Plenum der ZK der KPG im Jahre 1956 und den daraus folgenden Konsequenzen begann. Der zweite Elektra-Monolog, das Gedicht „Im Schatten des Berges“ von 1960, verdeutlicht diesen Aspekt, unter dessen Auswirkung der mythologische Topos zum zentralen in Ritsos’ Dichtung wurde: „Wie viele Könige wechselten seitdem einander ab? Wie viele Revolutionen fanden statt? Wir hatten, sagt man, auch kurze Perioden, da der Pöbel regierte. Und einen Augenblick echter Demokratie. / Ich weiß nicht. Ich sehe nur, wie sie jemanden, den sie hingerichtet hatten, huldvoll wieder aus dem Grab holten / und ihn, sein Skelett, auf den Thron hievten ... Den Saal mit geweihtem Wasser besprengten / von Tribünen herunter sprachen, keiner verstand etwas. Einen anderen / trugen sie mit unvorstellbaren Ehrbezeugungen zu Grabe – ein ganzer Wald von Fahnen, auf Halbmast gesetzt. / Kein Platz oder Park ohne sein Denkmal. Bald darauf erfasste alle eine seltsame Manie – ich erinnere mich nicht genau – sie gestikulierten, rannten, schrieen, zerschlugen seine Bildnisse / und eigenartig war es anzusehen, wie die Menschen mit den Statuen kämpften ... Woran kann man noch glauben?“ Eine Elektra meditiert hier also über die Folgen des Personenkults, und dabei werden solche grotesken Fakten aufgearbeitet wie die Exhumierung und das nochmalige, nun feierliche Begräbnis des ungarischen Kommunisten Laslo Raik, ganze sieben Jahre nach seiner Hinrichtung im Jahre 1949. Die schmerzliche Aporie ist unverkennbar.
Ich möchte an dieser Stelle die These aufstellen, daß für Ritsos die 16jährige Maskenexistenz im Grunde eine Qual bedeutete, doch der „antike Umweg“, wie Aragon diese Phase nannte, war konstruktiv, nützlich und an vor allem notwendig. Er wurde von Ritsos gewählt, als sich zu den äußeren, weltanschaulich definierten Feinden „innere“, eigentlich Verbündete, gesellten. Schon der Bürgerkrieg (1946-49) hatte tiefe Wunden im Bewußtsein des griechischen Volkes und der Linken hinterlassen, von denen eine ganze Dichtergeneration gezeichnet war, so z.B. Manolis Anagnostakis, Takis Sinopoulos oder Michalis Katsaros, der 1951/52 den Zyklus „Nach Sadduzäerart“ schrieb und damit die Verbitterung seiner Generation zum Ausdruck brachte. Aber der in der Verbannung lebende Ritsos hielt weiter am Glauben an das kommunistische Ideal fest; er schrieb mit dem Poem „Die Viertel der Welt“, das konzeptionell mit dem „Canto General“ von Neruda vergleichbar ist, noch bis 1952 die Chronik der tragischen Ereignisse.
An dieser Stelle möchte ich über einen anderen, einen scheinbar nebensächlichen Satz sprechen, nämlich: Für Ritsos ist die Welt poetisch. Ritsos selbst sagte in einem Interview: „Dichtung ist für mich keine mit Stacheldraht umzäunte und abgeschirmte Gegend. Für mich existiert nicht der Syllogismus: das ist in der Dichtung gestattet und das ist verboten! Dichtung bedeutet für mich eine immerwährende Geburt. Sie bedeutet für mich: die ganze Geschichte, das gesamte Leben, alle menschlichen Leiden, alle menschlichen Schwächen. Denn ich glaube, daß auf den besiegten Schwächen alle Kraft der Menschheit beruht.“ Ritsos poetisiert die Welt nicht, er nimmt ihre Totalität in sich auf und, das Wort scheint mir bedeutsam, rhapsodiert seine Gedanken, Erlebnisse, Gefühle, Erinnerungen auf lyrische, epische, dramatische, essayistische und dabei stets poetische Weise. Die poetische Welt durchströmt den Dichter, die Sicht ist nach innen gerichtet. Unabhängig von äußeren Einflüssen wirkt als Katalysator immer der Tod. Der Tod ist für Ritsos ein Wegbegleiter, man braucht sich nur des Dichters Biografie anzusehen. Und mehr noch: „Kunst ist überall und immer ein unbewußter und kompromißloser Kampf gegen den Tod“. In der Gegenwart nämlich bricht in die poetische Welt die inhumane Wirklichkeit ein, das Gesicht wird zur Fratze, dem Mund entringt sich ein Schrei. Schmerz und Wut: Barbas Mitsos auf Makronisos, Belojannis, Lambrakis, Allende, Neruda, die Studenten des Polytechnikums, Panaghulis. Immer nur sie, die Leidenden, die Menschen. Fast nie kommen in Ritsos’ Dichtung die „anderen“ vor oder äußert Ritsos Haß auf sie: das ist verblüffend, doch ist diese Feststellung, daß nur über die poetische die menschliche Welt reflektiert wird, ein Schlüssel für das Verständnis von Ritsos’ Dichtung. Leid und Schmerz, die der poetischen Welt zugefügt werden, findet man in ihrer ganzen Tiefe ausgedrückt, die „Verbannungstagebücher“ oder der Zyklus „Steine Wiederholungen Gitter“ sind beredte Beispiele dafür. Insofern nämlich ist Ritsos’ Standpunkt gegenüber den (auch innerparteilichen) gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stets konkret, eindeutig und immanent politisch. Das Politische zielt hier auf letztendliche Überwindung jeder Politik und vor allem jeder Ideologie, die als Ausdruck falschen Bewußtseins nur Zeichen ist für eine unvollkommene Gesellschaft. In diesem Punkt versteht sich Ritsos vielleicht (die Frage muß offen bleiben) einer kommunistischen Weltanschauung verpflichtet, nicht aber einer ideologisch definierbaren Parteilichkeit. Auf eine entsprechende Frage antwortete er 1979: „Ich habe nie verstanden, was Parteilichkeit bedeutet oder parteilicher Dichter. Also jemandes Partei ergreifen oder für mehrere Menschen oder für Ideen oder für Gefühle? Man sagt: der da sei unparteilich. Das verstehe ich nicht: Ein Mensch ergreift keine Partei. Wenn ein Gefühl des Dichters mit dem Gefühl von fünf, zehn oder hundert Menschen oder wenn ihr wollt, mit dem von Gruppen, Parteien harmonisch übereinstimmt, dann ist das keine Parteilichkeit, sondern ein gemeinsames Gefühl, das sich auf diese Weise artikuliert und von den anderen akzeptiert wird.“
Der „existenzielle“ Bereich der Poesie allerdings – also der „Tod“ als letzte Instanz von Kunst – konnte von Ritsos nur unter den Bedingungen des Maskendaseins ausgelotet werden. Betont muß werden, daß nach Ritsos’ Verständnis die Aufgabe der Dichtung in der Suche nach Wahrheit zu sehen, dieser Weg nach innen vorprogrammiert war! Und noch etwas Ausschlaggebendes: Auch die äußeren Umstände der Verhaftung und des Hausarrests während der Juntazeit beförderten dieses. Die Maske gab die Möglichkeit, in diese neuen Bereiche einzudringen. Immerhin äußerte der Dichter in „Die Rückkehr der Iphigenie die zwei wichtigsten Gründe dafür, das mythologische Gewand, die Maske tragen zu müssen. In diesem Gedicht spricht die aus Taurien ins väterliche Schloß Zurückgekehrte über ihre Kindheit: „Ich erinnere mich, wie damals die Faschingszeit nahte. Die Mutter / wollte mich als Reh verkleiden. Sie hatte bereits / die schöne Maske einer kleinen Ricke gefertigt, / vielleicht, um darunter mein pickliges Gesicht zu verstecken. / Sobald ich sie aufsetzte / fühlte ich, wie ich in einer dunklen Tiefe versank, aus / der ich jedoch lichter sehen konnte. Es roch nach / Ölfarbe, Pappe und Fischleim / ... in den ersten Augenblicken / erschien mir die raue Berührung mit meiner Wange fremdartig – als / würde die Maske mir nicht passen/wäre die Maske zu klein für mein Gesicht. Bald darauf / erfolgte das Aufsetzen ohne größere Mühe. Ich empfand einen fremdartigen umfassenden Schutz und eine gewisse Freiheit. / Diese wunderbare Maske enthob mich beinah der Verantwortung / für eine jede Bewegung. Ich war nicht mehr ich; / ich war die andere; und unter der anderen, oder in der anderen / war ich ungeteilt ich, nur ich. Ich konnte / Sprünge machen, die ich vorher niemals gewagt hätte. / Meine Wörter erwarben, durch die Öffnung des fremden Mundes gleitend, / eine besondere Kühnheit, einen neuen Widerhall. / Die Sprache der Rehe sprechend (da die Rehe nicht sprechen) / entdeckte ich Unerwartetes und Aussprechbares, / erstaunliche Wahrheiten und tiefere Töne. Die ich nicht kannte /ja, mir nicht einmal hatte vorstellen können.“

