Abgehaun?

Gespräch mit dem Maler Gottfried Bräunling über seine Flucht
aus der DDR

Tübingen, 8.5.1988


Kutulas: Wie fühlst du dich hier, in deiner neuen Heimat?

Bräunling: Ja, das kann ich wahrscheinlich noch gar nicht formulieren. Das muss ich erstmal verdauen.

Kutulas: Würdest du sagen, dass es in dieser anderen Gesellschaft besser ist?

Bräunling: Hm, eine Wertung bezüglich einer Qualität ... Ich habe einfach nur ein Gefühl, das ich erstmal ausloten muss.

Kutulas: Bist du zufrieden damit, hierher abgehaun zu sein?

Bräunling: Zufrieden ... Ich weiß nicht, ob man die Frage so stellen kann. Was bedeutet denn Zufrieden-Sein? Das bedeutet doch eigentlich: aus der Unruhe herauszutreten und in Untätigkeit verfallen. In dem Sinne macht es mich also nicht zufrieden, sondern ich finde es motivierend, es ist ein lebhafter Impuls, eine Grundvoraussetzung, Grundlage, um weiteres zu tun.

Kutulas: „Zufrieden“ - bezogen auf deine Arbeit. Kannst du Affinitäten orten? Welche Beziehungen gibt es da zu deiner Weltsicht, zu dem, was du machst, malst?

Bräunling: Du weißt ja, dass sich mit meinem Weggang aus der DDR meine Weltsicht nicht verändert hat. Ich war vorher politisch engagiert, und für mich bleiben die Probleme weiter bestehen – sowohl die in meinem persönlichen Leben als auch die in meiner Arbeit und die in Bezug auf meine politische Haltung. Da gibt es ganz klare Kriterien.

Kutulas: Ist das also eher etwas Metaphysisches, was du nur fühlst, aber noch nicht artikulieren kannst?

Bräunling: Ich glaube, eher etwas Gefühlsmäßiges. Ich brauche erstmal einen Raum, Zeit, um alles zu durchdenken. Was alles auf mich einströmt ... Ich stehe in einer neuen Welt mit ganz neuen Gegebenheiten, wo sich zwar vertraute Punkte kreuzen, denn solche Begegnungen hatte ich ja auch schon vorher, aber vorher in einer anderen Qualität, unter anderen Bedingungen ... Ich kann noch gar nicht benennen, was ich denke, was sich daraus alles ergeben wird, was daraus resultiert.

Kutulas: Kommt denn eine Fortentwicklung deiner Malerei, deiner Technik eher aus deiner eigenen Schöpferkraft oder auch aus der Malerei anderer? Die neue Wahrnehmung hier im Westen, die neuen Eindrücke, die neuen Emotionen – hilft dir das?

Bräunling: Ich kann nicht sagen, ob mir das hilft. Eigentlich bin ich ja jemand, der weiß, welchen Weg er gehen will. Dass es da zu Wandlungen und neuen Qualitäten kommt, wenn man Begegnungen hat, das halte ich für durchaus möglich und das hoffe ich auch.

Kutulas: Ich meine ... ich habe jetzt vor kurzem einige neue Bilder von dir gesehen und mir fiel der Unterschied zu denen von 1982, 1983, 1984 doch sehr auf.

Bräunling: Ja, Impulse zu solchen Veränderungen erfahre ich natürlich auch hier.

Kutulas: Ich frag dich jetzt mal was Seltsames, weil ich sehen will, wie du darauf reagierst: War eigentlich der Wandel in deiner Bildsprache die Voraussetzung, der Auslöser dafür, dass du dann in Westberlin geblieben bist?

