POETRY IN MOTION I
Theodorakis conducts his oratorio Etat de Siege (3rd part)
with Maria Farantouri & Kostas Thomaidis

Dieser Film gehört zu einer Reihe von Aufnahmen, die ich Mitte der neunziger Jahre gemacht und POETRY IN MOTION genannt habe. Ich hatte sie nicht wegen der Musik festgehalten, sondern weil ich es schon immer faszinierend fand, wie Mikis dirigierte. Wichtig waren mir hier die Bewegung der Hände und des Körpers. Darum auch die schwarz-weiss Konzentration allein darauf.


Der von Theodorakis 1968 vertonte Text seines Lied-Flusses "Etat de Siege" von Rena Chatzidaki:

Rena Chatzidaki (Marina)
IM BELAGERUNGSZUSTAND

I
Wie dem Kind, das erstmals Einsamkeit erfuhr
brechen Zeit und Dauer mein Herz
und für immer verlier' ich meine Wege, wenn sie
öffnen die Tore, und ich bin entlassen.
Ich komme zurück, dich suchen, überall
in niedergemachten Ebenen, in Spiegelscherben, in vergeudeten Blicken,
dein Gesicht wiederfinden, mein Herz suchen
und allein diese Sprache werde ich sprechen, die einst unsere war,
das einzige, was unser war, was uns geblieben
im Schatten der Toten
der toten Bilder
Farben
wenn unsere Nächte nur Episoden waren der großen
Nacht, die wann begann?
Wie soll die Zeit ich messen hier drinnen, Mondphasen, astrale Sprünge,
wie meinen Weg, den verlaufnen, das Gleis, unabsehbar, deiner Abwesenheit
in diesem gnadenlosen Raumschiff
im Herzen der Stadt, die einst unsere war
jetzt von Panzern regiert?
Siebentoriges Chaos, verriegelt, von innen und außen belagert durch Angst und tausend Gesichter.
Die Schreie der Unheilbaren ermüden gegen fünf Uhr dreißig nachmittags,
Die Sirenen fleddern jeden Abend Stille,
Die Eingeschlafenen jeden Abend unerreichbare Tote,
Noch einmal - wo sind nur immer deine Hände? deine Stimme wo?
Halten die Wände stand auch heute? Oder bricht Finsternis herein?
Wie kann ich das ermessen?
Bei der ersten Erfahrung von Einsamkeit, die zielt auf das bald erwachsene Kind
sticht dein Fehlen, Messer aus der Höhe, in meine Raumzeit
aufsperren überall sich zerrißne Münder der Häßlichkeit, die mich zu schlucken sucht,
spastisch die Zeit unnatürlich zuckt
im Sterben Liegende bin ich
und überall und um mich her und mittendrin, im Angesicht des Chaos, meiner Wunden
die Riemen blutig von der Unschuld hin zum Mord, vom Mord zur Reue, Klage und von da zu neuem Mord.
Ich soll in welchen Tönen dir singen?
Denn die du liebtest, meine Stimme, auch sie erstochen.
Algen der Himmel im Wachsein, mein Haar, das du geliebt.
Verwirrte Flechten, meine Hände
wo ich auch suche, ich find' dich nicht.
Der Dunkelheit Quader hinter Gitterstäben
Verratenes Griechentum, Verrat, Messer durchs Herz
Verwundetes Licht nach zehn, Lärm, rätselhaft, Atem
Sinnloses Opfer, Belagerung, Abwesenheit, des Wächters Zigarette.
Und ich sprech allein diese Sprache.
"Wie dieses Kind sich nur verändert hat", werden die andern sagen,
mich anstarren aus des Tourist-Kyklopen einem Auge
mich bitten, von Helden zu erzählen,
die anderen, schlafend, in dädalischen Nächten, in denen überall Verrat brüllt
und Panzer bedeckt, Flugzeuge, Angst, des Wächters Schritt,
nachts, ohne dich, da überall Verrat brüllt
die Reste meines Herzens brüllen heraus
verstreut, wie die Kinder von Zinovia, das Ende der Welt und Verzweiflung.
Nachts, ohne dich, nirgendwo.
Weil ich auch dich verlieren werde
in der bewegten Dunkelheit
genau wie den Kampf
der wäre "schwer" gewesen "aber schön"
und ließ nur etwas wie von einer trocknen Traube übrig.
Ohne dich, wie?
Wie der Einsamkeit erste Erfahrung, die das Kind für immer prägt
zerstückelt mein Körper, die Zehen, nacheinander lösen sich auf
auf des Prokrustes Bett, der Zeit;
mein Körper, Sonnenfleck, wird explodieren
auf alle Himmel deinen Namen schreiben,
meine Zellen sich nacheinander den Menschen einimpfen
mit des Schmerzes Alter mit des Abends blauem Dunst
hinter den Gitterstäben
sende ich meine Träume aus, sich einzunisten in ihrem arglosen Blick,
und kommt der Beamte inspizieren
sagen die andern "er ist geflohen",
mißverstehen meinen Tod.
Und du allein weißt,
du allein wirst dich erinnern meiner Hände,
des Hundes trostloser Klage, draußen vor den Gefängnismauern,
der Jungen Schreie auf der Terrasse oben
des chinesischen Porträts Verzweiflung
der griechischen Rätsel - "was ist's, das geht zu Fuß hinauf und in einer Decke trägt man's hinunter"
und du allein wirst wissen
wie, wo mein Körper verlorenging
wo meine Stimme blieb, wo mein Wachsein,
welchen Klang hat die Angst und die Verzweiflung welche Gesichter?
"Mein Gott; und was wurde aus den Helden der Welt?"
Du allein weißt's
Diese Sprache werd ich sprechen.