Ich deutete schon im Hinblick auf Dostojewski an, daß alle antiken Archetypen jetzt ihres Heldentums beraubt sind. Wozu sie Ritsos dienen, sprach Iphigenie aus: Schutz und Freiheit. Unter den Bedingungen der Junta war beides für Ritsos dringend notwendig, wollte er weiterhin die poetische Welt verarbeiten und artikulieren können. Das ist die Substanz des dichterischen Widerstands. Im Internierungslager Partheni auf Leros, zwei Monate nach der Spaltung der KPG, stellte Ritsos die Frage: „Aber woher bloß sollen wir jemals wissen, wer unsere Feinde sind, wann und wo sie aufkreuzen?“ Zieht man das vorhin Gesagte mit in Betracht, wird vielleicht deutlich, daß die unter solchen Bedingungen psychologisch relevante Problematik von Optimismus und Pessimismus das Denken von Ritsos nicht tangierte. An ihre Stelle tritt eine, ich möchte sagen, dialektische Lebensphilosophie, die zwar fatalistisch scheinende „Wiederholungen“ im politischen Leben der Individuen und der Gesellschaft konstatiert, diese aber gleichzeitig als eine Entfremdung von der poetischen Welt der Zukunft, an die sich der Dichter erinnert, bloßstellt. So faßt Ritsos 1979 in den Monochorden rückblickend zusammen: „Eine gute Maske für schwierige Zeiten, der Mythos.“