Bräunling: Nein, ich glaube nicht, dass der Wandel in meiner Bildsprache ein Grund für meine Entscheidung war. Es war meine Auseinandersetzung mit mir selber, mit der Gesellschaft, in der ich lebte, mit meinem Umfeld. Das führte bei mir zu Erkenntnissen, die mich eines Tages zu dieser Entscheidung trieben, was sich natürlich vorher schon in meinen Arbeiten zeigte. Ich hatte intensive Auseinandersetzungen in der DDR. Es gab diese Zeit, als ich nicht in den Künstlerverband aufgenommen wurde. Die Zeit von 1976 bis 1982 als Kandidat, dann noch mal zwei Jahre Kandidatur, drei Jahre Kandidatur. 1985 wurde ich dann aufgenommen. Das waren Zeiten, die ... Ich konnte nicht ausstellen, durfte nicht verkaufen. Das brachte grundlegende Spannungsmomente. Es mussten Klärungen herbeigeführt werden, Entscheidungen getroffen. Das Problem „Verband“ hatte sich dann für mich geklärt, aufgrund meiner Energie, die ich aufbrachte, um das durchzustehen, und dank meiner Freunde, die mich immer ermutigt haben, damit ich nicht aufgebe. Da war Ralf Winkler, da war Wolfgang Opitz. Diesen einen Punkt hatte ich für mich geklärt, aber die Probleme blieben trotzdem weiter bestehen. Und immer habe ich politisch engagiert gearbeitet und war gerade auch in dieser Zeit sehr aktiv ...

Kutulas: Ja, eben. Mir scheint auch, dass diese Abstraktion, das Abstrahieren der Dresdner Landschaft so ein Sich-Freimachen war. Du kamst zu allgemeinen menschlichen Gesichtern, zu archetypischen Bildern. Ich sehe das als eine Art innere Loslösung – von einer Landschaft, einem Raum. Ich hatte den Eindruck, dass das eine Vorbereitung war ...

Bräunling: Ich bin in einem Raum, einem Umfeld großgeworden, das eigentlich sehr harmonisch war. Diese Harmonie hat bei mir zu einer sehr menschlichen Haltung geführt.

Kutulas: Ich denke, dazu kann man doch stehen!

Bräunling: Ja, ich stehe ja auch voll und ganz dazu. Aber in dieser Zeit hatte ich auch keine Probleme, keine wirklichen Probleme. Ich habe mich damals auch in meinen Bildern nie auseinandergesetzt mit Problematiken, weder mit gesellschaftlichen noch mit zwischenmenschlichen. Ich hätte so etwas gar nicht formulieren können, absolut nicht. Ich habe Mädchen gemalt, weil ich Mädchen liebte. Ich habe Akte gemalt, weil ich die als schön empfand. Für mich war das ein Ausdruck von Schönheit, von einer Perfektion, die es eben nur in dieser Form gibt. Ich habe Landschaften gemalt, weil ich mich dort zuhause fühlte, weil ich das als etwas sah, was man interpretieren müsste, um ein Stück von dem, was man liebt, bei sich, um sich zu haben.
Und dann, als die Probleme begannen, da musste ich über vieles nachdenken, da zerbrachen meine harmonischen Welten. Das war, als bestimmte Aktivitäten nicht anerkannt wurden, als Arbeiten negiert wurden usw. usf. Plötzlich kam ich zu einem ganz anderen Resultat. Vorher hatte ich große Honorarverträge bei großen Firmen, dir mir unheimlich viel Geld brachten, und dann, als ich in der Misere war, haben die nicht mal mehr für einen Hundertmarkschein was gekauft. Da wurde mir klar: Irgendwas stimmt doch in dieser ganzen Beziehung, in diesem Verhaltensgefüge nicht. Das hat sich dann auf meine Arbeit ausgewirkt. Ich musste kritischer werden. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Probleme kamen. Immer wieder neu. Wenn du den Mund aufmachtest, dein Problem benanntest, musstest du Stellung beziehen, ganz frontal. Und dort konnte es unter Umständen auch „tödlich“ werden. Und bei mir gab es so einen Schnitt, einen Bruch, der nahezu „tödlich“ war. Daraus resultierte dann letztendlich auch mein Schritt in den Westen, meine künstlerische Wandlung, aber nicht die Wandlung meiner Ideologie.

Kutulas: Ich sehe bei dir diese Affinität zu dem, was ich als „Sehnsucht“ bezeichnen würde: die Muschel, der Vogel, Themen wie „Fernweh“ und „Zauberer“.

Bräunling: Na ja, was sagte der Robert Jungk: „Ihr müsst Träume haben! Ihr habt Träume. Sprecht sie aus!“ Nichts anderes mache ich. Ich spreche meine Wünsche aus, formuliere meine Träume, meine Hoffnung. Und das hat alles etwas mit meiner Realität zu tun und mit der Realität meiner Umwelt. Und mehr kann ich fast gar nicht tun.