II
Fern, sehr fern, hört man das Leben
oben, hoch oben, die Lichter leuchten - vielleicht -
Lichter, die man uns stahl, der Stadt, der gestohlenen
und die Erinnrung an den letzten Sonnenuntergang und die Berge ringsum, die uns gehörten.
Fern, sehr fern bist du. Du mußt sein.
Als hörte ich dein Lachen, blond, hinter befleckten Mauern.
Wenn ans Tageslicht alles einst kommt
und das vereiste Gehirnzentrum taut
jetzt überall "meine Aussage, mich erinnern, was ich zu Protokoll gegeben"
und die Farben kommen wieder - vielleicht -
einst, wenn von den Gräbern die Platten gehoben, von Häusern, Gefängnissen, Gesetzen
unsere Toten zu zählen, auszuteilen unsre neuen Lieder
einst
erfährst auch du
den Rest
wirst dich erinnern auch
du
an den Rest
wirst dich erinnern auch
du
fern, sehr fern, bist das Leben,
wirst sein, fern,
dann
werde ich nicht sein.

III
Die Zeit verkrüppelt. Jahre, die kommen, verkrüppeln.
Du weißt, wo du mich findest.
Ich die Angst, ich der Tod.
ich Gedächtnis, ungebändigt
ich Erinnrung an deiner Hand Zärtlichkeit
ich, unsres zerstörten Lebens Sehnsucht
ich belagere mit meinem Zweifel das "mach deine Arbeit"
ich werd zersplittern ihren Schlaf mit unpassenden erschreckenden Feuerwerkskörpern
zahllose Kugeln prasseln nieder auf die gleichgültigen Passanten
bis sie zu zittern beginnen
bis sie sich fragen.
Mich könnten sie nicht morden.
Aber ich denke, die einzigen, die - vielleicht - verstehen, werden die Kinder sein
reich an unserem Erbe
zum ersten Mal
die Kinder
hart im Erinnern, hart zu uns
werden lesen - vielleicht - zur rechten Zeit die unbeholfnen Botschaften der vorletzten Schiffbrüchigen
Fehler korrigieren, Lügen ausmerzen,
wahr sprechen
ohne Verklärung, die Kinder, ohne des Alters Anagramme,
gezeichnet von Blitz, Wissen ums Alleinsein um Stärke, die zu erringen wir so lange brauchten.
Und wenn ich verzweifelt dich jetzt suche auf meiner Schlaflosigkeit gewaltigen Wellen
und wenn mit jedem Atemzug ich dich anrufe jetzt
wenn ich umherirren werde in den dunklen Straßen der Welt
geführt von einer Handvoll Mondkiesel nur
die Welt blende mit dem Glitzer des irren Lachens der Nonne, die bewahrte die Schlüssel
die Welt betäube mit der Terrasse Klänge
mit den Schreien derer, die gefoltert wurden und derer, die foltern
die Welt erschüttere mit dieser Stimme des Todes.
Vielleicht wirst du im Labyrinth deinen Weg gefunden haben,
vielleicht stehst du dann, stolzer Baum, an der
Weltenkreuzung,
mit allen Flüssen heimlich netzend deine Wurzeln,