Nach dem Sturz der Junta beschäftigte sich Ritsos mit neuen Formen und Themen, er konnte sich von der quälenden Maske befreien, in seinen „Erinnerungen“, der Gedichtkomposition „Das ungeheure Meisterwerk“ 1977, seine „Tarnung“ aufgeben und er selbst sein. Darin stellt er fest (und meint die Zeit der 50er Jahre): „Der Nackte ist der Einsamste der Entschlossenste“.

Ich sagte vorhin, daß sich Ritsos’ Dichtung über die Monologe der „Vierten Dimension“, die ihm halfen, eine ausgeprägte Subjektivität und Individualität zu entwickeln, eine neue Modernität erwarb. Ich sagte vorhin, daß Ritsos beim Schreiben der Texte der „Vierten Dimension“, die ihm halfen, eine ausgeprägte Subjektivität und Individualität zu entwickeln, in seiner Dichtung zu einer neuen Modernität gelangte. Sicherlich sind die gesellschaftlichen und die weltanschaulichen Ursachen für die Herausbildung des Langzeilengedichts, der Collage- oder Montagetechnik in der Lyrik nach dem 2. Weltkrieg in Westeuropa bekannt. Die Tausenden Eindrücke und Informationen, die tagtäglich auf den Dichter einstürzen, können nur fragmentarisch und episierend verarbeitet werden. Natürlich bedarf es einer starken Persönlichkeit, die den Unmengen von Bildern die innere und zwingende Einheit verleiht. Neben den Amerikanern wie Ginsberg oder bundesdeutschen Autoren wie Enzensberger gab es das Modell Vallejos, Cardenals oder Ungarettis.