Kutulas: Was denkst du, in welche Richtung sich deine Malerei entwickeln wird, nachdem du diesen Schritt in den Westen getan hast? Wie würdest du das einschätzen? Wenn ich an diese Dresden-Ausstellung denke – das waren doch Arbeiten, die sehr bedrohlich wirkten ...

Bräunling: Ich glaube, dass meine Arbeiten in nächster Zeit wahrscheinlich viel farbintensiver werden. Das hat einfach mit den neuen Erlebnissen zu tun, mit dieser Frische hier. Das Optische, das Visuelle ist so intensiv. Das Reklame-Gehabe. Die Geschäftsauslagen sind anders, die Plakatwerbung. Fast die ganze Gesellschaft ist auf eine aktive Werbe-Situation ausgeprägt, so dass man fast Angst haben muss und sich Scheuklappen anlegen möchte, damit man nicht alles andere, was auch erfahrenswert ist, überblendet bekommt durch diese grelle, schrille, überladene Situation, die sich ja niemand in Wirklichkeit für sich selber leisten kann. Ich glaube, dass meine Arbeiten nicht nur farbintensiver werden, sondern dass sie weiterhin auch so sozialkritisch sein werden. Eigentlich ändert sich ja gar nichts. Überall gibt es Probleme, die aus Spannungen und Auseinandersetzungen resultieren.

Kutulas: In gewisser Weise bist du vielleicht auch „dankbar“ dafür, dass dir in der DDR Steine in den Weg gelegt wurden, die dann schließlich zu Spannungen und zu deiner neuen Bildsprache führten ...

Bräunling: Nein, dafür bin ich natürlich nicht dankbar. Teilweise war es unerträglich furchtbar. Andererseits waren es natürlich Steine, die mir Anstoß waren. Es waren Situationen, die mich geformt haben.

Kutulas: Die Bilder, die du danach gemalt hast, sind etwas ganz anderes als die Landschaften, die Akte, die zwar als Bilder sehr gut waren, aber zu denen ich persönlich zum Beispiel nicht so eine Affinität hatte. Ich verspürte nicht diese Brisanz, nahm nicht diese Kraft der Aussage, diese Power wahr wie bei den Bildern danach. „Dankbar“ meinte ich in Anführungsstrichen. Aber ich wollte trotzdem mal diese Frage stellen. Wo würdest du hier im Westen Spannungsfelder sehen?

Bräunling: Erstmal zu dem, was du sagtest über meine früheren Arbeiten. Was deine Gedankenwelt betrifft, kann ich dir sicher zustimmen, nicht aber, was meine betrifft. Für mich war die Harmonie Ausdruck meines Lebensgefühls. Da kann es genauso ausdrucksstarke Momente geben. Denk an Modigliani, an seine Porträts und Akte, vor denen wir verzückt stehen, begeistert, beglückt.
Was die Zukunft anbelangt ... Ich bin noch nicht so lange hier. Du hast erste Arbeiten gesehen. Ich hab noch viel Heimatliches in mir, aber andererseits bin ich bereits mit den Problemen hier konfrontiert. Hattest du diese Serie mit den Punker-Porträts gesehen?

Kutulas: Ja.

Bräunling: Die Punker und die Skinheads, das ist eine Variante. Dann gibt es noch andere Arbeiten. Darin setzte ich mich auseinander mit zwischenmenschlichen Beziehungen. Mit Formen der Isolierung, des Sich-Zurückziehens auf eine Insel oder so. Das sind Problematiken, die ich wahrnehme, die ausgesprochen werden müssen.

Kutulas: Und wie vermitteln sie sich dir? Ich meine, du kannst ja erstmal nur auf die Straße gehen, in deinem Stadtbezirk, in Kreuzberg, und du nimmst diese Dinge wahr. Erstmal nur Äußerlichkeiten. Ist dieses Spannungsfeld ein äußeres, ein visuelles, oder hast du das, diese Widersprüche bereits so grundlegend emotional wie z.B. in der DDR erlebt?