vielleicht nutzen dann deine Kinder zusammen mit allen andern Kindern
die Zeit und das Leben - vor dem Chaos einen Augenblick.
Und nichts wird von mir geblieben sein
der Gewissensbiß nicht, der ich geworden
nicht meiner und deiner Hand Berührung
nicht, was mir am meisten eigen, meine Sprache,
nein, ich werde mich aufgelöst haben in allen Flüssen der Welt,
deinen Namen schreiben in den Schnee der Schluchten,
werde durchstreift haben Finsternis, die mich ängstigte, bis ans andere Ufer
und mein Körper tot - vielleicht -, aber wieder ungeteilt
wird zu Kräften kommen
und um ihn mein Erinnern an dich und sonnengebadet das Leben.

Geschrieben im Herbst 1967 im Bubulinas-Gefängnis
© Deutsche Übertragung von Asteris und Ina Kutulas

Das Werk wurde im März 1968 (1.Teil) in Nea Smirni und im Mai 1968 (2. und 3.Teil) in Vrachati vertont. Theodorakis gab „Marina“ als Autorin des Textes an, um Rena Chatzidaki vor Repressalien durch die Junta zu schützen. Die Noten wurden nach Frankreich geschmuggelt, wo Jannis Markopoulos eine Orchestrierung vornahm und das Werk auf Schallplatte, gesungen von Maria Farantouri, veröffentlichte. A.K.


... Ich erinnerte mich an Marina: Sie stand im Flur vor der Zelle Nr. 1 zusammen mit einem andern Mädchen, das eine Hose trug. Als ich später wieder in meine frühere Zelle verlegt wurde, war Marina bereits in den Frauen-Trakt überführt worden. Während ich im Hungerstreik war, hörte ich Marinas Stimme nach dem Wärter rufen. Marina schrieb ein unvergleichlich schönes, starkes und wahrhaftiges Gedicht. Jedes Wort, Bild, jede Bedeutung rührten mich an. Erlösten mich. Sie sprach mit unserer Stimme. Es waren meine eigenen Worte: Hoffnungen, zu „verfaulten Weintrauben“ geworden. Meine eigene Wut, Bitterkeit. Und zugleich doch auch unsere Kraft.
Ich bekam den ersten Teil, den ich sofort vertonte. Später, in Vrachati, bekam ich auch den zweiten und dritten Teil. Was die musikalische Form betraf, konnte ich den Weg gehen, den ich mit „Epifania-Averof“ eingeschlagen hatte. Ein Lied-Fluß in drei Teilen. Dem Werk gab ich zunächst den Titel „Frauengefängnis Averof“, weil Marina das Gedicht dort schrieb, nachdem das Militärgericht sie verurteilt hatte. Marina vernichtete all ihre Gedichte. Das ich trotzdem einige erhielt, verdanke ich Marinas besonnener Freundin, die sie heimlich für mich abschrieb. Später gab ich dem Werk seinen endgültigen Titel: „Im Belagerungszustand“.

Mikis Theodorakis (Aus dem Verbannungstagebuch)

 

 

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