Es ist bereits von anderen festgestellt worden, daß Gedichte wie „Graganda“ oder „Das ungeheure Meisterwerk“ aus vielen kurzen Gedichten bestehen. Die Eigenart, die diese Texte charakterisiert, ist sowohl elementare Sinnlichkeit als auch Unerbittlichkeit marxistischen Denkens. Das macht die Gedichte exemplarisch und modern auch für das Hier und Heute. Gerade „Das ungeheure Meisterwerk“ verschmilzt als weltanschauliches Kompositionsprinzip tiefes Geschichtsbewusstsein mit dem ständigen In-Frage-Stellen der inneren und äußeren Welt und mit dem dialektischen Prinzip der Hoffnung. Das alles ist in den psychologisierenden Monologen Elektras, Ismenes, Orests, Agamemnons, Aiax’ usw. angelegt, ja begründet: in der Tragik der inneren Welt, in ihrer konstituierenden Kraft. Aber jede Ästhetik, die sich auf den Widerstand gegen äußere und damit vergängliche Feinde gründet, ist in den Augen des Dichters abzulehnen, allerdings solange diese Feinde existieren, nicht zu umgehen. Phädra spricht das aus in Ritsos’ letztem Antike-Monolog aus dem Jahre 1975: „Sind wir etwa dafür verantwortlich? Wer wollte das so? / Wir jedenfalls nicht. Unerträglich, mein Gott, Nächte wie Tage. Morgens, / wenn wir aufstehen (noch müder als vor dem Schlaf) ist unsere erste Bewegung / noch bevor wir uns waschen, bevor wir unseren Kaffee trinken, unsere Hand auszustrecken, / um aus dem Nachttisch unsere trockene Maske zu nehmen / sie, wie Schuldige, aufzusetzen / und sie mal mit Fischleim, mal mit dem Leim der Schuster an den Wangen/am Gesicht festzukleben.“ Ich hoffe, Ihnen wenigstens eine Ahnung von dem zu Anfang benannten Gefühl und der konstituierenden Kraft dichterischen Denkens vermittelt zu haben und weiß von der Unzulänglichkeit, aber auch von der Chance dieses Versuchs.

Noch ein letztes Wort zur Umgebung, zur Szenerie, in der sich die antiken Gestalten Ritsos’ bewegen. Da ist von verschiedener Seite festgestellt worden, daß sie durch verfallende, altertümliche Kleinstädte, wie sie etwa zu Beginn des Jahrhunderts in Griechenland existierten, charakterisiert wäre. Der Eindruck stimmt, desorientiert aber. Hinterfragt man diese Erscheinung, erkennt man den zwar durch Industrialisierung und Großstadtleben nicht entwurzelten, aber von seiner nationalgeschichtlichen Identität entfremdeten Griechen. Das ist ein zusätzlicher Grund, der eine Überwindung dieser Ästhetik des Widerstands erforderlich macht, die von Ritsos 1979 postuliert wurde: „In dem, was wir Wahrheit nennen, drückt sich das Bedürfnis des Menschen nach Sauberkeit, Ehrlichkeit, Verständigung aus. Also nach unserer Demaskierung, nachdem uns bestimmte gesellschaftliche Bedingungen und Situationen zwangen, unter der Maske unseren Geist, unsere Seele und manchmal unseren ganzen Körper zu verbergen.“ Das „Ablegen unserer Masken“ wäre auch die Überwindung der Schranken von Politik und Ideologie, die uns immer wieder daran erinnern, daß der Sprung aus dem Tierreich noch nicht geschafft ist und daß der wichtigste Kampf, der das Schöpferische des Menschen als Lebensprinzip zum Ziel hat, noch lange nicht ausgefochten ist.

© Asteris Kutulas, Berlin 1987


 

Diese beiden Texte entstanden, als ich an folgendem Buch arbeitete:

Jannis Ritsos. Steine Knochen Wurzeln. Essays und Interviews, Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort und und Werkregister von Asteris Kutulas; Kiepenheuer Verlag, Leipzig und Weimar 1989

Der zweite Text diente als Grundlage für den ersten, und der erste als Grundlage für das Nachwort im oben genannten Buch. Darum auch einige Uebereinstimmungen vor allem bei den Zitaten. A.K.

 

 

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