Bräunling: Ich hab das rational untersucht, aber auch emotional erlebt. Ich gehe auf die Straße und sehe dort irgendwelche Menschen in verschiedensten Situationen, wo ich mich einfach frage: Wie kann das passieren? Wie kommt es dazu? Wie kann sich jemand von der Gesellschaft, aus seinem Umfeld lösen, in das er eigentlich integriert sein könnte und sollte? Was treibt den dazu, ein ganz entfremdetes Existenzmoment anzunehmen? Ist es Logik? Ist es eine Anti-Haltung? Ist es Lebensfeindlichkeit? Oder wohin geht das? Mit diesen Dingen habe ich mich auseinandergesetzt. Vieles bleibt für mich noch an der Oberfläche ... Du kannst, bei den vielen Möglichkeiten, die es gibt, in so kurzer Zeit gar nicht alles aufschlüsseln.

Kutulas: Wie waren deine Begegnungen mit Kollegen aus der DDR, die nach Westberlin gezogen sind?

Bräunling: Zum großen Teil herzlich kalt. Ich glaube, mehr muss man dazu nicht sagen. Es gab Ausnahmen. Da war es mehr, wie es immer gewesen war. Ich bin von jeher ein Einzelkämpfer gewesen, und Einzelkämpfer haben auch immer nur einzelne Freunde. Das sind diejenigen, die wahrhaftig zu einem stehen. Die anderen sind Annäherungs- und Weggehpunkte. Das ist wahrscheinlich auch der Moment des Begegnens oder der, in der der Moment einer Begegnung zum Ausdruck kommt.

Kutulas: Sicher kennst du ja auch viele Leute aus Dresden, die jetzt nach Westberlin gezogen sind und die du dort wiedertriffst. Haben sich da bei dem einen oder anderen neue Anknüpfungspunkte ergeben?

Bräunling: So etwas gibt es natürlich. Aber wie lange so etwas hält oder sich trägt ... Jedenfalls gab es sogar Anknüpfungspunkte aufgrund von Beziehungen aus sehr weit zurückliegender Zeit, wo inzwischen sehr viel passiert war. Da ist es erstmal ein Stück Neugier, es sind Erinnerungen an alte Kontakte, frühere Erlebnisse. Sentimentalität spielt genauso eine Rolle wie Neugier.

Kutulas: Was war für dich in Dresden für deine künstlerische Entwicklung das wichtigste Ereignis? Gab es so etwas?

Bräunling: Das wichtigste Ereignis? Da gibt es vielleicht zwei. Das eine war die Begegnung mit meinem Lehrer, Professor Horlbeck, der einen nie animierte, Kunst zu machen, sondern der einen animierte nachzudenken, der immer wieder darauf zurückkam, dass Kunst ein Problem des Denkens ist. Das war das Eine. Das andere war, dass ich trotz meines ehrlichen Glaubens an ganz bestimmte gesellschaftliche Entwicklungsformen und -kriterien aus meiner Laufbahn geschubst wurde, nach vielen Unstimmigkeiten, und ich mir plötzlich einen neuen Weg suchen musste, der mir eine Existenz ermöglichte in dem Raum, wo man sie mir nicht mehr gewährleistete, obwohl ja jeder den Anspruch auf Arbeitsraum und Arbeit hatte. Ich musste nach einem Weg suchen, um das durchzustehen. Und an diesem Punkt musste ich prinzipiell und grundlegend über ganz viele Kriterien der gesellschaftlichen Entwicklung nachdenken. Und gleichzeitig musste ich über meine eigene künstlerische Konzeption nachdenken, die ich bis dahin gefahren war. Da kam dann die Erkenntnis, dass die zwar nicht falsch gewesen war, aber letztendlich ziemlich lau und unproduktiv, nicht, was die Quantität, aber was die geistige Auseinandersetzung betraf, das Engagement im Sinne eines geistig-künstlerischen Engagements.

Kutulas: War das für dich ein Reibungspunkt: Noch in dieser sowohl gesellschaftlichen als auch bildnerischen Homogeniät gelebt zu haben, in dieser beinah Konfliktlosigkeit, und in Dresden einen so exaltierten Widerpart wie Ralf Winkler (A.R.Penck) zu haben? War das für dich ein Punkt der Auseinandersetzung oder ging das für dich zusammen?

Bräunling: Streckenweise war es ein Problem. Ich kann mich noch gut erinnern, als wir uns das erste Mal begegneten. Die ersten Male haben wir stundenlang miteinander geredet. Ich hab gar nichts verstanden, wusste überhaupt nicht, was los ist. Wir haben nur gesprochen und es ging immerzu aneinander vorbei. Für ihn vielleicht gar nicht, aber für mich. Ich konnte in seine Welt nicht einsteigen. Meine damalige Frau hat dann sozusagen für mich „gedolmetscht“. Und nach 14 Tagen konnte ich dann alles verstehen und einsteigen. Sie hatte mir irgendeinen Schlüssel in die Hand gegeben, der mir das eröffnete. Ich hab den Ralf in seinem System begriffen. Es war ein System, das mir bis dahin völlig konträr ging. Auch aus Eitelkeit hatte ich mich diesem System nicht geöffnet. Und das ist es eigentlich, was uns hat Freunde werden lassen. Denn hätte ich mich geöffnet, hätte er mich kaputtgemacht. Es ist sein Weg, zu sehen, wie weit man jemanden treiben kann oder wie weit sich jemand gesellschaftlich treiben lässt, wenn er gesellschaftlich ungebunden ist oder so ähnlich. Ab wann bedeutet es für ihn den Untergang, wird es „tödlich“? Darauf hatte ich mich nicht eingelassen. Und in dieser Zeit gab es ja dann auch schon diese Probleme für mich, die Spannungen; dadurch relativierte sich das dann noch mal, auf andere Weise. Bei mir war es so, dass ich in der Partei war und von meinen eigenen Leuten in den Arsch getreten wurde. Andererseits hatte ich Ralf, also jemanden aus dem „anderen Lager“, der mir beistand, was natürlich wieder Kontroversen mit sich brachte. Und die, die nicht in der Partei waren, die traten mich auch, weil ich in der Partei war. So kam es zu diesem Dazwischen-Sitzen.

Kutulas: Gab es eigentlich mal so eine Zeit, da man versuchte, dich in Schubladen zu stecken, vielleicht auch zu dem Zeitpunkt, als du in den Westen kamst?

Bräunling: Ach, es gibt Schubladen, die ich eigentlich sehr liebe.

Kutulas: Aha.

Bräunling: Aber wenn ich drin stecke, ist es mir unbequem. Ich muss dir sagen, es gibt Seelenverwandtschaften, da kommt man manchen Wesen plötzlich ganz nahe, von denen man sich kaum freimachen kann. Da muss man einfach ‚ja’ oder ‚nein’ sagen. Es gibt auch Schubladen, die ich vorher gar nicht kannte und die ich hier endlich intensiv kennenlernte. Ich mag afrikanische Plastik sehr – oder den Dresdner Expressionismus mit den Brücke-Leuten. Daraus resultiert natürlich viel, so ein Erbe prägt unwahrscheinlich. Sich davon freizumachen ... Ich weiß nicht, ob es immer gut wäre.

Kutulas: Du hast mir mal gesagt, du bist nach Westberlin mit einem Pinsel gegangen. Und dann waren lauter weiße Wände da, und du musstest dir langsam eine neue Bildwelt schaffen. Das ist dir so zum ersten Mal passiert, denn sonst waren ja immer Bilder um dich herum. Diese Situation, die ist, glaube ich, sehr interessant.

Bräunling: Das war eine besondere Situation, dieses Plötzlich-in-einer-neuen-Welt-Sein, dieses Unbekannte, was da auf einen einstürzt, das man auf einmal ständig um sich hat – und dann nur leere Wände. Ich war fast wie ohne Vergangenheit. Wie damit fertigwerden, wenn man das Neue noch gar nicht richtig begreift, noch gar nicht fassen kann? Daraus resultierten dann die ersten Umbrüche. Im Malerischen wie im Geistigen. Langfristig wird man sich sicher wandeln, weil man in dieses Leben tiefer eindringt und ein Teil davon wird. Man kann sich nicht davon fernhalten oder loslösen. Ob ich eines Tages integriert sein werde oder ein Außenseiter, gegen dieses Leben ankämpfend oder dafür kämpfend – das kann ich jetzt nicht voraussagen. Ich nehme an, dass ich sicherlich kein absoluter Dafür-Kämpfer wäre, was die gesellschaftliche Situation hier angeht. Weil mir da genauso wenig gefällt wie in der anderen auch, in der ich vorher war.

Kutulas: Ich sehe es eigentlich so, dass du dich bewegst zwischen Dresden, Westberlin und seltsamerweise auch Athen, als drittem, imaginärem Ort. Wo du noch nicht warst. Ich könnte mir vorstellen, dass das auch in deine Bildsprache einfließen kann, in deine Weltsicht, in dein Lebensgefühl. Eigentlich hast du doch bereits von Dresden aus Griechenland „mit der Seele gesucht“. Damals konntest du ja nicht hin. Jetzt steht es dir bevor.

Bräunling: Sobald ich kann, fahre ich los. Griechenland hat für mich ziemlich große Bedeutung. Weil es noch ein Traum ist, eine Illusion. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalte, wenn ich durch diesen „Raum“ durchgegangen bin und ihn erlebt, in mir aufgenommen habe, eine Möglichkeit der wahrhaftigen Verarbeitung für mich gefunden habe, einer Interpretation in meiner eigenen Sprache. Bisher ist alles, was mir begegnete, mir entgegengekommen und hat mich gereizt, danach zu suchen, ihm zu begegnen. Wie es sich aber vollenden mag ... Was Griechenland betrifft, so gab es Begegnungen mit Menschen, mit der Kultur, mit meinen Freunden, die aus Griechenland kommen, die mir das nahe brachten, wo es diese Herzensverbindung gab. Vielleicht liegt so etwas ja in einem Menschen begründet, der bildnerisch tätig ist, vielleicht ist es auch eine Flucht, eine Sehnsucht oder Fernweh? Und eigentlich hatte ich noch mehr Fernweh, wenn ich an Afrika dachte.

Kutulas: Und warum dann Griechenland und nicht Afrika? Bräunling: Das hat etwas mit dem Geistigen zu tun. Der Wunsch nach geistiger Auseinandersetzung ist stärker als der nach Flucht. Für mich war die Auseinandersetzung z.B. mit der griechischen Literatur enorm wichtig, z.B. mit der von Ritsos, was letztendlich ja auch dazu führte, dass ich diese Mappe zu seinen „Monochorden“ machte. Das spielte bereits während meines Umwandlungsprozesses in Dresden eine große Rolle.

© Asteris Kutulas, 1988



Nachsatz 1996

Das malerische, zeichnerische, grafische und plastische Werk von G.B. formt sich stets im Wechselspiel von „Trennung“ und „Einander-Begegnen“. Dahinter verborgen das tiefe Bedürfnis nach Harmonie. Trennung, um der Disharmonie zu entkommen. Begegnung, um die Disharmonie in sich selbst, die man Einsamkeit nennt, zu überwinden. Die harmonischen Welten des G.B. fanden sich allesamt hinter dem eisernen Vorhang und gingen nacheinander in diesem phantasmagorischen Glashaus zu Bruch.
Bräunlings erste Bildinhalte, die ihn Anfang der siebziger Jahre beschäftigten, während seines Studiums, das er an der Kunsthochschule Dresden absolvierte: die Eltern, die noch unverbrauchten Ideale des Sozialismus, die Dresdner Landschaft, mit der er aufs Engste verbunden war, die Schönheit des menschlichen Körpers. Zeichnungen, die von hohem handwerklichem Können zeugen. Darunter auch kubistische Versuche – der allgemeinen Tendenz folgend, etwas gegen die gebärfreudigen Becken der Frauen des damals so grundsätzlich missverstandenen und alles beherrschenden sozialistischen Realismus zu setzen. Dem folgten Arbeiten, in denen schrittweise die geschlossene Form in einzelne Flächen aufgelöst, in denen der Bildraum, Fläche um Fläche, analysierend ausgeschritten wurde.
Ab Mitte der 70er Jahre gehörte auch Bräunling zu den Intellektuellen, die zwar bis dahin die Gesellschaft des real existierenden Sozialismus als Experiment angenommen und unterstützt hatten, was u.a. auch ein konkretes ästhetisches Konzept mit sich brachte, die aber von da an langsam begannen, in Konflikte mit dem Staat zu geraten, was eine wie auch immer geartete „Identifikation“ mit diesem unmöglich machte.
Auf der einen Seite die Begegnung mit völlig anderen ästhetischen Konzeptionen, mit deren Hauptrepräsentanten in Dresden, Ralf Winkler (A.R.Penck), G.B. sich anfreundete und in einen für sich fruchtbaren Dialog trat. Immer mehr beschritt G.B. eigene Wege.
Der Bruch in der Thematik seiner Bildwelt findet Anfang der 80er Jahre statt, und das Problem der „Trennung“ rückt immer mehr in den Mittelpunkt u.a. seiner Grafik. In ihr gelangt er zu einer Klarheit des Ausdrucks, die ihn seinem Betrachter mehr oder weniger ausliefert. Nicht mehr die Sehnsucht nach Harmonie, die früher die Realität seiner Bilder ausmachte, wird dargestellt, sondern seine innere Zerrissenheit. Alles geht unter in einem lärmenden Hell-Dunkel ... Der „Westen“ breitet seine Arme aus, der „Osten“ schiebt ihn fort.

© Asteris Kutulas, 1996

 

Mit meinem Freund Gottfried Bräunling habe ich sehr viel Wein getrunken und wir haben viele Bücher zusammen gemacht, erst in Dresden, dann in Westberlin und schließlich in Hohenöllen. Dabei spielte Griechenland eine große Rolle, nicht nur weil wir mit Mikis und Jannis Ritsos einige gemeinsame Projekte hatten, sondern auch weil der griechische Mythos eine Konstante in Gottfrieds bildnerischem Werk darstellt. Mit Gottfried verbindet mich eine langjährige Freundschaft, die nicht zuletzt auch aus der Zusammenarbeit an den "Monochorden" erwuchs. Nachdem Gottfried 1986 in Dresden eine Grafikmappe zu ausgewählten Monochorden schuf, hatten wir beide den Wunsch, das Buch als ganzes mit neuen grafischen und interpretatorischen Lesarten herauszugeben. Diese Idee wurde von der engagierten griechischen Verlegerin Niki Eideneier aus Köln aufgegriffen. So entstand eine neue Westberliner Grafikmappe und ein bibliophiles Buch, das von uns so gestaltet wurde, daß es als Grundlage für eine Produktion im Romiosini-Verlag dienen konnte. Für folgende Bücher fanden wir uns zusammen:

- Jannis Ritsos. Monochorde. Mit Illustrationen von Gottfried Bräunling, Übertragen und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas; Romiosini-Verlag, Köln 1989

- Jannis Ritsos. Halbkreis. Erotica-Gedichte. Mit Illustrationen von Gottfried Bräunling, Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas; konkursbuch Verlag, Tübingen 1989

- Giorgos Seferis. „Drossel“. Mit Original-Illustrationen von Gottfried Bräunling, Herausgegeben und übertragen von Asteris Kutulas; editions phi, Echternach 1990

- Mikis Theodorakis – A.R.Penck, Das Meer, der liebe Gott und das Muli (deutsch-griechisch), Mit neun Original-Siebdrucken von A.R. Penck, Übersetzt und mit einem Nachwort von Asteris Kutulas, Herausgegeben von Asteris Kutulas und Gottfried Bräunling, Mit einer CD von Mikis Theodorakis (Macbeth) und einer Kleinplastik von Gottfried Bräunling, GB edition – Asti Music, Hohenöllen 1995

- Odysseas Elytis, Köder für Niemand, Mit Original-Illustrationen von Gottfried Bräunling und Fränz Dasbourg, Übertragen von Asteris und Ina Kutulas, editions phi, Echternach 1996

- Mikis Theodorakis, Siao und andere frühe Gedichte, Illustrationen von Gottfried Bräunling, Übersetzt von Asteris Kutulas, Herausgegeben von Asteris Kutulas und Gottfried Bräunling, GB edition, Hohenöllen 1996

- Gottfried Bräunling, Übermalungen, Mit 12 Notaten von Asteris Kutulas, edition GB, Hohenöllen 1996



Gottfried Bräunling
wurde 1947 in Radebeul (DDR) geboren. Er verlebte, dank der Fürsorge seiner Adoptiveltern, eine glückliche Kindheit und Jugend. 1964 bis 1966 Lehrzeit; von 1968 bis 1974 Studium an der Hochschule für bildende Künste Dresden; seit 1974 freiberuflich tätig; nach jahrelangen Kontroversen 1985 Aufnahme in den Verband bildender Künstler. Flüchtete 1986 nach Westberlin.
Werke des Künstlers sind in Besitz von öffentlichen Einrichtungen, Museen und Privatsammlungen. Illustrierte und gestaltete mehrere bibliophile Bücher.

 

 

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